Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Pomxejanische Spaziergänge.

griff zu machen. Dasselbe ist der Fall mit einem Gemälde, das noch be¬
rühmter war als das des Niklas. Zwei kleine Fresken aus Pompeji zeigen
die Medea, im Begriff ihre Kinder zu töten. Alle Beurteiler nehmen überein¬
stimmend an, daß es Nachahmungen, freilich sehr unvollkommene, eines Meister¬
werkes des Timomachos seien. Neben Medea stehen ihre beiden Söhne und
spielen mit Würfeln unter Aufsicht ihres Pädagogen. Dieser dramatische Zug,
der ergreifende Gegensatz zwischen der sorglosen Freude der Kinder und dem
schrecklichen Vorhaben der Mutter, gehört offenbar dem Originalbilde an. Alles
übrige in den pompejanischen Fresken ist weniger glücklich; besonders der Ge¬
stalt der Medea sehlt es an Charakter. Zum Glück hat sich in Herculaneum
eine Medea gefunden, eine umfangreichere und auch talentvollere Darstellung.
Diesmal ist sie allein, ohne ihre Kinder; der Mund ist halb offen, die Augen
sind irre und wild,*) die Finger umklammern krampfhaft den Griff des Schwertes;
sie scheint die Beute unsäglichen Schmerzes. Diese Figur, eine der schönsten,
die uns aus dem Altertum erhalten sind, ist sicherlich die Konzeption eines
genialen Malers, die Kopisten von Pompeji hätten sie nicht erfunden; wir
spüren die Meisterhand. Stellen wir nun neben diese Medea aus Herculaneum
die Kindergruppe der pompejanischen Fresken, so haben wir höchst wahrscheinlich
das ganze Bild des Timomachos beisammen.**)

So hat sich denn in diesem Winkel Italiens eine ganze bedeutsame Epoche
der griechischen Kunst für uns erhalten. Unser Vergnügen bei der Betrachtung
dieser Wandgemälde steigert sich, wenn wir daran denken, daß sie uns eine große
Malerschule allein noch vor Augen stellen -- womit nicht gesagt sein soll, daß
sie weiter kein Interesse für uns haben, als daß sie uns an Verlorne Meister¬
werke erinnern, und nicht auch um ihrer selbst studirt zu werdeu verdienen.
Durch die beständige Wiederholung der Bezeichnungen "Nachahmer" und "Ko¬
pisten" wird, fürchte ich, das Verdienst dieser unbekannten Künstler leicht allzu
tief herabgedrückt. Denn wir werden ihnen keineswegs gerecht, wenn wir sie
einfach nur Dekorateure nennen und besonders wenn wir sie mit unsern heutigen
Dekorateuren auf eine Stufe stellen. Freilich ahmten sie nach, aber sie thaten
es mit einer gewissen Unabhängigkeit; sie waren nicht gänzlich die Sklaven ihrer
Vorbilder; sie gaben dieselben frei wieder und zögerten nicht, sie nach den Be¬
dingungen der Örtlichkeit, die sie auszumalen hatten, oder nach der Geistes¬
richtung des Herrn zu behandeln, den es galt zufriedenzustellen. Dies ergiebt
sich mit Sicherheit daraus, daß sich in Pompeji eine große Menge von Wieder¬
holungen findet, die offenbar sämtlich auf dasselbe Original zurückgehen, ohne




*) Vgl. Ovid, Irist. II, S26: oans ovulis tÄomus dö,rburk ins-lor Jodok. Vielleicht
schwebt ihm das Bild vor, von dem hier die 'Rede ist.
Es steht fest, daß die zum Schmuck einer sehr schmalen Wandfläche bestimmte
Medea von Herculaneum uur ein Teil eines umfangreichern Fresko ist. Das ursprüng¬
liche Bild zeigte wahrscheinlich auch die Kinder und ihren Lehrer.
Pomxejanische Spaziergänge.

griff zu machen. Dasselbe ist der Fall mit einem Gemälde, das noch be¬
rühmter war als das des Niklas. Zwei kleine Fresken aus Pompeji zeigen
die Medea, im Begriff ihre Kinder zu töten. Alle Beurteiler nehmen überein¬
stimmend an, daß es Nachahmungen, freilich sehr unvollkommene, eines Meister¬
werkes des Timomachos seien. Neben Medea stehen ihre beiden Söhne und
spielen mit Würfeln unter Aufsicht ihres Pädagogen. Dieser dramatische Zug,
der ergreifende Gegensatz zwischen der sorglosen Freude der Kinder und dem
schrecklichen Vorhaben der Mutter, gehört offenbar dem Originalbilde an. Alles
übrige in den pompejanischen Fresken ist weniger glücklich; besonders der Ge¬
stalt der Medea sehlt es an Charakter. Zum Glück hat sich in Herculaneum
eine Medea gefunden, eine umfangreichere und auch talentvollere Darstellung.
Diesmal ist sie allein, ohne ihre Kinder; der Mund ist halb offen, die Augen
sind irre und wild,*) die Finger umklammern krampfhaft den Griff des Schwertes;
sie scheint die Beute unsäglichen Schmerzes. Diese Figur, eine der schönsten,
die uns aus dem Altertum erhalten sind, ist sicherlich die Konzeption eines
genialen Malers, die Kopisten von Pompeji hätten sie nicht erfunden; wir
spüren die Meisterhand. Stellen wir nun neben diese Medea aus Herculaneum
die Kindergruppe der pompejanischen Fresken, so haben wir höchst wahrscheinlich
das ganze Bild des Timomachos beisammen.**)

So hat sich denn in diesem Winkel Italiens eine ganze bedeutsame Epoche
der griechischen Kunst für uns erhalten. Unser Vergnügen bei der Betrachtung
dieser Wandgemälde steigert sich, wenn wir daran denken, daß sie uns eine große
Malerschule allein noch vor Augen stellen — womit nicht gesagt sein soll, daß
sie weiter kein Interesse für uns haben, als daß sie uns an Verlorne Meister¬
werke erinnern, und nicht auch um ihrer selbst studirt zu werdeu verdienen.
Durch die beständige Wiederholung der Bezeichnungen „Nachahmer" und „Ko¬
pisten" wird, fürchte ich, das Verdienst dieser unbekannten Künstler leicht allzu
tief herabgedrückt. Denn wir werden ihnen keineswegs gerecht, wenn wir sie
einfach nur Dekorateure nennen und besonders wenn wir sie mit unsern heutigen
Dekorateuren auf eine Stufe stellen. Freilich ahmten sie nach, aber sie thaten
es mit einer gewissen Unabhängigkeit; sie waren nicht gänzlich die Sklaven ihrer
Vorbilder; sie gaben dieselben frei wieder und zögerten nicht, sie nach den Be¬
dingungen der Örtlichkeit, die sie auszumalen hatten, oder nach der Geistes¬
richtung des Herrn zu behandeln, den es galt zufriedenzustellen. Dies ergiebt
sich mit Sicherheit daraus, daß sich in Pompeji eine große Menge von Wieder¬
holungen findet, die offenbar sämtlich auf dasselbe Original zurückgehen, ohne




*) Vgl. Ovid, Irist. II, S26: oans ovulis tÄomus dö,rburk ins-lor Jodok. Vielleicht
schwebt ihm das Bild vor, von dem hier die 'Rede ist.
Es steht fest, daß die zum Schmuck einer sehr schmalen Wandfläche bestimmte
Medea von Herculaneum uur ein Teil eines umfangreichern Fresko ist. Das ursprüng¬
liche Bild zeigte wahrscheinlich auch die Kinder und ihren Lehrer.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0350" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153099"/>
          <fw type="header" place="top"> Pomxejanische Spaziergänge.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1377" prev="#ID_1376"> griff zu machen. Dasselbe ist der Fall mit einem Gemälde, das noch be¬<lb/>
rühmter war als das des Niklas. Zwei kleine Fresken aus Pompeji zeigen<lb/>
die Medea, im Begriff ihre Kinder zu töten. Alle Beurteiler nehmen überein¬<lb/>
stimmend an, daß es Nachahmungen, freilich sehr unvollkommene, eines Meister¬<lb/>
werkes des Timomachos seien. Neben Medea stehen ihre beiden Söhne und<lb/>
spielen mit Würfeln unter Aufsicht ihres Pädagogen. Dieser dramatische Zug,<lb/>
der ergreifende Gegensatz zwischen der sorglosen Freude der Kinder und dem<lb/>
schrecklichen Vorhaben der Mutter, gehört offenbar dem Originalbilde an. Alles<lb/>
übrige in den pompejanischen Fresken ist weniger glücklich; besonders der Ge¬<lb/>
stalt der Medea sehlt es an Charakter. Zum Glück hat sich in Herculaneum<lb/>
eine Medea gefunden, eine umfangreichere und auch talentvollere Darstellung.<lb/>
Diesmal ist sie allein, ohne ihre Kinder; der Mund ist halb offen, die Augen<lb/>
sind irre und wild,*) die Finger umklammern krampfhaft den Griff des Schwertes;<lb/>
sie scheint die Beute unsäglichen Schmerzes. Diese Figur, eine der schönsten,<lb/>
die uns aus dem Altertum erhalten sind, ist sicherlich die Konzeption eines<lb/>
genialen Malers, die Kopisten von Pompeji hätten sie nicht erfunden; wir<lb/>
spüren die Meisterhand. Stellen wir nun neben diese Medea aus Herculaneum<lb/>
die Kindergruppe der pompejanischen Fresken, so haben wir höchst wahrscheinlich<lb/>
das ganze Bild des Timomachos beisammen.**)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1378" next="#ID_1379"> So hat sich denn in diesem Winkel Italiens eine ganze bedeutsame Epoche<lb/>
der griechischen Kunst für uns erhalten. Unser Vergnügen bei der Betrachtung<lb/>
dieser Wandgemälde steigert sich, wenn wir daran denken, daß sie uns eine große<lb/>
Malerschule allein noch vor Augen stellen &#x2014; womit nicht gesagt sein soll, daß<lb/>
sie weiter kein Interesse für uns haben, als daß sie uns an Verlorne Meister¬<lb/>
werke erinnern, und nicht auch um ihrer selbst studirt zu werdeu verdienen.<lb/>
Durch die beständige Wiederholung der Bezeichnungen &#x201E;Nachahmer" und &#x201E;Ko¬<lb/>
pisten" wird, fürchte ich, das Verdienst dieser unbekannten Künstler leicht allzu<lb/>
tief herabgedrückt. Denn wir werden ihnen keineswegs gerecht, wenn wir sie<lb/>
einfach nur Dekorateure nennen und besonders wenn wir sie mit unsern heutigen<lb/>
Dekorateuren auf eine Stufe stellen. Freilich ahmten sie nach, aber sie thaten<lb/>
es mit einer gewissen Unabhängigkeit; sie waren nicht gänzlich die Sklaven ihrer<lb/>
Vorbilder; sie gaben dieselben frei wieder und zögerten nicht, sie nach den Be¬<lb/>
dingungen der Örtlichkeit, die sie auszumalen hatten, oder nach der Geistes¬<lb/>
richtung des Herrn zu behandeln, den es galt zufriedenzustellen. Dies ergiebt<lb/>
sich mit Sicherheit daraus, daß sich in Pompeji eine große Menge von Wieder¬<lb/>
holungen findet, die offenbar sämtlich auf dasselbe Original zurückgehen, ohne</p><lb/>
          <note xml:id="FID_71" place="foot"> *) Vgl. Ovid, Irist. II, S26: oans ovulis tÄomus dö,rburk ins-lor Jodok. Vielleicht<lb/>
schwebt ihm das Bild vor, von dem hier die 'Rede ist.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_72" place="foot"> Es steht fest, daß die zum Schmuck einer sehr schmalen Wandfläche bestimmte<lb/>
Medea von Herculaneum uur ein Teil eines umfangreichern Fresko ist. Das ursprüng¬<lb/>
liche Bild zeigte wahrscheinlich auch die Kinder und ihren Lehrer.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0350] Pomxejanische Spaziergänge. griff zu machen. Dasselbe ist der Fall mit einem Gemälde, das noch be¬ rühmter war als das des Niklas. Zwei kleine Fresken aus Pompeji zeigen die Medea, im Begriff ihre Kinder zu töten. Alle Beurteiler nehmen überein¬ stimmend an, daß es Nachahmungen, freilich sehr unvollkommene, eines Meister¬ werkes des Timomachos seien. Neben Medea stehen ihre beiden Söhne und spielen mit Würfeln unter Aufsicht ihres Pädagogen. Dieser dramatische Zug, der ergreifende Gegensatz zwischen der sorglosen Freude der Kinder und dem schrecklichen Vorhaben der Mutter, gehört offenbar dem Originalbilde an. Alles übrige in den pompejanischen Fresken ist weniger glücklich; besonders der Ge¬ stalt der Medea sehlt es an Charakter. Zum Glück hat sich in Herculaneum eine Medea gefunden, eine umfangreichere und auch talentvollere Darstellung. Diesmal ist sie allein, ohne ihre Kinder; der Mund ist halb offen, die Augen sind irre und wild,*) die Finger umklammern krampfhaft den Griff des Schwertes; sie scheint die Beute unsäglichen Schmerzes. Diese Figur, eine der schönsten, die uns aus dem Altertum erhalten sind, ist sicherlich die Konzeption eines genialen Malers, die Kopisten von Pompeji hätten sie nicht erfunden; wir spüren die Meisterhand. Stellen wir nun neben diese Medea aus Herculaneum die Kindergruppe der pompejanischen Fresken, so haben wir höchst wahrscheinlich das ganze Bild des Timomachos beisammen.**) So hat sich denn in diesem Winkel Italiens eine ganze bedeutsame Epoche der griechischen Kunst für uns erhalten. Unser Vergnügen bei der Betrachtung dieser Wandgemälde steigert sich, wenn wir daran denken, daß sie uns eine große Malerschule allein noch vor Augen stellen — womit nicht gesagt sein soll, daß sie weiter kein Interesse für uns haben, als daß sie uns an Verlorne Meister¬ werke erinnern, und nicht auch um ihrer selbst studirt zu werdeu verdienen. Durch die beständige Wiederholung der Bezeichnungen „Nachahmer" und „Ko¬ pisten" wird, fürchte ich, das Verdienst dieser unbekannten Künstler leicht allzu tief herabgedrückt. Denn wir werden ihnen keineswegs gerecht, wenn wir sie einfach nur Dekorateure nennen und besonders wenn wir sie mit unsern heutigen Dekorateuren auf eine Stufe stellen. Freilich ahmten sie nach, aber sie thaten es mit einer gewissen Unabhängigkeit; sie waren nicht gänzlich die Sklaven ihrer Vorbilder; sie gaben dieselben frei wieder und zögerten nicht, sie nach den Be¬ dingungen der Örtlichkeit, die sie auszumalen hatten, oder nach der Geistes¬ richtung des Herrn zu behandeln, den es galt zufriedenzustellen. Dies ergiebt sich mit Sicherheit daraus, daß sich in Pompeji eine große Menge von Wieder¬ holungen findet, die offenbar sämtlich auf dasselbe Original zurückgehen, ohne *) Vgl. Ovid, Irist. II, S26: oans ovulis tÄomus dö,rburk ins-lor Jodok. Vielleicht schwebt ihm das Bild vor, von dem hier die 'Rede ist. Es steht fest, daß die zum Schmuck einer sehr schmalen Wandfläche bestimmte Medea von Herculaneum uur ein Teil eines umfangreichern Fresko ist. Das ursprüng¬ liche Bild zeigte wahrscheinlich auch die Kinder und ihren Lehrer.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/350
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/350>, abgerufen am 01.07.2024.