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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Das Problem des Lebens.

s ist kein Paradoxon, wenn man behauptet, daß der Fortschritt
der Wissenschaft nicht darin bestehe, Rätsel zu lösen, sondern in
jedem Rätsel neue Probleme zu entdecken. Die Geschichte der
Philosophie beweist das, wie die Geschichte jeder Wissenschaft.
Die alten Fragen, welche das philosophische Denken seit jenem
Tage beschäftigten, wo der Mensch anfing, über seine Stellung und Bedeutung
im Laufe der Dinge nachzugrübeln, sie sind auch jetzt noch ungelöst, nur ihre
Form hat sich in der Entwicklung des spekulativen Sinnes je nach dem Stand¬
punkte, von dem aus man sie betrachtete, vielfach geändert, und wenn es auch
nach wie vor die Aufgabe der Philosophie geblieben ist, die letzten Gründe des
Seins und Erkennens aufzudecken, das einzige wahrhafte Resultat, das sie von
den Eleaten bis auf Kant zu verzeichnen hat, ist nur die Darlegung der un¬
endlichen Schwierigkeiten, auf welche die Versuche zur Lösung dieser Aufgabe
gestoßen sind. Man kann es daher sehr wohl verstehen, wenn einerseits immer
und immer wieder jeder Aufschwung der Spekulation mit dem äußersten Skep¬
tizismus und vollständiger Indifferenz diesen höchsten Fragen gegenüber endete,
und wenn andrerseits diejenige Richtung, welche sie nicht fallen lassen wollte,
ihre Beantwortung von ganz andern Methoden und Untersuchungen erwartete,
von Untersuchungen, die, auf alle abstrakten Prinzipien verzichtend, bisher unsre
Kenntnis von der Welt und ihren Verhältnissen im höchsten Maße bereichert
hatten. Gerade dies hat der Naturwissenschaft für philosophische Fragen eine
ungemeine Bedeutung verliehen, die indessen vielfach überschätzt wird, am meisten
natürlich von den Naturforschern selbst. Durch ihre Erfolge kühn geworden,
suchte sie den Kreis ihres Gebietes stetig zu erweitern, trachtete sie darnach, nicht
nur die Verhältnisse, sondern das Wesen und Prinzip der Welt in fortgesetzter
Analyse zu erforschen. Sie kümmerte sich dabei nicht um logische und erkenntnis¬
theoretische Untersuchungen, sie operirte einzig und allein mit dem Bewußtsein,
daß in einem Problem alle Probleme steckten und daß daher die Lösung aller
aus der Lösung eines einzigen sehr gut abgeleitet werden könne. Was man
am kleinsten Ende entdeckte, mußte auch am größten wirksam sein; die Kraft,
welche den Stein zur Erde zieht, bewegt auch die Planeten in ihren Bahnen.
Ihr erstes Bemühen war daher, Thatsachen festzustellen, ihr zweites, diese That¬
sachen in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Was sie groß gemacht
hat, sind die auf das Experiment gestützten Beobachtungen und die aus der
Beobachtung gewonnenen Schlüsse, die sie durch Analogie auf andre Thatsachen
übertrug. Dies ist die Grundlage des Positivismus. Mit ihm gewannen die


Das Problem des Lebens.

s ist kein Paradoxon, wenn man behauptet, daß der Fortschritt
der Wissenschaft nicht darin bestehe, Rätsel zu lösen, sondern in
jedem Rätsel neue Probleme zu entdecken. Die Geschichte der
Philosophie beweist das, wie die Geschichte jeder Wissenschaft.
Die alten Fragen, welche das philosophische Denken seit jenem
Tage beschäftigten, wo der Mensch anfing, über seine Stellung und Bedeutung
im Laufe der Dinge nachzugrübeln, sie sind auch jetzt noch ungelöst, nur ihre
Form hat sich in der Entwicklung des spekulativen Sinnes je nach dem Stand¬
punkte, von dem aus man sie betrachtete, vielfach geändert, und wenn es auch
nach wie vor die Aufgabe der Philosophie geblieben ist, die letzten Gründe des
Seins und Erkennens aufzudecken, das einzige wahrhafte Resultat, das sie von
den Eleaten bis auf Kant zu verzeichnen hat, ist nur die Darlegung der un¬
endlichen Schwierigkeiten, auf welche die Versuche zur Lösung dieser Aufgabe
gestoßen sind. Man kann es daher sehr wohl verstehen, wenn einerseits immer
und immer wieder jeder Aufschwung der Spekulation mit dem äußersten Skep¬
tizismus und vollständiger Indifferenz diesen höchsten Fragen gegenüber endete,
und wenn andrerseits diejenige Richtung, welche sie nicht fallen lassen wollte,
ihre Beantwortung von ganz andern Methoden und Untersuchungen erwartete,
von Untersuchungen, die, auf alle abstrakten Prinzipien verzichtend, bisher unsre
Kenntnis von der Welt und ihren Verhältnissen im höchsten Maße bereichert
hatten. Gerade dies hat der Naturwissenschaft für philosophische Fragen eine
ungemeine Bedeutung verliehen, die indessen vielfach überschätzt wird, am meisten
natürlich von den Naturforschern selbst. Durch ihre Erfolge kühn geworden,
suchte sie den Kreis ihres Gebietes stetig zu erweitern, trachtete sie darnach, nicht
nur die Verhältnisse, sondern das Wesen und Prinzip der Welt in fortgesetzter
Analyse zu erforschen. Sie kümmerte sich dabei nicht um logische und erkenntnis¬
theoretische Untersuchungen, sie operirte einzig und allein mit dem Bewußtsein,
daß in einem Problem alle Probleme steckten und daß daher die Lösung aller
aus der Lösung eines einzigen sehr gut abgeleitet werden könne. Was man
am kleinsten Ende entdeckte, mußte auch am größten wirksam sein; die Kraft,
welche den Stein zur Erde zieht, bewegt auch die Planeten in ihren Bahnen.
Ihr erstes Bemühen war daher, Thatsachen festzustellen, ihr zweites, diese That¬
sachen in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Was sie groß gemacht
hat, sind die auf das Experiment gestützten Beobachtungen und die aus der
Beobachtung gewonnenen Schlüsse, die sie durch Analogie auf andre Thatsachen
übertrug. Dies ist die Grundlage des Positivismus. Mit ihm gewannen die


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[0290] Das Problem des Lebens. s ist kein Paradoxon, wenn man behauptet, daß der Fortschritt der Wissenschaft nicht darin bestehe, Rätsel zu lösen, sondern in jedem Rätsel neue Probleme zu entdecken. Die Geschichte der Philosophie beweist das, wie die Geschichte jeder Wissenschaft. Die alten Fragen, welche das philosophische Denken seit jenem Tage beschäftigten, wo der Mensch anfing, über seine Stellung und Bedeutung im Laufe der Dinge nachzugrübeln, sie sind auch jetzt noch ungelöst, nur ihre Form hat sich in der Entwicklung des spekulativen Sinnes je nach dem Stand¬ punkte, von dem aus man sie betrachtete, vielfach geändert, und wenn es auch nach wie vor die Aufgabe der Philosophie geblieben ist, die letzten Gründe des Seins und Erkennens aufzudecken, das einzige wahrhafte Resultat, das sie von den Eleaten bis auf Kant zu verzeichnen hat, ist nur die Darlegung der un¬ endlichen Schwierigkeiten, auf welche die Versuche zur Lösung dieser Aufgabe gestoßen sind. Man kann es daher sehr wohl verstehen, wenn einerseits immer und immer wieder jeder Aufschwung der Spekulation mit dem äußersten Skep¬ tizismus und vollständiger Indifferenz diesen höchsten Fragen gegenüber endete, und wenn andrerseits diejenige Richtung, welche sie nicht fallen lassen wollte, ihre Beantwortung von ganz andern Methoden und Untersuchungen erwartete, von Untersuchungen, die, auf alle abstrakten Prinzipien verzichtend, bisher unsre Kenntnis von der Welt und ihren Verhältnissen im höchsten Maße bereichert hatten. Gerade dies hat der Naturwissenschaft für philosophische Fragen eine ungemeine Bedeutung verliehen, die indessen vielfach überschätzt wird, am meisten natürlich von den Naturforschern selbst. Durch ihre Erfolge kühn geworden, suchte sie den Kreis ihres Gebietes stetig zu erweitern, trachtete sie darnach, nicht nur die Verhältnisse, sondern das Wesen und Prinzip der Welt in fortgesetzter Analyse zu erforschen. Sie kümmerte sich dabei nicht um logische und erkenntnis¬ theoretische Untersuchungen, sie operirte einzig und allein mit dem Bewußtsein, daß in einem Problem alle Probleme steckten und daß daher die Lösung aller aus der Lösung eines einzigen sehr gut abgeleitet werden könne. Was man am kleinsten Ende entdeckte, mußte auch am größten wirksam sein; die Kraft, welche den Stein zur Erde zieht, bewegt auch die Planeten in ihren Bahnen. Ihr erstes Bemühen war daher, Thatsachen festzustellen, ihr zweites, diese That¬ sachen in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Was sie groß gemacht hat, sind die auf das Experiment gestützten Beobachtungen und die aus der Beobachtung gewonnenen Schlüsse, die sie durch Analogie auf andre Thatsachen übertrug. Dies ist die Grundlage des Positivismus. Mit ihm gewannen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/290>, abgerufen am 24.08.2024.