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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Katharina die Zweite als Journalistin.

14, Da wir als Monarchin einen ehrlichen Menschen (sie!) haben, was
könnte hindern, als allgemeine Richtschnur zu nehmen, daß man ihrer Gnade nur
dnrch ehrenwerte Handlungen würdig werde, und nicht wagen könne, dieselbe durch
Betrug und Gemeinheit zu erschwindeln?

A. Überall, in jedem Lande und zu jeder Zeit, wird das Menschengeschlecht
unvollkommen geboren.

14. Ans welchem Grunde hatten in frühern Zeiten die Narren, Spielleute
und Possenreißer keinen Rang, während sie jetzt einen Rang einnehmen, und zwar
einen sehr hohen?

A, Unsre Vorfahren hatten nicht alle Schulbildung. Diese Frage ent¬
sprang aus einer Redefreiheit, welche unsre Vorfahren nicht besaßen; hätten sie
dieselbe gehabt, so hätte mau auf einen heute Lebenden zehn früher Lebende
rechnen können.

15. Weshalb werden viele von denen, welche aus fremden Ländern zu uns
reisen, während sie dort für kluge Leute gehalten werden, bei uns für Dummköpfe
angesehen, und umgekehrt: weshalb sind hiesige Kluge häufig im Auslande Ein-
faltspinsel?

A. Deshalb, weil der Geschmack verschieden ist und jedes Volk seine Eigen¬
art hat.

16. Wo wohnt der Stolz des größten Teils der Bojaren, im Herzen oder
im Kopfe?

A. Ebenda, wo die Unentschlossenheit wohnt.

17. Warum ist in Europa ein sehr beschränkter Mensch imstande, einen sehr
vernünftigen Brief zu schreiben, und warum schreiben bei uns sehr scharfsinnige
Leute häufig so unverständlich?

A. Weil man dort, wenn man den Stil erlernt hat, auf einerlei Weise schreibt,
bei uns dagegen jeder seine Gedanken ungelehrt zu Papier bringt.

18. Warum werden bei uns die Angelegenheiten mit viel Feuer und Flamme
begonnen, werden dann liegen gelassen und nicht selten auch völlig vergessen?

A Aus demselben Grunde, aus welchem der Mensch altert.

19. Wie sind die beiden Widersprüche und höchst schädlichen Vorurteile zu
beseitigen: erstens, daß bei uns alles schlecht und in fremden Ländern alles gut
sei; zweitens, daß in fremden Ländern alles schlecht und bei uns alles gut sei?

A. Durch Zeit und Einsicht.

20. Worin besteht unser Nationalcharakter?

A. Im scharfen und schnellen Begreifen aller Dinge, im lunsterhaften Ge¬
horsam und in der Anlage zu allen Tugenden, welche der Schöpfer den Menschen
gegeben hat.

Der Geist und die Kühnheit eines Marquis Posa regte sich in Wisin, als
er die obigen Fragen stellte. Die beiden mit 14 bezeichneten enthalten einen
Angriff gegen die Kaiserin selbst und ihre Umgebung und beschuldigen die
erstere, daß sie Unwürdige in ihre Nähe ziehe und mit ihrer Gunst belohne.
War diese dreiste Sprache an sich schon in Rußland etwas Unerhörtes, so
machte sie einen umso peinlichern Eindruck auf Katharina, als die indirekten
Vorwürfe viel Wahres enthielten. War doch ihr Privatleben, wie bekannt, nicht
sehr erbaulich; die Unterhaltungen bei Hofe arteten vielfach in kindische Spie¬
lereien aus, und Leute wie der Oberstallmeister Leo Naryschkin, den Katharina


Katharina die Zweite als Journalistin.

14, Da wir als Monarchin einen ehrlichen Menschen (sie!) haben, was
könnte hindern, als allgemeine Richtschnur zu nehmen, daß man ihrer Gnade nur
dnrch ehrenwerte Handlungen würdig werde, und nicht wagen könne, dieselbe durch
Betrug und Gemeinheit zu erschwindeln?

A. Überall, in jedem Lande und zu jeder Zeit, wird das Menschengeschlecht
unvollkommen geboren.

14. Ans welchem Grunde hatten in frühern Zeiten die Narren, Spielleute
und Possenreißer keinen Rang, während sie jetzt einen Rang einnehmen, und zwar
einen sehr hohen?

A, Unsre Vorfahren hatten nicht alle Schulbildung. Diese Frage ent¬
sprang aus einer Redefreiheit, welche unsre Vorfahren nicht besaßen; hätten sie
dieselbe gehabt, so hätte mau auf einen heute Lebenden zehn früher Lebende
rechnen können.

15. Weshalb werden viele von denen, welche aus fremden Ländern zu uns
reisen, während sie dort für kluge Leute gehalten werden, bei uns für Dummköpfe
angesehen, und umgekehrt: weshalb sind hiesige Kluge häufig im Auslande Ein-
faltspinsel?

A. Deshalb, weil der Geschmack verschieden ist und jedes Volk seine Eigen¬
art hat.

16. Wo wohnt der Stolz des größten Teils der Bojaren, im Herzen oder
im Kopfe?

A. Ebenda, wo die Unentschlossenheit wohnt.

17. Warum ist in Europa ein sehr beschränkter Mensch imstande, einen sehr
vernünftigen Brief zu schreiben, und warum schreiben bei uns sehr scharfsinnige
Leute häufig so unverständlich?

A. Weil man dort, wenn man den Stil erlernt hat, auf einerlei Weise schreibt,
bei uns dagegen jeder seine Gedanken ungelehrt zu Papier bringt.

18. Warum werden bei uns die Angelegenheiten mit viel Feuer und Flamme
begonnen, werden dann liegen gelassen und nicht selten auch völlig vergessen?

A Aus demselben Grunde, aus welchem der Mensch altert.

19. Wie sind die beiden Widersprüche und höchst schädlichen Vorurteile zu
beseitigen: erstens, daß bei uns alles schlecht und in fremden Ländern alles gut
sei; zweitens, daß in fremden Ländern alles schlecht und bei uns alles gut sei?

A. Durch Zeit und Einsicht.

20. Worin besteht unser Nationalcharakter?

A. Im scharfen und schnellen Begreifen aller Dinge, im lunsterhaften Ge¬
horsam und in der Anlage zu allen Tugenden, welche der Schöpfer den Menschen
gegeben hat.

Der Geist und die Kühnheit eines Marquis Posa regte sich in Wisin, als
er die obigen Fragen stellte. Die beiden mit 14 bezeichneten enthalten einen
Angriff gegen die Kaiserin selbst und ihre Umgebung und beschuldigen die
erstere, daß sie Unwürdige in ihre Nähe ziehe und mit ihrer Gunst belohne.
War diese dreiste Sprache an sich schon in Rußland etwas Unerhörtes, so
machte sie einen umso peinlichern Eindruck auf Katharina, als die indirekten
Vorwürfe viel Wahres enthielten. War doch ihr Privatleben, wie bekannt, nicht
sehr erbaulich; die Unterhaltungen bei Hofe arteten vielfach in kindische Spie¬
lereien aus, und Leute wie der Oberstallmeister Leo Naryschkin, den Katharina


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[0454] Katharina die Zweite als Journalistin. 14, Da wir als Monarchin einen ehrlichen Menschen (sie!) haben, was könnte hindern, als allgemeine Richtschnur zu nehmen, daß man ihrer Gnade nur dnrch ehrenwerte Handlungen würdig werde, und nicht wagen könne, dieselbe durch Betrug und Gemeinheit zu erschwindeln? A. Überall, in jedem Lande und zu jeder Zeit, wird das Menschengeschlecht unvollkommen geboren. 14. Ans welchem Grunde hatten in frühern Zeiten die Narren, Spielleute und Possenreißer keinen Rang, während sie jetzt einen Rang einnehmen, und zwar einen sehr hohen? A, Unsre Vorfahren hatten nicht alle Schulbildung. Diese Frage ent¬ sprang aus einer Redefreiheit, welche unsre Vorfahren nicht besaßen; hätten sie dieselbe gehabt, so hätte mau auf einen heute Lebenden zehn früher Lebende rechnen können. 15. Weshalb werden viele von denen, welche aus fremden Ländern zu uns reisen, während sie dort für kluge Leute gehalten werden, bei uns für Dummköpfe angesehen, und umgekehrt: weshalb sind hiesige Kluge häufig im Auslande Ein- faltspinsel? A. Deshalb, weil der Geschmack verschieden ist und jedes Volk seine Eigen¬ art hat. 16. Wo wohnt der Stolz des größten Teils der Bojaren, im Herzen oder im Kopfe? A. Ebenda, wo die Unentschlossenheit wohnt. 17. Warum ist in Europa ein sehr beschränkter Mensch imstande, einen sehr vernünftigen Brief zu schreiben, und warum schreiben bei uns sehr scharfsinnige Leute häufig so unverständlich? A. Weil man dort, wenn man den Stil erlernt hat, auf einerlei Weise schreibt, bei uns dagegen jeder seine Gedanken ungelehrt zu Papier bringt. 18. Warum werden bei uns die Angelegenheiten mit viel Feuer und Flamme begonnen, werden dann liegen gelassen und nicht selten auch völlig vergessen? A Aus demselben Grunde, aus welchem der Mensch altert. 19. Wie sind die beiden Widersprüche und höchst schädlichen Vorurteile zu beseitigen: erstens, daß bei uns alles schlecht und in fremden Ländern alles gut sei; zweitens, daß in fremden Ländern alles schlecht und bei uns alles gut sei? A. Durch Zeit und Einsicht. 20. Worin besteht unser Nationalcharakter? A. Im scharfen und schnellen Begreifen aller Dinge, im lunsterhaften Ge¬ horsam und in der Anlage zu allen Tugenden, welche der Schöpfer den Menschen gegeben hat. Der Geist und die Kühnheit eines Marquis Posa regte sich in Wisin, als er die obigen Fragen stellte. Die beiden mit 14 bezeichneten enthalten einen Angriff gegen die Kaiserin selbst und ihre Umgebung und beschuldigen die erstere, daß sie Unwürdige in ihre Nähe ziehe und mit ihrer Gunst belohne. War diese dreiste Sprache an sich schon in Rußland etwas Unerhörtes, so machte sie einen umso peinlichern Eindruck auf Katharina, als die indirekten Vorwürfe viel Wahres enthielten. War doch ihr Privatleben, wie bekannt, nicht sehr erbaulich; die Unterhaltungen bei Hofe arteten vielfach in kindische Spie¬ lereien aus, und Leute wie der Oberstallmeister Leo Naryschkin, den Katharina

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/454>, abgerufen am 22.07.2024.