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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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vom alten und neuen Griechenland.

dann das Märchenbild der verlassenen Stadt Monemvasia, deren gespenstische,
wankende Hänserzeilen auf den Verfasser einen traurigeren Eindruck machten als
die Überreste der Akropolis, die römischen Kaiserpaläste und die verödeten
Straßen Pompejis -- "dort sind es Tote, denen wir mit stiller Wehmut in
das erstarrte Antlitz blicken, hier ist es ein Sterbender, dessen Züge wir sich ent¬
stellen, den wir vor unsern Augen mit dem Tode ringen sehen" -- alle diese
Stätten weiß der kundige Reisende nicht nur mit geschichtlichen Erinnerungen
geschmackvoll zu beleben, es sind zum Teil Wiederentdeckungen, die unser Wissen
bereichern, und das alles ist eingestreut in die lebendige Erzählung von Land
und Leuten der Gegenwart.

Über die Aussichten, welche das heutige Griechenland im allgemeinen dar¬
bietet, seiue Fortschritte in abendländischer Gesittung, die Hoffnungen, zu denen
es berechtigt, wird man den Verfasser zurückhaltend finden. Den Optimismus,
mit welchem neuere Reisende den geistigen Aufschwung der Hellenen anstaunen
und begrüßen, vermag er offenbar nicht zu teilen. Die unverhältnismäßig große
Anzahl von politischen Tagesblättern und selbst die sichtlichen Bemühungen um
das niedere und höhere Schulwesen scheinen ihm nicht übermäßige Achtung ein¬
zuflößen. Dagegen hebt er, ungeblendet von den starken Reizen, die den kunst-
und naturfreudigen Reisenden auf griechischem Boden leicht gefangen nehmen,
einige Schattenseiten im heutigen Hellas mit Schärfe hervor. In dieser Be¬
ziehung ist das in die Beschreibung von Tiryns eingestreute Kapitel über den
Ackerbau besonders lehrreich. Noch immer nimmt der Ackerbau in Griechenland
eine sehr tiefe Stelle ein. Auf einem Areal von rund 47 500 Quadratkilo¬
metern (die jüngste Gebietserweiterung und die Ionischen Inseln außer Rech¬
nung gelassen) sind bloß 7500 Quadratkilometer angebautes Land, nicht viel
mehr als die Hälfte der überhaupt bestellbaren Fläche, wozu noch kommt, daß
die Art der Bebauung eine ganz veraltete, primitive, aus hestodischen Zeiten
stammende ist. An diesem niedern Stande der Ackerwirtschaft ist aber nicht,
wie man beschönigend gesagt hat, der Mangel an Arbeitskräften schuld, auch
nicht die angebliche Aufsangung des Bodens durch die Kultur, denn der Boden
lohnt die Aussaat bei dem geringsten Müheaufwaude mit dem siebenfachen, oft
auch dem zehnfachen Ertrage; die Schuld trägt einmal der noch immer sehr em¬
pfindliche Mangel an Verkehrswegen, vor allem aber der Fluch einer gänzlich
verkehrten Gesetzgebung, welche Verbesserungen im landwirtschaftlichen Betrieb
geradezu verhindert. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt erbt sich bis auf den heutigen
Tag die unselige Hinterlassenschaft Kapodistrias fort: die direkte Bruttobesteuerung
der Feldfrucht. Wenn der Landmann zur Ernte hinauszieht, begleitet ihn der
"Jspraktor," der Steuererheber, mit einer militärischen Bedeckung. Ohne diese
wichtige Persönlichkeit darf er mit der Ernte nicht beginnen, darf er sie nicht
nach Hause bringen. Unmittelbar nach dem Dreschen und Reinige" des Kornes
zieht der Jspraktor den zehnten Teil des Bruttoertrages für den Staat ein,


vom alten und neuen Griechenland.

dann das Märchenbild der verlassenen Stadt Monemvasia, deren gespenstische,
wankende Hänserzeilen auf den Verfasser einen traurigeren Eindruck machten als
die Überreste der Akropolis, die römischen Kaiserpaläste und die verödeten
Straßen Pompejis — „dort sind es Tote, denen wir mit stiller Wehmut in
das erstarrte Antlitz blicken, hier ist es ein Sterbender, dessen Züge wir sich ent¬
stellen, den wir vor unsern Augen mit dem Tode ringen sehen" — alle diese
Stätten weiß der kundige Reisende nicht nur mit geschichtlichen Erinnerungen
geschmackvoll zu beleben, es sind zum Teil Wiederentdeckungen, die unser Wissen
bereichern, und das alles ist eingestreut in die lebendige Erzählung von Land
und Leuten der Gegenwart.

Über die Aussichten, welche das heutige Griechenland im allgemeinen dar¬
bietet, seiue Fortschritte in abendländischer Gesittung, die Hoffnungen, zu denen
es berechtigt, wird man den Verfasser zurückhaltend finden. Den Optimismus,
mit welchem neuere Reisende den geistigen Aufschwung der Hellenen anstaunen
und begrüßen, vermag er offenbar nicht zu teilen. Die unverhältnismäßig große
Anzahl von politischen Tagesblättern und selbst die sichtlichen Bemühungen um
das niedere und höhere Schulwesen scheinen ihm nicht übermäßige Achtung ein¬
zuflößen. Dagegen hebt er, ungeblendet von den starken Reizen, die den kunst-
und naturfreudigen Reisenden auf griechischem Boden leicht gefangen nehmen,
einige Schattenseiten im heutigen Hellas mit Schärfe hervor. In dieser Be¬
ziehung ist das in die Beschreibung von Tiryns eingestreute Kapitel über den
Ackerbau besonders lehrreich. Noch immer nimmt der Ackerbau in Griechenland
eine sehr tiefe Stelle ein. Auf einem Areal von rund 47 500 Quadratkilo¬
metern (die jüngste Gebietserweiterung und die Ionischen Inseln außer Rech¬
nung gelassen) sind bloß 7500 Quadratkilometer angebautes Land, nicht viel
mehr als die Hälfte der überhaupt bestellbaren Fläche, wozu noch kommt, daß
die Art der Bebauung eine ganz veraltete, primitive, aus hestodischen Zeiten
stammende ist. An diesem niedern Stande der Ackerwirtschaft ist aber nicht,
wie man beschönigend gesagt hat, der Mangel an Arbeitskräften schuld, auch
nicht die angebliche Aufsangung des Bodens durch die Kultur, denn der Boden
lohnt die Aussaat bei dem geringsten Müheaufwaude mit dem siebenfachen, oft
auch dem zehnfachen Ertrage; die Schuld trägt einmal der noch immer sehr em¬
pfindliche Mangel an Verkehrswegen, vor allem aber der Fluch einer gänzlich
verkehrten Gesetzgebung, welche Verbesserungen im landwirtschaftlichen Betrieb
geradezu verhindert. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt erbt sich bis auf den heutigen
Tag die unselige Hinterlassenschaft Kapodistrias fort: die direkte Bruttobesteuerung
der Feldfrucht. Wenn der Landmann zur Ernte hinauszieht, begleitet ihn der
„Jspraktor," der Steuererheber, mit einer militärischen Bedeckung. Ohne diese
wichtige Persönlichkeit darf er mit der Ernte nicht beginnen, darf er sie nicht
nach Hause bringen. Unmittelbar nach dem Dreschen und Reinige» des Kornes
zieht der Jspraktor den zehnten Teil des Bruttoertrages für den Staat ein,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/557>, abgerufen am 26.06.2024.