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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Klytia.

der Kultusformen des Calvinismus und des Katholizismus einander gegenüber¬
gestellt werden, bringen alles, was sich für und gegen die nüchtern verständige
Schmucklosigkeit des einen und den auf Sinne und Phantasie wirkenden Prunk des
andern sagen läßt, in schlagender, ja unbarmherziger Wahrheit und doch unge¬
zwungen herbei. Dagegen sind die Erörterungen über die Kirchenzucht des
Genfer Reformators wieder nicht frei von Zwang und Absichtlichkeit. Seinem
dichterischen Werte nach am höchsten steht wohl der Abschnitt, in dem Lydias
nächtlicher Gang zu dem vom Priester gewünschten Stelldichein am Kreuzwege,
ihre Begegnung mit der Hexe und die Verfolgung durch die bösen Buben er¬
zählt wird. In der Schilderung der Pest und ihrer Bekämpfung ist die über¬
legene Einwirkung des Priesters auf die verzweifelte, ratlose Menge mit glänzenden
Farben dargestellt, während die Maßregeln der kurfürstlichen Beamten, des
Erast und seiner Helfer einen zu modernen Anstrich tragen. Von besondrer
Feinheit sind die Bemerkungen über den kunstfeindlichen Charakter des Calvi¬
nismus, über die vandalische Ader, die sich bei den entschiedenen Anhängern dieses
Dogmas findet.

Wie man aber hier den feinsinnigen und kunstverständigen Mann erkennt,
so muß man in der Charakteristik und der psychologischen Begründung den
dichterisch angelegten Menschenkenner bewundern, der auch seltsame Verirrungen
des Menschengeistes zu enträtseln und verständlich zu machen weiß. Sogar
die Hexe vermag uns Taylor auf diese Weise menschlich näher zu rücken. Die
erquicklichste Gestalt ist, wie schon gesagt, der Müller Werner mit seinem rot¬
haarigen Sohne, der auch vom Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt ist,
und dessen Gedanken- und Anschauungskreis in voller Klarheit zur Darstellung
kommt; in einer Beziehung fast zu ausführlich, denn feine Überlegung, ob er
sich die Lydia etwa noch als zweite Frau gewinnen könne, läßt wieder die lehr¬
hafte Tendenz durchblicken, den Leser mit der unter den Wiedertäufern zum Teil
eingeführten Vielweiberei bekannt zu machen.

Alles in allem haben, wir auch in diesem Roman eine tüchtige und be¬
deutende Leistung. Das Übergewicht des Denkers und Gelehrten über den
Künstler und Dichter tritt in der "Klytia" freilich stärker zu Tage als im
"Antinous." Aber es ist doch alles fein verarbeitet und geglättet, der Bau
des Ganzen ist ebenso sorglich durchdacht, wie das Einzelne fleißig und sauber
ausgeführt. Die Fülle der Gelehrsamkeit tritt überall in den Dienst der Dicht¬
kunst und schafft so ein vollständiges und fesselndes Bild einer interessanten
Epoche aus einer bedeutenden Zeit mit einem anmutenden und bedeutungsvollen
örtlichen Hintergrunde. Daß die Farben diesmal düsterer sind als in dem ersten
Roman, daß das Herz bei allem nicht recht frei wird, liegt in dem Stoffe selbst;
religiöse Kämpfe und Verirrungen haben nichts erquickliches. Aber es ist von
Wert, von kundiger Hand geleitet auch einmal in diese Tiefen zu schauen.




Klytia.

der Kultusformen des Calvinismus und des Katholizismus einander gegenüber¬
gestellt werden, bringen alles, was sich für und gegen die nüchtern verständige
Schmucklosigkeit des einen und den auf Sinne und Phantasie wirkenden Prunk des
andern sagen läßt, in schlagender, ja unbarmherziger Wahrheit und doch unge¬
zwungen herbei. Dagegen sind die Erörterungen über die Kirchenzucht des
Genfer Reformators wieder nicht frei von Zwang und Absichtlichkeit. Seinem
dichterischen Werte nach am höchsten steht wohl der Abschnitt, in dem Lydias
nächtlicher Gang zu dem vom Priester gewünschten Stelldichein am Kreuzwege,
ihre Begegnung mit der Hexe und die Verfolgung durch die bösen Buben er¬
zählt wird. In der Schilderung der Pest und ihrer Bekämpfung ist die über¬
legene Einwirkung des Priesters auf die verzweifelte, ratlose Menge mit glänzenden
Farben dargestellt, während die Maßregeln der kurfürstlichen Beamten, des
Erast und seiner Helfer einen zu modernen Anstrich tragen. Von besondrer
Feinheit sind die Bemerkungen über den kunstfeindlichen Charakter des Calvi¬
nismus, über die vandalische Ader, die sich bei den entschiedenen Anhängern dieses
Dogmas findet.

Wie man aber hier den feinsinnigen und kunstverständigen Mann erkennt,
so muß man in der Charakteristik und der psychologischen Begründung den
dichterisch angelegten Menschenkenner bewundern, der auch seltsame Verirrungen
des Menschengeistes zu enträtseln und verständlich zu machen weiß. Sogar
die Hexe vermag uns Taylor auf diese Weise menschlich näher zu rücken. Die
erquicklichste Gestalt ist, wie schon gesagt, der Müller Werner mit seinem rot¬
haarigen Sohne, der auch vom Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt ist,
und dessen Gedanken- und Anschauungskreis in voller Klarheit zur Darstellung
kommt; in einer Beziehung fast zu ausführlich, denn feine Überlegung, ob er
sich die Lydia etwa noch als zweite Frau gewinnen könne, läßt wieder die lehr¬
hafte Tendenz durchblicken, den Leser mit der unter den Wiedertäufern zum Teil
eingeführten Vielweiberei bekannt zu machen.

Alles in allem haben, wir auch in diesem Roman eine tüchtige und be¬
deutende Leistung. Das Übergewicht des Denkers und Gelehrten über den
Künstler und Dichter tritt in der „Klytia" freilich stärker zu Tage als im
„Antinous." Aber es ist doch alles fein verarbeitet und geglättet, der Bau
des Ganzen ist ebenso sorglich durchdacht, wie das Einzelne fleißig und sauber
ausgeführt. Die Fülle der Gelehrsamkeit tritt überall in den Dienst der Dicht¬
kunst und schafft so ein vollständiges und fesselndes Bild einer interessanten
Epoche aus einer bedeutenden Zeit mit einem anmutenden und bedeutungsvollen
örtlichen Hintergrunde. Daß die Farben diesmal düsterer sind als in dem ersten
Roman, daß das Herz bei allem nicht recht frei wird, liegt in dem Stoffe selbst;
religiöse Kämpfe und Verirrungen haben nichts erquickliches. Aber es ist von
Wert, von kundiger Hand geleitet auch einmal in diese Tiefen zu schauen.




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[0475] Klytia. der Kultusformen des Calvinismus und des Katholizismus einander gegenüber¬ gestellt werden, bringen alles, was sich für und gegen die nüchtern verständige Schmucklosigkeit des einen und den auf Sinne und Phantasie wirkenden Prunk des andern sagen läßt, in schlagender, ja unbarmherziger Wahrheit und doch unge¬ zwungen herbei. Dagegen sind die Erörterungen über die Kirchenzucht des Genfer Reformators wieder nicht frei von Zwang und Absichtlichkeit. Seinem dichterischen Werte nach am höchsten steht wohl der Abschnitt, in dem Lydias nächtlicher Gang zu dem vom Priester gewünschten Stelldichein am Kreuzwege, ihre Begegnung mit der Hexe und die Verfolgung durch die bösen Buben er¬ zählt wird. In der Schilderung der Pest und ihrer Bekämpfung ist die über¬ legene Einwirkung des Priesters auf die verzweifelte, ratlose Menge mit glänzenden Farben dargestellt, während die Maßregeln der kurfürstlichen Beamten, des Erast und seiner Helfer einen zu modernen Anstrich tragen. Von besondrer Feinheit sind die Bemerkungen über den kunstfeindlichen Charakter des Calvi¬ nismus, über die vandalische Ader, die sich bei den entschiedenen Anhängern dieses Dogmas findet. Wie man aber hier den feinsinnigen und kunstverständigen Mann erkennt, so muß man in der Charakteristik und der psychologischen Begründung den dichterisch angelegten Menschenkenner bewundern, der auch seltsame Verirrungen des Menschengeistes zu enträtseln und verständlich zu machen weiß. Sogar die Hexe vermag uns Taylor auf diese Weise menschlich näher zu rücken. Die erquicklichste Gestalt ist, wie schon gesagt, der Müller Werner mit seinem rot¬ haarigen Sohne, der auch vom Dichter mit sichtlicher Vorliebe behandelt ist, und dessen Gedanken- und Anschauungskreis in voller Klarheit zur Darstellung kommt; in einer Beziehung fast zu ausführlich, denn feine Überlegung, ob er sich die Lydia etwa noch als zweite Frau gewinnen könne, läßt wieder die lehr¬ hafte Tendenz durchblicken, den Leser mit der unter den Wiedertäufern zum Teil eingeführten Vielweiberei bekannt zu machen. Alles in allem haben, wir auch in diesem Roman eine tüchtige und be¬ deutende Leistung. Das Übergewicht des Denkers und Gelehrten über den Künstler und Dichter tritt in der „Klytia" freilich stärker zu Tage als im „Antinous." Aber es ist doch alles fein verarbeitet und geglättet, der Bau des Ganzen ist ebenso sorglich durchdacht, wie das Einzelne fleißig und sauber ausgeführt. Die Fülle der Gelehrsamkeit tritt überall in den Dienst der Dicht¬ kunst und schafft so ein vollständiges und fesselndes Bild einer interessanten Epoche aus einer bedeutenden Zeit mit einem anmutenden und bedeutungsvollen örtlichen Hintergrunde. Daß die Farben diesmal düsterer sind als in dem ersten Roman, daß das Herz bei allem nicht recht frei wird, liegt in dem Stoffe selbst; religiöse Kämpfe und Verirrungen haben nichts erquickliches. Aber es ist von Wert, von kundiger Hand geleitet auch einmal in diese Tiefen zu schauen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/475>, abgerufen am 03.07.2024.