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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Pompesanische Spaziergänge.

Weil ich aber eben vom Christentum gesprochen und darauf hingewiesen
habe, daß jene noch immer unverminderte Neigung zu dem alten Götterglauben
seinen Fortschritten hinderlich sein mußte, so muß hinzugefügt werden, daß das
Christentum die Schwere dieses Hindernisses vermindern konnte, wenn es zeigte,
was aus der Mythologie geworden war, und wenn es verkündete, sie sei nur
noch eine Schule der Unsittlichkeit, Daß es dies nach Kräften gethan hat, kann
"ran sich leicht denken. Gelehrte Kritiker haben in unsern Tagen die Kirchen¬
väter der Unwissenheit oder der Verläumdung angeklagt, weil sie über die Lieb¬
schaften der Götter spotten und behaupten, alle diese Abenteuer, die man ihnen
zuschreibt, seien nur die Verherrlichung der schändlichsten Leidenschaften des
Menschen. Sie wenden ein, diese Fabeln hätten einen tieferen Sinn, schlössen
große Wahrheiten ein und seien in Wirklichkeit nur eine allegorische Erklärung
der wichtigsten Naturphänomene. Dies ist unzweifelhaft richtig, so weit man
dabei an die Mythologie der Urzeiten denkt, aber ebenso gewiß ist es, daß die
des ersten Jahrhunderts, wenigstens im Geiste der vornehmen Gesellschaft, diesen
Charakter nicht mehr besaß. Die Leute, welche sich in ihren Häusern die Lieb¬
schaften des Jupiter mit Danae oder Ganymedes an die Wand malen ließen,
waren leine Weisen, die eine kosmogonische Vorstellung verkörpern wollten: es
waren Wollüstlinge, die sich zum Genusse aufzuregen oder mit einem angenehmen
Bilde ihr Auge zu erfreuen wünschten. Auch nicht im entferntesten ist hier an
eine mythische oder allegorische Absicht zu denken; einzig und allein das mensch¬
liche Leben ist hier geschildert, und nichts weiter bezweckt der Maler als die
Darstellung von Liebesszenen zum größeren Vergnügen der Liebenden. Es war
also uicht möglich, die christlichen Doktoren zu widerlegen, wenn sie die Unsittlich¬
keit der Mythologie so heftig angriffen, und diejenigen, welche ihren Schmähungen
zuhörten, brauchten bloß ihre Augen zu den Wänden ihrer Häuser zu erheben,
um zu erkennen, daß sie im Grunde nicht so Unrecht hatten.

Die übrigen Wandgemälde sind teils Thierdarstellungen und Stillleben,
teils Landschaften, teils Genrebilder.^) Diese letzteren sind sehr interessant und
leisten uns große Dienste. Sie sind es auch, die wir mit der größten Teilnahme
betrachten, wenn wir Pompeji durchwandern. Da sie wirkliche Vorgänge und
lebende Personen darstellen, scheinen sie die öde Stadt zu beseelen und ihr die
Bewohner wiederzugeben, die sie verloren hat; aber keine dieser verschiedenen
Klassen, in die man die pompejanischen Wandgemälde einteilen kann, läßt sich
sowohl hinsichtlich des Talentes der Maler als auch hinsichtlich der Zahl der



Die Genrebilder teilt Helbig in zwei Klassen: zuerst komme ii diejenige", in welchen
wir eine gewisse Mischung realistischer und idealer Elemente wahrnehmen, z. B. Eros auf
der Jagd, Liebesgötter äugelnd oder bei der Weinlese, Frauen bei der Toilette mit kleinen
Liebesgöttern, die ihnen dabei helfen, u. s. w.; dann die völlig realistischen Stücke, Szenen aus
dem täglichen Leben der Pompejaner ohne den Versuch der Verschönerung. Von diesen
letzteren wird bei der Besprechung der Genrebilder vornehmlich die Rede sein.
Pompesanische Spaziergänge.

Weil ich aber eben vom Christentum gesprochen und darauf hingewiesen
habe, daß jene noch immer unverminderte Neigung zu dem alten Götterglauben
seinen Fortschritten hinderlich sein mußte, so muß hinzugefügt werden, daß das
Christentum die Schwere dieses Hindernisses vermindern konnte, wenn es zeigte,
was aus der Mythologie geworden war, und wenn es verkündete, sie sei nur
noch eine Schule der Unsittlichkeit, Daß es dies nach Kräften gethan hat, kann
»ran sich leicht denken. Gelehrte Kritiker haben in unsern Tagen die Kirchen¬
väter der Unwissenheit oder der Verläumdung angeklagt, weil sie über die Lieb¬
schaften der Götter spotten und behaupten, alle diese Abenteuer, die man ihnen
zuschreibt, seien nur die Verherrlichung der schändlichsten Leidenschaften des
Menschen. Sie wenden ein, diese Fabeln hätten einen tieferen Sinn, schlössen
große Wahrheiten ein und seien in Wirklichkeit nur eine allegorische Erklärung
der wichtigsten Naturphänomene. Dies ist unzweifelhaft richtig, so weit man
dabei an die Mythologie der Urzeiten denkt, aber ebenso gewiß ist es, daß die
des ersten Jahrhunderts, wenigstens im Geiste der vornehmen Gesellschaft, diesen
Charakter nicht mehr besaß. Die Leute, welche sich in ihren Häusern die Lieb¬
schaften des Jupiter mit Danae oder Ganymedes an die Wand malen ließen,
waren leine Weisen, die eine kosmogonische Vorstellung verkörpern wollten: es
waren Wollüstlinge, die sich zum Genusse aufzuregen oder mit einem angenehmen
Bilde ihr Auge zu erfreuen wünschten. Auch nicht im entferntesten ist hier an
eine mythische oder allegorische Absicht zu denken; einzig und allein das mensch¬
liche Leben ist hier geschildert, und nichts weiter bezweckt der Maler als die
Darstellung von Liebesszenen zum größeren Vergnügen der Liebenden. Es war
also uicht möglich, die christlichen Doktoren zu widerlegen, wenn sie die Unsittlich¬
keit der Mythologie so heftig angriffen, und diejenigen, welche ihren Schmähungen
zuhörten, brauchten bloß ihre Augen zu den Wänden ihrer Häuser zu erheben,
um zu erkennen, daß sie im Grunde nicht so Unrecht hatten.

Die übrigen Wandgemälde sind teils Thierdarstellungen und Stillleben,
teils Landschaften, teils Genrebilder.^) Diese letzteren sind sehr interessant und
leisten uns große Dienste. Sie sind es auch, die wir mit der größten Teilnahme
betrachten, wenn wir Pompeji durchwandern. Da sie wirkliche Vorgänge und
lebende Personen darstellen, scheinen sie die öde Stadt zu beseelen und ihr die
Bewohner wiederzugeben, die sie verloren hat; aber keine dieser verschiedenen
Klassen, in die man die pompejanischen Wandgemälde einteilen kann, läßt sich
sowohl hinsichtlich des Talentes der Maler als auch hinsichtlich der Zahl der



Die Genrebilder teilt Helbig in zwei Klassen: zuerst komme ii diejenige», in welchen
wir eine gewisse Mischung realistischer und idealer Elemente wahrnehmen, z. B. Eros auf
der Jagd, Liebesgötter äugelnd oder bei der Weinlese, Frauen bei der Toilette mit kleinen
Liebesgöttern, die ihnen dabei helfen, u. s. w.; dann die völlig realistischen Stücke, Szenen aus
dem täglichen Leben der Pompejaner ohne den Versuch der Verschönerung. Von diesen
letzteren wird bei der Besprechung der Genrebilder vornehmlich die Rede sein.
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[0301] Pompesanische Spaziergänge. Weil ich aber eben vom Christentum gesprochen und darauf hingewiesen habe, daß jene noch immer unverminderte Neigung zu dem alten Götterglauben seinen Fortschritten hinderlich sein mußte, so muß hinzugefügt werden, daß das Christentum die Schwere dieses Hindernisses vermindern konnte, wenn es zeigte, was aus der Mythologie geworden war, und wenn es verkündete, sie sei nur noch eine Schule der Unsittlichkeit, Daß es dies nach Kräften gethan hat, kann »ran sich leicht denken. Gelehrte Kritiker haben in unsern Tagen die Kirchen¬ väter der Unwissenheit oder der Verläumdung angeklagt, weil sie über die Lieb¬ schaften der Götter spotten und behaupten, alle diese Abenteuer, die man ihnen zuschreibt, seien nur die Verherrlichung der schändlichsten Leidenschaften des Menschen. Sie wenden ein, diese Fabeln hätten einen tieferen Sinn, schlössen große Wahrheiten ein und seien in Wirklichkeit nur eine allegorische Erklärung der wichtigsten Naturphänomene. Dies ist unzweifelhaft richtig, so weit man dabei an die Mythologie der Urzeiten denkt, aber ebenso gewiß ist es, daß die des ersten Jahrhunderts, wenigstens im Geiste der vornehmen Gesellschaft, diesen Charakter nicht mehr besaß. Die Leute, welche sich in ihren Häusern die Lieb¬ schaften des Jupiter mit Danae oder Ganymedes an die Wand malen ließen, waren leine Weisen, die eine kosmogonische Vorstellung verkörpern wollten: es waren Wollüstlinge, die sich zum Genusse aufzuregen oder mit einem angenehmen Bilde ihr Auge zu erfreuen wünschten. Auch nicht im entferntesten ist hier an eine mythische oder allegorische Absicht zu denken; einzig und allein das mensch¬ liche Leben ist hier geschildert, und nichts weiter bezweckt der Maler als die Darstellung von Liebesszenen zum größeren Vergnügen der Liebenden. Es war also uicht möglich, die christlichen Doktoren zu widerlegen, wenn sie die Unsittlich¬ keit der Mythologie so heftig angriffen, und diejenigen, welche ihren Schmähungen zuhörten, brauchten bloß ihre Augen zu den Wänden ihrer Häuser zu erheben, um zu erkennen, daß sie im Grunde nicht so Unrecht hatten. Die übrigen Wandgemälde sind teils Thierdarstellungen und Stillleben, teils Landschaften, teils Genrebilder.^) Diese letzteren sind sehr interessant und leisten uns große Dienste. Sie sind es auch, die wir mit der größten Teilnahme betrachten, wenn wir Pompeji durchwandern. Da sie wirkliche Vorgänge und lebende Personen darstellen, scheinen sie die öde Stadt zu beseelen und ihr die Bewohner wiederzugeben, die sie verloren hat; aber keine dieser verschiedenen Klassen, in die man die pompejanischen Wandgemälde einteilen kann, läßt sich sowohl hinsichtlich des Talentes der Maler als auch hinsichtlich der Zahl der Die Genrebilder teilt Helbig in zwei Klassen: zuerst komme ii diejenige», in welchen wir eine gewisse Mischung realistischer und idealer Elemente wahrnehmen, z. B. Eros auf der Jagd, Liebesgötter äugelnd oder bei der Weinlese, Frauen bei der Toilette mit kleinen Liebesgöttern, die ihnen dabei helfen, u. s. w.; dann die völlig realistischen Stücke, Szenen aus dem täglichen Leben der Pompejaner ohne den Versuch der Verschönerung. Von diesen letzteren wird bei der Besprechung der Genrebilder vornehmlich die Rede sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/301>, abgerufen am 26.06.2024.