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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Lutherfeier.

über jene Bitte sehr verwundert aussprach, da doch sicherlich niemand daran
denke, zu einer solchen Besorgnis Anlaß zu geben.

Immerhin ist diese Gesinnung mit einem geringen Maße protestantischen
Interesses noch vereinbar. Allem in den meisten Fällen entstammt sie der
leidigen Gleichgiltigkeit gegen jedwede über das alltägliche Bedürfnis sich er¬
hebende Bestrebung. Die Hauptvertreter dieser beschränkten Lebensanschauung
sind die biedern Durchschnittsphilister, die namentlich, wo es sich um religiös¬
kirchliche Fragen handelt, von einer Gänsehaut befallen werden. Wie sollten
sie sich durch Luthers Geburtsfeier. bei der solche Fragen in den Mittelpunkt
treten werden, auch nur einen Augenblick in ihrer Gewohnheit und Gemütlichkeit
stören lassen!

> Zu dieser großen Zahl der lauen oder gleichgiltigen Protestanten aber ge¬
sellt sich eine andre Schar, die von wesentlich verschiednen Voraussetzungen aus
unserm Jubelfest mehr oder weniger ihre Teilnahme versagen werden. Sie
besteht aus allen den Zeitgenossen, welche auf Grund wissenschaftlicher Über¬
zeugungen ihre Stellung zur Sache nehmen. "Der Gegensatz des Katholicismus
und Protestantismas ist. . . auf dem Gebiete der Wissenschaft zur gänzlichen
Bedeutungslosigkeit zusammen geschwunden. ... Wo um Autonomie oder Hetero-
nomie des Geistes als solchen gestritten wird, da kann die Nebenfrage, ob das
Prinzip dieser Heterouvmie die Kirche oder die Schrift sein solle, nur ein
schwaches Interesse erregen; und ebenso muß es als verschwendete Mühe er¬
scheinen, um einzelne nähere Bestimmungen an den Lehren von Erbsünde, Recht¬
fertigung, Sakrament u. s. f. sich zu zanken, wo das Ganze jener Lehren mit¬
samt der Weltanschauung, die ihren Boden bildet, in Frage gestellt ist." So
zuversichtlich sprach schon vor mehr als vierzig Jahren David Strauß in der
Vorrede seiner "Christlichen Glaubenslehre." Seitdem klingt dieser Ton un¬
unterbrochen fort, nur daß man die Register mehr und mehr verstärkt hat.

Die herrschende Philosophie weiß gegenwärtig mit Bestimmtheit, daß das
Christentum in seiner Selbstauslösung begriffen, daß an die Stelle des "alten
Glaubens" ein "neuer Glaube" getreten sei. Dieser neue Glaube ist der "Mate¬
rialismus," auch "Monismus" genannt. Er bekämpft den alten Dualismus
zwischen Gott und Welt, Geist und Materie, Jenseits und Diesseits; er läßt
uur die Materie mit den ihr innewohnenden Kräften gelten. Wer in diesem
Kreise noch etwas Idealismus übrig behalten hat, erbaut sich an der Größe
des "Universums." Dieser neue Glaube fährt sehr vornehm daher. Sich selbst
als Vollender der ganzen bisherigen geistigen Entwicklung preisend, sieht er
mit Geringschätzung auf alle herab, die auf einer Vorstufe stehen geblieben sind.
Was kann ihm Luther sei"? Höchstens wird er ihn, seiner entscheidenden
Eigentümlichkeit entkleidet, in abgeblaßter Allgemeinheit als einen in Be¬
schränktheit befangnen Freiheitsapostel betrachten, wogegen niemand kräftiger
Protestiren würde als Luther selbst. Unter den Festgenossen des Jubiläums


Zur Lutherfeier.

über jene Bitte sehr verwundert aussprach, da doch sicherlich niemand daran
denke, zu einer solchen Besorgnis Anlaß zu geben.

Immerhin ist diese Gesinnung mit einem geringen Maße protestantischen
Interesses noch vereinbar. Allem in den meisten Fällen entstammt sie der
leidigen Gleichgiltigkeit gegen jedwede über das alltägliche Bedürfnis sich er¬
hebende Bestrebung. Die Hauptvertreter dieser beschränkten Lebensanschauung
sind die biedern Durchschnittsphilister, die namentlich, wo es sich um religiös¬
kirchliche Fragen handelt, von einer Gänsehaut befallen werden. Wie sollten
sie sich durch Luthers Geburtsfeier. bei der solche Fragen in den Mittelpunkt
treten werden, auch nur einen Augenblick in ihrer Gewohnheit und Gemütlichkeit
stören lassen!

> Zu dieser großen Zahl der lauen oder gleichgiltigen Protestanten aber ge¬
sellt sich eine andre Schar, die von wesentlich verschiednen Voraussetzungen aus
unserm Jubelfest mehr oder weniger ihre Teilnahme versagen werden. Sie
besteht aus allen den Zeitgenossen, welche auf Grund wissenschaftlicher Über¬
zeugungen ihre Stellung zur Sache nehmen. „Der Gegensatz des Katholicismus
und Protestantismas ist. . . auf dem Gebiete der Wissenschaft zur gänzlichen
Bedeutungslosigkeit zusammen geschwunden. ... Wo um Autonomie oder Hetero-
nomie des Geistes als solchen gestritten wird, da kann die Nebenfrage, ob das
Prinzip dieser Heterouvmie die Kirche oder die Schrift sein solle, nur ein
schwaches Interesse erregen; und ebenso muß es als verschwendete Mühe er¬
scheinen, um einzelne nähere Bestimmungen an den Lehren von Erbsünde, Recht¬
fertigung, Sakrament u. s. f. sich zu zanken, wo das Ganze jener Lehren mit¬
samt der Weltanschauung, die ihren Boden bildet, in Frage gestellt ist." So
zuversichtlich sprach schon vor mehr als vierzig Jahren David Strauß in der
Vorrede seiner „Christlichen Glaubenslehre." Seitdem klingt dieser Ton un¬
unterbrochen fort, nur daß man die Register mehr und mehr verstärkt hat.

Die herrschende Philosophie weiß gegenwärtig mit Bestimmtheit, daß das
Christentum in seiner Selbstauslösung begriffen, daß an die Stelle des „alten
Glaubens" ein „neuer Glaube" getreten sei. Dieser neue Glaube ist der „Mate¬
rialismus," auch „Monismus" genannt. Er bekämpft den alten Dualismus
zwischen Gott und Welt, Geist und Materie, Jenseits und Diesseits; er läßt
uur die Materie mit den ihr innewohnenden Kräften gelten. Wer in diesem
Kreise noch etwas Idealismus übrig behalten hat, erbaut sich an der Größe
des „Universums." Dieser neue Glaube fährt sehr vornehm daher. Sich selbst
als Vollender der ganzen bisherigen geistigen Entwicklung preisend, sieht er
mit Geringschätzung auf alle herab, die auf einer Vorstufe stehen geblieben sind.
Was kann ihm Luther sei»? Höchstens wird er ihn, seiner entscheidenden
Eigentümlichkeit entkleidet, in abgeblaßter Allgemeinheit als einen in Be¬
schränktheit befangnen Freiheitsapostel betrachten, wogegen niemand kräftiger
Protestiren würde als Luther selbst. Unter den Festgenossen des Jubiläums


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[0397] Zur Lutherfeier. über jene Bitte sehr verwundert aussprach, da doch sicherlich niemand daran denke, zu einer solchen Besorgnis Anlaß zu geben. Immerhin ist diese Gesinnung mit einem geringen Maße protestantischen Interesses noch vereinbar. Allem in den meisten Fällen entstammt sie der leidigen Gleichgiltigkeit gegen jedwede über das alltägliche Bedürfnis sich er¬ hebende Bestrebung. Die Hauptvertreter dieser beschränkten Lebensanschauung sind die biedern Durchschnittsphilister, die namentlich, wo es sich um religiös¬ kirchliche Fragen handelt, von einer Gänsehaut befallen werden. Wie sollten sie sich durch Luthers Geburtsfeier. bei der solche Fragen in den Mittelpunkt treten werden, auch nur einen Augenblick in ihrer Gewohnheit und Gemütlichkeit stören lassen! > Zu dieser großen Zahl der lauen oder gleichgiltigen Protestanten aber ge¬ sellt sich eine andre Schar, die von wesentlich verschiednen Voraussetzungen aus unserm Jubelfest mehr oder weniger ihre Teilnahme versagen werden. Sie besteht aus allen den Zeitgenossen, welche auf Grund wissenschaftlicher Über¬ zeugungen ihre Stellung zur Sache nehmen. „Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismas ist. . . auf dem Gebiete der Wissenschaft zur gänzlichen Bedeutungslosigkeit zusammen geschwunden. ... Wo um Autonomie oder Hetero- nomie des Geistes als solchen gestritten wird, da kann die Nebenfrage, ob das Prinzip dieser Heterouvmie die Kirche oder die Schrift sein solle, nur ein schwaches Interesse erregen; und ebenso muß es als verschwendete Mühe er¬ scheinen, um einzelne nähere Bestimmungen an den Lehren von Erbsünde, Recht¬ fertigung, Sakrament u. s. f. sich zu zanken, wo das Ganze jener Lehren mit¬ samt der Weltanschauung, die ihren Boden bildet, in Frage gestellt ist." So zuversichtlich sprach schon vor mehr als vierzig Jahren David Strauß in der Vorrede seiner „Christlichen Glaubenslehre." Seitdem klingt dieser Ton un¬ unterbrochen fort, nur daß man die Register mehr und mehr verstärkt hat. Die herrschende Philosophie weiß gegenwärtig mit Bestimmtheit, daß das Christentum in seiner Selbstauslösung begriffen, daß an die Stelle des „alten Glaubens" ein „neuer Glaube" getreten sei. Dieser neue Glaube ist der „Mate¬ rialismus," auch „Monismus" genannt. Er bekämpft den alten Dualismus zwischen Gott und Welt, Geist und Materie, Jenseits und Diesseits; er läßt uur die Materie mit den ihr innewohnenden Kräften gelten. Wer in diesem Kreise noch etwas Idealismus übrig behalten hat, erbaut sich an der Größe des „Universums." Dieser neue Glaube fährt sehr vornehm daher. Sich selbst als Vollender der ganzen bisherigen geistigen Entwicklung preisend, sieht er mit Geringschätzung auf alle herab, die auf einer Vorstufe stehen geblieben sind. Was kann ihm Luther sei»? Höchstens wird er ihn, seiner entscheidenden Eigentümlichkeit entkleidet, in abgeblaßter Allgemeinheit als einen in Be¬ schränktheit befangnen Freiheitsapostel betrachten, wogegen niemand kräftiger Protestiren würde als Luther selbst. Unter den Festgenossen des Jubiläums

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/397>, abgerufen am 22.07.2024.