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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Brogliesche Jnterpellation und die Abrüstnngsfrage.

Hälfte, ihr werdet dann beide vergleichsweise dieselbe Stärke behalten. Aber
leider giebt es keine zwei Länder, die sich in allen Stücken vollständig gleichen.
Der Wortführer und Sachwalter des einen könnte mit guten Beweisen be¬
haupten, daß die Truppen auf jeder der beiden Seiten dann zwar der Zahl nach
gleich wären, aber aus den oder jenen Gründen dem Werte nach nicht. Der
eine Souverän könnte ein zu Revolutionen geneigtes Volk unter sich haben, der
andre nicht, und so müßte jener so viel Truppen mehr halten dürfen, als die
Differenz der Charaktereigentümlichkeiten verlangte, was sich in Zahlen nicht
ausdrücken lassen würde. Rußland könnte hier auf Polen, vielleicht auch auf
die Nihilisten, Österreich-Ungarn auf die Panslcivisten, Italien auf die Jrreden-
tisten und Republikaner, Frankreich auf seine Kommunisten und Anarchisten hin¬
weisen, um ausgedehntere Rüstungen zu rechtfertigen, als sie solchen Staaten
zu erlauben wären, welche keine militärischen Extravorkehrungen gegen innere
Feinde bedürften.

Ferner hätte die Geographie ihre Bedeutung bei Entscheidung solcher Fragen.
Die Grenzen wollen berücksichtigt sein. England z. B. braucht als Insel keine
erhebliche Landmacht zu Hause. Spanien hat in den Pyrenäen eine weit bessere
Grenze als Frankreich nach Osten hin oder Deutschland an der Weichsel. Eine
sehr ausgedehnte Küstenlinie mit vielen Punkten, die zur Landung von feind¬
lichen Truppen geeignet sind, ist für jedes Land eine Gefahr an sich, weshalb
England und Frankreich wenigstens mehr Kriegsschiffe haben müßten als Deutsch¬
land und Österreich-Ungarn. Wie wollte man sich über diese schwer, ja viel¬
leicht gar nicht genügend abzuwägenden Verhältnisse und Bedürfnisse verstän¬
digen? Wieviel Regimenter mehr kommen dem Mangel an einem hohen und
teilweise unwegsamen Gebirgszuge gleich, der dem Nachbar die Grenze deckt,
wie viel weniger Militär kann ein Staat ohne Gefahr haben, dem ein breiter
Strom wie die untere Donau seine Flanke schützt? Rußland könnte eine ganze
Reihe von Gründen für die Berechtigung, eine große Armee zu halten, anführen,
seine ungeheure Ausdehnung über zwei Weltteile, die unzivilisirten Völker¬
schaften in den neuen asiatischen Teilen des Reiches, die Nachbarschaft Chinas
u. dergl. Die Billigkeit gehste ferner, die Abrüstung auf die Flotten zu er¬
strecken. Ein Staat wie Deutschland ohne Kolonien ist naturgemäß mit wenigen
guten Schiffen stärker als Großbritannien mit seinen vielen überseeischen Be¬
sitzungen und einer dreimal stärkern Kriegsflotte. Ein Krieg zwischen England
und Frankreich ist jetzt nicht wahrscheinlich, aber in Zukunft keineswegs un¬
möglich. England würde dann vor allem den Weg nach Indien und Austra¬
lien schützen und seine über alle Meere zerstreuten Kolonien wahren müssen,
und so müßte unser Schiedsrichter, wenn ihm die Macht gegeben wäre, ebenso
wie Abrüstungen, auch Rüstungen zu dekretiren, billigerweise eine Vermehrung
der britischen Flotte anbefehlen.

Eine Nation ist endlich nach Montecuculis Wort nicht bloß stark, wenn
sie viele Soldaten hat, sondern auch wenn sie sich großen Reichtums, der Mittel,


Die Brogliesche Jnterpellation und die Abrüstnngsfrage.

Hälfte, ihr werdet dann beide vergleichsweise dieselbe Stärke behalten. Aber
leider giebt es keine zwei Länder, die sich in allen Stücken vollständig gleichen.
Der Wortführer und Sachwalter des einen könnte mit guten Beweisen be¬
haupten, daß die Truppen auf jeder der beiden Seiten dann zwar der Zahl nach
gleich wären, aber aus den oder jenen Gründen dem Werte nach nicht. Der
eine Souverän könnte ein zu Revolutionen geneigtes Volk unter sich haben, der
andre nicht, und so müßte jener so viel Truppen mehr halten dürfen, als die
Differenz der Charaktereigentümlichkeiten verlangte, was sich in Zahlen nicht
ausdrücken lassen würde. Rußland könnte hier auf Polen, vielleicht auch auf
die Nihilisten, Österreich-Ungarn auf die Panslcivisten, Italien auf die Jrreden-
tisten und Republikaner, Frankreich auf seine Kommunisten und Anarchisten hin¬
weisen, um ausgedehntere Rüstungen zu rechtfertigen, als sie solchen Staaten
zu erlauben wären, welche keine militärischen Extravorkehrungen gegen innere
Feinde bedürften.

Ferner hätte die Geographie ihre Bedeutung bei Entscheidung solcher Fragen.
Die Grenzen wollen berücksichtigt sein. England z. B. braucht als Insel keine
erhebliche Landmacht zu Hause. Spanien hat in den Pyrenäen eine weit bessere
Grenze als Frankreich nach Osten hin oder Deutschland an der Weichsel. Eine
sehr ausgedehnte Küstenlinie mit vielen Punkten, die zur Landung von feind¬
lichen Truppen geeignet sind, ist für jedes Land eine Gefahr an sich, weshalb
England und Frankreich wenigstens mehr Kriegsschiffe haben müßten als Deutsch¬
land und Österreich-Ungarn. Wie wollte man sich über diese schwer, ja viel¬
leicht gar nicht genügend abzuwägenden Verhältnisse und Bedürfnisse verstän¬
digen? Wieviel Regimenter mehr kommen dem Mangel an einem hohen und
teilweise unwegsamen Gebirgszuge gleich, der dem Nachbar die Grenze deckt,
wie viel weniger Militär kann ein Staat ohne Gefahr haben, dem ein breiter
Strom wie die untere Donau seine Flanke schützt? Rußland könnte eine ganze
Reihe von Gründen für die Berechtigung, eine große Armee zu halten, anführen,
seine ungeheure Ausdehnung über zwei Weltteile, die unzivilisirten Völker¬
schaften in den neuen asiatischen Teilen des Reiches, die Nachbarschaft Chinas
u. dergl. Die Billigkeit gehste ferner, die Abrüstung auf die Flotten zu er¬
strecken. Ein Staat wie Deutschland ohne Kolonien ist naturgemäß mit wenigen
guten Schiffen stärker als Großbritannien mit seinen vielen überseeischen Be¬
sitzungen und einer dreimal stärkern Kriegsflotte. Ein Krieg zwischen England
und Frankreich ist jetzt nicht wahrscheinlich, aber in Zukunft keineswegs un¬
möglich. England würde dann vor allem den Weg nach Indien und Austra¬
lien schützen und seine über alle Meere zerstreuten Kolonien wahren müssen,
und so müßte unser Schiedsrichter, wenn ihm die Macht gegeben wäre, ebenso
wie Abrüstungen, auch Rüstungen zu dekretiren, billigerweise eine Vermehrung
der britischen Flotte anbefehlen.

Eine Nation ist endlich nach Montecuculis Wort nicht bloß stark, wenn
sie viele Soldaten hat, sondern auch wenn sie sich großen Reichtums, der Mittel,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/375>, abgerufen am 03.07.2024.