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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Grafen von Altenschwerdt.

gefunden, und daß es einen Ausgang gehabt haben mußte, der seine Befürch¬
tungen verwirklichte. Nur das Unglück konnte in diesem Augenblicke jene lange
bewahrte Schranke der Vertraulichkeit in Dorotheens edler Empfindung nieder¬
gebrochen haben.

Es ist kühn, was ich unternehme -- so ging der Brief dann weiter --,
und ich gehe mit diesem Schritt über die Grenze, welche von der Wohlanstän¬
digkeit gezogen ist. Auch für dich, mein Freund, ist der Vorschlag, den ich dir
mache, nicht ohne Gefahr. Du mußt dich, wenn du deine Dorothea sehen willst,
heimlich zu ihr stehlen. Es ist mir keine Möglichkeit gegeben, mich unbeachtet
vom Schlosse zu entfernen. Du mußt zu mir kommen. Um neun Uhr, wäh¬
rend wir den Thee im Musikzimmer nehmen, mußt du dich an der kleinen Pforte
links von der Wohnung des Inspektors einfinden. Dort wird Millicent dich
empfangen und führen. Du erwartest mich an dem Orte, wohin sie dich bringen
wird. Ich werde einen Vorwand erfinden, um die Gesellschaft verlassen zu
können und zu dir zu kommen. Möge das Glück uns günstig sein und uns trotz
des Argwohns, der uns jetzt überwacht, den ersehnten Augenblick genießen lassen.
Komm, o Geliebter, komm, dem hangenden Herzen deiner dich heiß ersehnenden
Freundin süßen Trost der Gewißheit und Zuversicht spenden!

Eberhardt schrieb, nachdem er wieder und wieder diese Zeilen gelesen und
sie dann an seiner Brust geborgen hatte, einige Worte an Dorothea mit dem
Bleistift und vertraute Degenhard diese Antwort an. Dann begab er sich so¬
fort auf den Weg zum General. Er zog von neuem, als der Bote ihn ver¬
lassen hatte, das teure Briefchen hervor, las es, als ob er nicht schon jede
Silbe auswendig gewußt hätte, und drückte es inbrünstig an seine Lippen.
Indem er über den Abend nachsann, der ihm die Gegenwart der Geliebten ver¬
hieß, und indem er sich in den Bildern der Hoffnung berauschte, die ihm ein
ungestörtes Wiedersehen mit ihr vorführte, war er fast geneigt zu vergessen,
daß alle Umstände deutlich verkündigten, dies Wiedersehen werde keiner freudigen
Mitteilung gewidmet sein, sondern sei im Gegenteil der Beweis des Wider¬
standes des Barons. Er legte in solchen Gedanken die Wegstrecke, welche ihn
von dem Thurme an der See entfernte, in einer ihm unglaublich kurz er¬
scheinenden Spanne Zeit zurück, und erschrak beinahe, als er plötzlich den Saum
des Waldes erreichte und das Gestade mit den Hügeln vor sich erblickte.

Erwartungsvoll und befangen näherte er sich der Thür des alten, ver¬
ehrten Herrn, ungewiß, welcher Art der Empfang sein werde, ward aber mit
einer Freundlichkeit begrüßt, die in bemerklichen Gegensatze zu dem Ernste
stand, dem er das letztemal begegnet war. Er empfand dies umso wohlthuender,
als er sehen mußte, daß er die Zeit seines Besuches nicht sehr günstig getroffen
hatte. Die Stunden waren ihm dahin geflogen, ohne ihm die Merkmale gewohnter
Tage anzuzeigen, der Morgen war verflossen und der Mittag herangekommen,
und er war gerade in dem Augenblicke hereingetreten, als der General sich zu


Die Grafen von Altenschwerdt.

gefunden, und daß es einen Ausgang gehabt haben mußte, der seine Befürch¬
tungen verwirklichte. Nur das Unglück konnte in diesem Augenblicke jene lange
bewahrte Schranke der Vertraulichkeit in Dorotheens edler Empfindung nieder¬
gebrochen haben.

Es ist kühn, was ich unternehme — so ging der Brief dann weiter —,
und ich gehe mit diesem Schritt über die Grenze, welche von der Wohlanstän¬
digkeit gezogen ist. Auch für dich, mein Freund, ist der Vorschlag, den ich dir
mache, nicht ohne Gefahr. Du mußt dich, wenn du deine Dorothea sehen willst,
heimlich zu ihr stehlen. Es ist mir keine Möglichkeit gegeben, mich unbeachtet
vom Schlosse zu entfernen. Du mußt zu mir kommen. Um neun Uhr, wäh¬
rend wir den Thee im Musikzimmer nehmen, mußt du dich an der kleinen Pforte
links von der Wohnung des Inspektors einfinden. Dort wird Millicent dich
empfangen und führen. Du erwartest mich an dem Orte, wohin sie dich bringen
wird. Ich werde einen Vorwand erfinden, um die Gesellschaft verlassen zu
können und zu dir zu kommen. Möge das Glück uns günstig sein und uns trotz
des Argwohns, der uns jetzt überwacht, den ersehnten Augenblick genießen lassen.
Komm, o Geliebter, komm, dem hangenden Herzen deiner dich heiß ersehnenden
Freundin süßen Trost der Gewißheit und Zuversicht spenden!

Eberhardt schrieb, nachdem er wieder und wieder diese Zeilen gelesen und
sie dann an seiner Brust geborgen hatte, einige Worte an Dorothea mit dem
Bleistift und vertraute Degenhard diese Antwort an. Dann begab er sich so¬
fort auf den Weg zum General. Er zog von neuem, als der Bote ihn ver¬
lassen hatte, das teure Briefchen hervor, las es, als ob er nicht schon jede
Silbe auswendig gewußt hätte, und drückte es inbrünstig an seine Lippen.
Indem er über den Abend nachsann, der ihm die Gegenwart der Geliebten ver¬
hieß, und indem er sich in den Bildern der Hoffnung berauschte, die ihm ein
ungestörtes Wiedersehen mit ihr vorführte, war er fast geneigt zu vergessen,
daß alle Umstände deutlich verkündigten, dies Wiedersehen werde keiner freudigen
Mitteilung gewidmet sein, sondern sei im Gegenteil der Beweis des Wider¬
standes des Barons. Er legte in solchen Gedanken die Wegstrecke, welche ihn
von dem Thurme an der See entfernte, in einer ihm unglaublich kurz er¬
scheinenden Spanne Zeit zurück, und erschrak beinahe, als er plötzlich den Saum
des Waldes erreichte und das Gestade mit den Hügeln vor sich erblickte.

Erwartungsvoll und befangen näherte er sich der Thür des alten, ver¬
ehrten Herrn, ungewiß, welcher Art der Empfang sein werde, ward aber mit
einer Freundlichkeit begrüßt, die in bemerklichen Gegensatze zu dem Ernste
stand, dem er das letztemal begegnet war. Er empfand dies umso wohlthuender,
als er sehen mußte, daß er die Zeit seines Besuches nicht sehr günstig getroffen
hatte. Die Stunden waren ihm dahin geflogen, ohne ihm die Merkmale gewohnter
Tage anzuzeigen, der Morgen war verflossen und der Mittag herangekommen,
und er war gerade in dem Augenblicke hereingetreten, als der General sich zu


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[0478] Die Grafen von Altenschwerdt. gefunden, und daß es einen Ausgang gehabt haben mußte, der seine Befürch¬ tungen verwirklichte. Nur das Unglück konnte in diesem Augenblicke jene lange bewahrte Schranke der Vertraulichkeit in Dorotheens edler Empfindung nieder¬ gebrochen haben. Es ist kühn, was ich unternehme — so ging der Brief dann weiter —, und ich gehe mit diesem Schritt über die Grenze, welche von der Wohlanstän¬ digkeit gezogen ist. Auch für dich, mein Freund, ist der Vorschlag, den ich dir mache, nicht ohne Gefahr. Du mußt dich, wenn du deine Dorothea sehen willst, heimlich zu ihr stehlen. Es ist mir keine Möglichkeit gegeben, mich unbeachtet vom Schlosse zu entfernen. Du mußt zu mir kommen. Um neun Uhr, wäh¬ rend wir den Thee im Musikzimmer nehmen, mußt du dich an der kleinen Pforte links von der Wohnung des Inspektors einfinden. Dort wird Millicent dich empfangen und führen. Du erwartest mich an dem Orte, wohin sie dich bringen wird. Ich werde einen Vorwand erfinden, um die Gesellschaft verlassen zu können und zu dir zu kommen. Möge das Glück uns günstig sein und uns trotz des Argwohns, der uns jetzt überwacht, den ersehnten Augenblick genießen lassen. Komm, o Geliebter, komm, dem hangenden Herzen deiner dich heiß ersehnenden Freundin süßen Trost der Gewißheit und Zuversicht spenden! Eberhardt schrieb, nachdem er wieder und wieder diese Zeilen gelesen und sie dann an seiner Brust geborgen hatte, einige Worte an Dorothea mit dem Bleistift und vertraute Degenhard diese Antwort an. Dann begab er sich so¬ fort auf den Weg zum General. Er zog von neuem, als der Bote ihn ver¬ lassen hatte, das teure Briefchen hervor, las es, als ob er nicht schon jede Silbe auswendig gewußt hätte, und drückte es inbrünstig an seine Lippen. Indem er über den Abend nachsann, der ihm die Gegenwart der Geliebten ver¬ hieß, und indem er sich in den Bildern der Hoffnung berauschte, die ihm ein ungestörtes Wiedersehen mit ihr vorführte, war er fast geneigt zu vergessen, daß alle Umstände deutlich verkündigten, dies Wiedersehen werde keiner freudigen Mitteilung gewidmet sein, sondern sei im Gegenteil der Beweis des Wider¬ standes des Barons. Er legte in solchen Gedanken die Wegstrecke, welche ihn von dem Thurme an der See entfernte, in einer ihm unglaublich kurz er¬ scheinenden Spanne Zeit zurück, und erschrak beinahe, als er plötzlich den Saum des Waldes erreichte und das Gestade mit den Hügeln vor sich erblickte. Erwartungsvoll und befangen näherte er sich der Thür des alten, ver¬ ehrten Herrn, ungewiß, welcher Art der Empfang sein werde, ward aber mit einer Freundlichkeit begrüßt, die in bemerklichen Gegensatze zu dem Ernste stand, dem er das letztemal begegnet war. Er empfand dies umso wohlthuender, als er sehen mußte, daß er die Zeit seines Besuches nicht sehr günstig getroffen hatte. Die Stunden waren ihm dahin geflogen, ohne ihm die Merkmale gewohnter Tage anzuzeigen, der Morgen war verflossen und der Mittag herangekommen, und er war gerade in dem Augenblicke hereingetreten, als der General sich zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/478>, abgerufen am 22.07.2024.