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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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die Zukunft hegen. Daneben erscheinen die Rationalisten jener Zeit, die Uni¬
tarier, die Leugner der Dreieinigkeit in den Gestalten des Pfarrers Neuser, des
Sylvan und anderer, sowie der Anabaptismus, der seine Vertretung in dem
Müller Werner, einer der cmmutendsten Figuren des Buches findet.

Die Handlung des Romans bildet die Bekehrung des Priesters Laurenzano,
Vollgesogen von den Anschauungen des Jesuitismus tritt dieser in einen dop¬
pelten Kampf ein: er versucht unter dem Mantel des reformirten Predigers den
Katholizismus einzuschwärzen und liefert durch Angeberei die Unitarier den calvi-
nistischen Heißspornen in die Hände; zugleich verleitet ihn eine ungezügelte Sinn¬
lichkeit, die blonde Lydia, die Tochter des kurfürstlichen Leibarztes Erast, zu
umgarnen, die dadurch in den Verdacht der Hexerei kommt. Als er durch den
Müller Werner zu der Erkenntnis gebracht wird, welches Unheil er angerichtet
hat, beschließt er, seine Opfer durch Aufopferung seiner selbst zu retten, unter¬
wirft sich entschlossen der Folter, geht aus diesem Fegefeuer als ein neuer Mensch
hervor, wendet sich der neuen Lehre zu und erlangt Herz und Hand der
Geliebten.

Die ganze Dichtung trägt einen düstern, fast finstern Charakter. Die
Hauptgestalt selbst ist in hohem Grade unheimlich; die andern, freundlicheren
Gestalten stehen unter dem Banne der schlimmen Handlungen dieses Mannes,
und das Ganze hält den Leser in einer peinlichen, fast quälenden Spannung,
die durch den leidlich versöhnenden Schluß nicht ganz gelöst wird. Daß der
unheimliche Mann mit seinem geräderten Leibe die von ihm erst so schmählich
behandelte Lydia doch noch gewinnt, erweckt kein Gefühl reiner Befriedigung.
Besser wäre es gewesen, den Helden an den Folgen der Folterung sterben zu
lasse" und dem Mädchen so die Freiheit des Herzens und die Möglichkeit der
Vereinigung mit dem Bildhauer Felix Laurenzano, dem Bruder des Paolo, zu
gewähren. Die Liebe dieses Jünglings zu Lydia ist ohnehin fast zu warm ge¬
schildert, als daß sie dann schließlich nur als eine künstlerische Begeisterung für die
Schönheit der Jungfrau gedeutet werden könnte. Freilich würde mit dieser Änderung
des Planes auch der Titel des Buches und das Titelkupfer in Wegfall kommen.
Dasselbe stellt die Londoner Büste dar, die diesen Namen trägt; sie wird in
dem Buche gedeutet als das Werk des Felix Laurenzano, mit dessen Schöpfung
dieser sich von der Liebe zu Lydia befreit, deren unwandelbare Zuneigung
zu Paolo er erkannte. Der Name aber wird erklärt aus der von Ovid in seinen
Metamorphosen angeführten Sage von der unerhört gebliebenen Liebe der Jung¬
frau Klytia zum Sonnengotte, der die Ungeliebte in eine Blume verwandelt,
welche ihre Blüte nur dem stets geliebten Gotte zuwendet. Vielleicht wäre der
Wegfall dieses Vergleichs kein Schade für das Ganze. Der Vergleichspunkt
liegt nur in der unwandelbaren Liebe der Lydia zu ihrem Sonnengotte; und
die Benennung ist doch so weit hergeholt, daß sie einer ausführlichen Begrün¬
dung durch eine weitläufige Erzählung der ovidischen Fabel bedarf, die noch


Grenzboten II. 1883. 69
«lytia.

die Zukunft hegen. Daneben erscheinen die Rationalisten jener Zeit, die Uni¬
tarier, die Leugner der Dreieinigkeit in den Gestalten des Pfarrers Neuser, des
Sylvan und anderer, sowie der Anabaptismus, der seine Vertretung in dem
Müller Werner, einer der cmmutendsten Figuren des Buches findet.

Die Handlung des Romans bildet die Bekehrung des Priesters Laurenzano,
Vollgesogen von den Anschauungen des Jesuitismus tritt dieser in einen dop¬
pelten Kampf ein: er versucht unter dem Mantel des reformirten Predigers den
Katholizismus einzuschwärzen und liefert durch Angeberei die Unitarier den calvi-
nistischen Heißspornen in die Hände; zugleich verleitet ihn eine ungezügelte Sinn¬
lichkeit, die blonde Lydia, die Tochter des kurfürstlichen Leibarztes Erast, zu
umgarnen, die dadurch in den Verdacht der Hexerei kommt. Als er durch den
Müller Werner zu der Erkenntnis gebracht wird, welches Unheil er angerichtet
hat, beschließt er, seine Opfer durch Aufopferung seiner selbst zu retten, unter¬
wirft sich entschlossen der Folter, geht aus diesem Fegefeuer als ein neuer Mensch
hervor, wendet sich der neuen Lehre zu und erlangt Herz und Hand der
Geliebten.

Die ganze Dichtung trägt einen düstern, fast finstern Charakter. Die
Hauptgestalt selbst ist in hohem Grade unheimlich; die andern, freundlicheren
Gestalten stehen unter dem Banne der schlimmen Handlungen dieses Mannes,
und das Ganze hält den Leser in einer peinlichen, fast quälenden Spannung,
die durch den leidlich versöhnenden Schluß nicht ganz gelöst wird. Daß der
unheimliche Mann mit seinem geräderten Leibe die von ihm erst so schmählich
behandelte Lydia doch noch gewinnt, erweckt kein Gefühl reiner Befriedigung.
Besser wäre es gewesen, den Helden an den Folgen der Folterung sterben zu
lasse» und dem Mädchen so die Freiheit des Herzens und die Möglichkeit der
Vereinigung mit dem Bildhauer Felix Laurenzano, dem Bruder des Paolo, zu
gewähren. Die Liebe dieses Jünglings zu Lydia ist ohnehin fast zu warm ge¬
schildert, als daß sie dann schließlich nur als eine künstlerische Begeisterung für die
Schönheit der Jungfrau gedeutet werden könnte. Freilich würde mit dieser Änderung
des Planes auch der Titel des Buches und das Titelkupfer in Wegfall kommen.
Dasselbe stellt die Londoner Büste dar, die diesen Namen trägt; sie wird in
dem Buche gedeutet als das Werk des Felix Laurenzano, mit dessen Schöpfung
dieser sich von der Liebe zu Lydia befreit, deren unwandelbare Zuneigung
zu Paolo er erkannte. Der Name aber wird erklärt aus der von Ovid in seinen
Metamorphosen angeführten Sage von der unerhört gebliebenen Liebe der Jung¬
frau Klytia zum Sonnengotte, der die Ungeliebte in eine Blume verwandelt,
welche ihre Blüte nur dem stets geliebten Gotte zuwendet. Vielleicht wäre der
Wegfall dieses Vergleichs kein Schade für das Ganze. Der Vergleichspunkt
liegt nur in der unwandelbaren Liebe der Lydia zu ihrem Sonnengotte; und
die Benennung ist doch so weit hergeholt, daß sie einer ausführlichen Begrün¬
dung durch eine weitläufige Erzählung der ovidischen Fabel bedarf, die noch


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[0473] «lytia. die Zukunft hegen. Daneben erscheinen die Rationalisten jener Zeit, die Uni¬ tarier, die Leugner der Dreieinigkeit in den Gestalten des Pfarrers Neuser, des Sylvan und anderer, sowie der Anabaptismus, der seine Vertretung in dem Müller Werner, einer der cmmutendsten Figuren des Buches findet. Die Handlung des Romans bildet die Bekehrung des Priesters Laurenzano, Vollgesogen von den Anschauungen des Jesuitismus tritt dieser in einen dop¬ pelten Kampf ein: er versucht unter dem Mantel des reformirten Predigers den Katholizismus einzuschwärzen und liefert durch Angeberei die Unitarier den calvi- nistischen Heißspornen in die Hände; zugleich verleitet ihn eine ungezügelte Sinn¬ lichkeit, die blonde Lydia, die Tochter des kurfürstlichen Leibarztes Erast, zu umgarnen, die dadurch in den Verdacht der Hexerei kommt. Als er durch den Müller Werner zu der Erkenntnis gebracht wird, welches Unheil er angerichtet hat, beschließt er, seine Opfer durch Aufopferung seiner selbst zu retten, unter¬ wirft sich entschlossen der Folter, geht aus diesem Fegefeuer als ein neuer Mensch hervor, wendet sich der neuen Lehre zu und erlangt Herz und Hand der Geliebten. Die ganze Dichtung trägt einen düstern, fast finstern Charakter. Die Hauptgestalt selbst ist in hohem Grade unheimlich; die andern, freundlicheren Gestalten stehen unter dem Banne der schlimmen Handlungen dieses Mannes, und das Ganze hält den Leser in einer peinlichen, fast quälenden Spannung, die durch den leidlich versöhnenden Schluß nicht ganz gelöst wird. Daß der unheimliche Mann mit seinem geräderten Leibe die von ihm erst so schmählich behandelte Lydia doch noch gewinnt, erweckt kein Gefühl reiner Befriedigung. Besser wäre es gewesen, den Helden an den Folgen der Folterung sterben zu lasse» und dem Mädchen so die Freiheit des Herzens und die Möglichkeit der Vereinigung mit dem Bildhauer Felix Laurenzano, dem Bruder des Paolo, zu gewähren. Die Liebe dieses Jünglings zu Lydia ist ohnehin fast zu warm ge¬ schildert, als daß sie dann schließlich nur als eine künstlerische Begeisterung für die Schönheit der Jungfrau gedeutet werden könnte. Freilich würde mit dieser Änderung des Planes auch der Titel des Buches und das Titelkupfer in Wegfall kommen. Dasselbe stellt die Londoner Büste dar, die diesen Namen trägt; sie wird in dem Buche gedeutet als das Werk des Felix Laurenzano, mit dessen Schöpfung dieser sich von der Liebe zu Lydia befreit, deren unwandelbare Zuneigung zu Paolo er erkannte. Der Name aber wird erklärt aus der von Ovid in seinen Metamorphosen angeführten Sage von der unerhört gebliebenen Liebe der Jung¬ frau Klytia zum Sonnengotte, der die Ungeliebte in eine Blume verwandelt, welche ihre Blüte nur dem stets geliebten Gotte zuwendet. Vielleicht wäre der Wegfall dieses Vergleichs kein Schade für das Ganze. Der Vergleichspunkt liegt nur in der unwandelbaren Liebe der Lydia zu ihrem Sonnengotte; und die Benennung ist doch so weit hergeholt, daß sie einer ausführlichen Begrün¬ dung durch eine weitläufige Erzählung der ovidischen Fabel bedarf, die noch Grenzboten II. 1883. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/473>, abgerufen am 01.07.2024.