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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Drei Antworten.

jede Bibliotheksordnung ihre Vorschriften. Die unsrige schreibt vor: "Nicht aus¬
geliehen werden in der Regel: 1. Seltene Inkunabeln und wertvolle Karten-
und Prachtwerke. 2. Noch uneingebundene Bücher, insbesondre einzelne Hefte
oder Nummern von Zeitschriften. 3. Nachschlagewerke, wie Encyclopädien,
Wörterbücher und zur bibliothekarischen Praxis unumgänglich nötige biblio¬
graphische Hilfsmittel. 4. Auf Leihbibliotheken leicht zu erlangende belletristische
Literatur." Man sieht, daß für jede dieser vier Kategorien besondre Gründe
maßgebend gewesen sind. Bei der ersten Kategorie hat namentlich die Mög¬
lichkeit des Verlustes und die Schwierigkeit der Wiederbeschaffung vorgeschwebt.
Leider ist nur diese Schwierigkeit keineswegs bloß bei "seltenen Inkunabeln"
vorhanden. Man kann sagen: Jedes dritte Buch, das auf einer Bibliothek,
welche einen wissenschaftlichen Charakter hat, begehrt wird, würde, wenn es ver¬
loren ginge, entweder gar nicht oder nur mit Mühen und Opfern wieder zu
beschaffen sein. Soll nun der Bibliothekar jedesmal erst entscheiden, ob dieser
Fall vorliege? Wie oft würde auch hier wieder die unangenehme Situation
entstehen, daß der Entleiher sich einbildet, unter der Willkür, der Ungefälligkeit
oder gar der Ignoranz des Bibliothekars zu leiden, wo dieser doch nur nach
seiner besten Überzeugung das Ausleihen eines Buches verweigern müßte.

Nun aber der dritte Punkt, über den auch der Verfasser des Bibliotheks¬
artikels seine Wahrnehmungen gemacht zu haben scheint -- die Behandlung der
ausgeliehenen Bücher! Wie würde er hierüber erst urteilen, wenn er die jahre¬
langen Beobachtungen eines Bibliotheksbeamten seinem Urteil zu Grunde legen
könnte!

Kein Gegenstand ist so empfindlicher Natur -- ich habe ähnliches schon vor
Jahren einmal dem verehrten Publikum in diesen Blättern auseinandergesetzt --,
keiner bittet uns stillschweigend so flehentlich um Schonung wie das Buch, und
doch, mit nichts wird gedankenloser, rücksichtsloser, gewissenloser Verfahren als mit
Büchern, mit fremden Büchern! Die wenigsten Menschen wissen ja ein Buch
auch nur in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Anstatt es aufge¬
schlagen auf die Handfläche zu legen, talpen sie mit beiden Händen zu und
quetschen ihre dicken, klebrigen Daumen unten zu beiden Seiten des Hefts hinein;
die gelben Abdrücke davon kann man in vielverliehenen Bibliotheksbüchern vom
ersten bis zum letzten Blatte verfolgen. Anstatt beim Umwenden oben am Schnitt
die Blätter leise herüberzuschlagen, schieben sie sie unten mit angelecktem Finger
hinüber. Was aber hat das arme Buch sonst noch alles zu leiden! Um es von
einem Platze des Tisches zum andern zu bringen, hebt und legt man es nicht
--- dazu ist, trotz aller Turnerei, das heutige Geschlecht viel zu kraftlos ge¬
worden --, nein, man scheuere es über den Tisch hin. Daß ein schöner, wert¬
voller Franz- oder Halbfranzband dadurch in wenigen Tagen ruinirt ist, kommt
den Leuten nicht in den Sinn. Brauchen sie mehrere Bücher gleichzeitig, so
ist es eine gewöhnliche Unart, daß sie das eine mit seinen doch niemals ganz


Grenzboten II. 1383. 46
Drei Antworten.

jede Bibliotheksordnung ihre Vorschriften. Die unsrige schreibt vor: „Nicht aus¬
geliehen werden in der Regel: 1. Seltene Inkunabeln und wertvolle Karten-
und Prachtwerke. 2. Noch uneingebundene Bücher, insbesondre einzelne Hefte
oder Nummern von Zeitschriften. 3. Nachschlagewerke, wie Encyclopädien,
Wörterbücher und zur bibliothekarischen Praxis unumgänglich nötige biblio¬
graphische Hilfsmittel. 4. Auf Leihbibliotheken leicht zu erlangende belletristische
Literatur." Man sieht, daß für jede dieser vier Kategorien besondre Gründe
maßgebend gewesen sind. Bei der ersten Kategorie hat namentlich die Mög¬
lichkeit des Verlustes und die Schwierigkeit der Wiederbeschaffung vorgeschwebt.
Leider ist nur diese Schwierigkeit keineswegs bloß bei „seltenen Inkunabeln"
vorhanden. Man kann sagen: Jedes dritte Buch, das auf einer Bibliothek,
welche einen wissenschaftlichen Charakter hat, begehrt wird, würde, wenn es ver¬
loren ginge, entweder gar nicht oder nur mit Mühen und Opfern wieder zu
beschaffen sein. Soll nun der Bibliothekar jedesmal erst entscheiden, ob dieser
Fall vorliege? Wie oft würde auch hier wieder die unangenehme Situation
entstehen, daß der Entleiher sich einbildet, unter der Willkür, der Ungefälligkeit
oder gar der Ignoranz des Bibliothekars zu leiden, wo dieser doch nur nach
seiner besten Überzeugung das Ausleihen eines Buches verweigern müßte.

Nun aber der dritte Punkt, über den auch der Verfasser des Bibliotheks¬
artikels seine Wahrnehmungen gemacht zu haben scheint — die Behandlung der
ausgeliehenen Bücher! Wie würde er hierüber erst urteilen, wenn er die jahre¬
langen Beobachtungen eines Bibliotheksbeamten seinem Urteil zu Grunde legen
könnte!

Kein Gegenstand ist so empfindlicher Natur — ich habe ähnliches schon vor
Jahren einmal dem verehrten Publikum in diesen Blättern auseinandergesetzt —,
keiner bittet uns stillschweigend so flehentlich um Schonung wie das Buch, und
doch, mit nichts wird gedankenloser, rücksichtsloser, gewissenloser Verfahren als mit
Büchern, mit fremden Büchern! Die wenigsten Menschen wissen ja ein Buch
auch nur in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Anstatt es aufge¬
schlagen auf die Handfläche zu legen, talpen sie mit beiden Händen zu und
quetschen ihre dicken, klebrigen Daumen unten zu beiden Seiten des Hefts hinein;
die gelben Abdrücke davon kann man in vielverliehenen Bibliotheksbüchern vom
ersten bis zum letzten Blatte verfolgen. Anstatt beim Umwenden oben am Schnitt
die Blätter leise herüberzuschlagen, schieben sie sie unten mit angelecktem Finger
hinüber. Was aber hat das arme Buch sonst noch alles zu leiden! Um es von
einem Platze des Tisches zum andern zu bringen, hebt und legt man es nicht
—- dazu ist, trotz aller Turnerei, das heutige Geschlecht viel zu kraftlos ge¬
worden —, nein, man scheuere es über den Tisch hin. Daß ein schöner, wert¬
voller Franz- oder Halbfranzband dadurch in wenigen Tagen ruinirt ist, kommt
den Leuten nicht in den Sinn. Brauchen sie mehrere Bücher gleichzeitig, so
ist es eine gewöhnliche Unart, daß sie das eine mit seinen doch niemals ganz


Grenzboten II. 1383. 46
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[0361] Drei Antworten. jede Bibliotheksordnung ihre Vorschriften. Die unsrige schreibt vor: „Nicht aus¬ geliehen werden in der Regel: 1. Seltene Inkunabeln und wertvolle Karten- und Prachtwerke. 2. Noch uneingebundene Bücher, insbesondre einzelne Hefte oder Nummern von Zeitschriften. 3. Nachschlagewerke, wie Encyclopädien, Wörterbücher und zur bibliothekarischen Praxis unumgänglich nötige biblio¬ graphische Hilfsmittel. 4. Auf Leihbibliotheken leicht zu erlangende belletristische Literatur." Man sieht, daß für jede dieser vier Kategorien besondre Gründe maßgebend gewesen sind. Bei der ersten Kategorie hat namentlich die Mög¬ lichkeit des Verlustes und die Schwierigkeit der Wiederbeschaffung vorgeschwebt. Leider ist nur diese Schwierigkeit keineswegs bloß bei „seltenen Inkunabeln" vorhanden. Man kann sagen: Jedes dritte Buch, das auf einer Bibliothek, welche einen wissenschaftlichen Charakter hat, begehrt wird, würde, wenn es ver¬ loren ginge, entweder gar nicht oder nur mit Mühen und Opfern wieder zu beschaffen sein. Soll nun der Bibliothekar jedesmal erst entscheiden, ob dieser Fall vorliege? Wie oft würde auch hier wieder die unangenehme Situation entstehen, daß der Entleiher sich einbildet, unter der Willkür, der Ungefälligkeit oder gar der Ignoranz des Bibliothekars zu leiden, wo dieser doch nur nach seiner besten Überzeugung das Ausleihen eines Buches verweigern müßte. Nun aber der dritte Punkt, über den auch der Verfasser des Bibliotheks¬ artikels seine Wahrnehmungen gemacht zu haben scheint — die Behandlung der ausgeliehenen Bücher! Wie würde er hierüber erst urteilen, wenn er die jahre¬ langen Beobachtungen eines Bibliotheksbeamten seinem Urteil zu Grunde legen könnte! Kein Gegenstand ist so empfindlicher Natur — ich habe ähnliches schon vor Jahren einmal dem verehrten Publikum in diesen Blättern auseinandergesetzt —, keiner bittet uns stillschweigend so flehentlich um Schonung wie das Buch, und doch, mit nichts wird gedankenloser, rücksichtsloser, gewissenloser Verfahren als mit Büchern, mit fremden Büchern! Die wenigsten Menschen wissen ja ein Buch auch nur in die Hand zu nehmen und darin zu blättern. Anstatt es aufge¬ schlagen auf die Handfläche zu legen, talpen sie mit beiden Händen zu und quetschen ihre dicken, klebrigen Daumen unten zu beiden Seiten des Hefts hinein; die gelben Abdrücke davon kann man in vielverliehenen Bibliotheksbüchern vom ersten bis zum letzten Blatte verfolgen. Anstatt beim Umwenden oben am Schnitt die Blätter leise herüberzuschlagen, schieben sie sie unten mit angelecktem Finger hinüber. Was aber hat das arme Buch sonst noch alles zu leiden! Um es von einem Platze des Tisches zum andern zu bringen, hebt und legt man es nicht —- dazu ist, trotz aller Turnerei, das heutige Geschlecht viel zu kraftlos ge¬ worden —, nein, man scheuere es über den Tisch hin. Daß ein schöner, wert¬ voller Franz- oder Halbfranzband dadurch in wenigen Tagen ruinirt ist, kommt den Leuten nicht in den Sinn. Brauchen sie mehrere Bücher gleichzeitig, so ist es eine gewöhnliche Unart, daß sie das eine mit seinen doch niemals ganz Grenzboten II. 1383. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/361>, abgerufen am 22.07.2024.