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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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genommen, daß er es, wie sie dachte, vielleicht noch nicht bemerkt hatte; oder
vielleicht scheute er sich auch, die Sache von neuem zu berühren. Dorothea
wollte auch hierin die Politik des AbWartens befolgen.

Was aber Graf Dietrich betraf, so hatte sie angefangen, ihn mit größerer
Sorge zu betrachten. Er hatte ihr zuerst, bei dem Nachmittagsbesuche, recht
gut gefallen, aber sein Wesen hatte sich verändert, seitdem er im Schlosse wohnte.
Er hatte begonnen, ihr eine Aufmerksamkeit zu schenken, die ihr bedenklich er¬
schien. Sie mußte sich gestehen, daß er ein Mann von vortrefflichen Formen
und viel Geist war, seine Unterhaltung war immer interessant, und sie konnte
ihm nicht vorwerfen, daß er ihr in aufdringlicher Manier den Hof mache. Aber
er umgab sie in beharrlicher Weise mit Aufmerksamkeiten, und sie konnte sich
nicht darüber täuschen, daß dies in überlegter Absicht geschehe. Die Empfindung,
daß er in systematischer Weise seine Beziehungen zu ihr vermehren und zu ver¬
tiefen strebe, ward ihr so deutlich fühlbar, daß sie dadurch schon ungeduldig über
ihn geworden war. Sie fand ihn zeitweise zu höflich und beschuldigte ihn
heimlich der Koketterie. Wenn er seine sprechenden Augen auf sie richtete, den
feinen braunen Schnurrbart drehte und über Kunst oder Literatur Bemerkungen
machte, denen sie nur zustimmen konnte, hatte sie wohl das Gefühl, er betrachte
mehr sich selbst als sie und höre sich selbst lieber als ihre Antworten.

Zuweilen dachte sie auch, er unterschütze sie und trage ihr Dinge vor, welche
er ihrer Leichtigkeit wegen als erprobt bei Damen gefunden habe. Und so ging
es ihr heute, als sie ihm im Wagen gegenüber saß und er viel über Pariser
Sitten und besonders über die Damen in Paris erzählte. Dorothea hörte nur
mit geteilter Aufmerksamkeit zu, denn man fuhr den alten, lieben Weg, der so
schöne Erinnerungen hatte. Indem sie nun an Eberhardt dachte, während sie
sich doch über so ganz andre Interessen unterhalten mußte, ward sie von einem
solchen Anfall von Ungeduld ergriffen.

Ich glaube kaum, daß es richtig ist, Graf Altenschwerdt, sagte sie, nach
den Manieren einiger Koterien von Schöngeistern und Salonheldinnen ein all¬
gemeines Urteil über die Sitten von Paris zu fällen, wie Sie es thun.

Ihre Stimme hatte bei diesen Worten einen leichten Ton von Unzufrieden¬
heit und Tadel, welcher weder der Gräfin noch ihrem Sohne entging.

Graf Dietrich biß sich auf die Lippe und sah sie fragend um.

Ich meine, fuhr Dorothea fort, während sich ihre Farbe belebte, daß es
für einen ernsten Beobachter kaum der Mühe lohnen müßte, Moden und Ge¬
bräuche zu beachten, welche nach zehn Jahren nicht mehr existiren werden. Aber
es ist freilich schwerer, jene bleibenden Triebfedern zu erforschen, welche im ge¬
heimen tiefsten Grunde eines Volkscharakters wirksam sind. Seitdem ich gesehen
habe, wie verschieden das wirkliche Italien von dem in Büchern geschilderten
ist, traue ich auch den Beschreibungen von Paris, denen man so häufig begegnet,
nicht mehr. Und besonders wird meiner Überzeugung nach zu viel Wert auf


genommen, daß er es, wie sie dachte, vielleicht noch nicht bemerkt hatte; oder
vielleicht scheute er sich auch, die Sache von neuem zu berühren. Dorothea
wollte auch hierin die Politik des AbWartens befolgen.

Was aber Graf Dietrich betraf, so hatte sie angefangen, ihn mit größerer
Sorge zu betrachten. Er hatte ihr zuerst, bei dem Nachmittagsbesuche, recht
gut gefallen, aber sein Wesen hatte sich verändert, seitdem er im Schlosse wohnte.
Er hatte begonnen, ihr eine Aufmerksamkeit zu schenken, die ihr bedenklich er¬
schien. Sie mußte sich gestehen, daß er ein Mann von vortrefflichen Formen
und viel Geist war, seine Unterhaltung war immer interessant, und sie konnte
ihm nicht vorwerfen, daß er ihr in aufdringlicher Manier den Hof mache. Aber
er umgab sie in beharrlicher Weise mit Aufmerksamkeiten, und sie konnte sich
nicht darüber täuschen, daß dies in überlegter Absicht geschehe. Die Empfindung,
daß er in systematischer Weise seine Beziehungen zu ihr vermehren und zu ver¬
tiefen strebe, ward ihr so deutlich fühlbar, daß sie dadurch schon ungeduldig über
ihn geworden war. Sie fand ihn zeitweise zu höflich und beschuldigte ihn
heimlich der Koketterie. Wenn er seine sprechenden Augen auf sie richtete, den
feinen braunen Schnurrbart drehte und über Kunst oder Literatur Bemerkungen
machte, denen sie nur zustimmen konnte, hatte sie wohl das Gefühl, er betrachte
mehr sich selbst als sie und höre sich selbst lieber als ihre Antworten.

Zuweilen dachte sie auch, er unterschütze sie und trage ihr Dinge vor, welche
er ihrer Leichtigkeit wegen als erprobt bei Damen gefunden habe. Und so ging
es ihr heute, als sie ihm im Wagen gegenüber saß und er viel über Pariser
Sitten und besonders über die Damen in Paris erzählte. Dorothea hörte nur
mit geteilter Aufmerksamkeit zu, denn man fuhr den alten, lieben Weg, der so
schöne Erinnerungen hatte. Indem sie nun an Eberhardt dachte, während sie
sich doch über so ganz andre Interessen unterhalten mußte, ward sie von einem
solchen Anfall von Ungeduld ergriffen.

Ich glaube kaum, daß es richtig ist, Graf Altenschwerdt, sagte sie, nach
den Manieren einiger Koterien von Schöngeistern und Salonheldinnen ein all¬
gemeines Urteil über die Sitten von Paris zu fällen, wie Sie es thun.

Ihre Stimme hatte bei diesen Worten einen leichten Ton von Unzufrieden¬
heit und Tadel, welcher weder der Gräfin noch ihrem Sohne entging.

Graf Dietrich biß sich auf die Lippe und sah sie fragend um.

Ich meine, fuhr Dorothea fort, während sich ihre Farbe belebte, daß es
für einen ernsten Beobachter kaum der Mühe lohnen müßte, Moden und Ge¬
bräuche zu beachten, welche nach zehn Jahren nicht mehr existiren werden. Aber
es ist freilich schwerer, jene bleibenden Triebfedern zu erforschen, welche im ge¬
heimen tiefsten Grunde eines Volkscharakters wirksam sind. Seitdem ich gesehen
habe, wie verschieden das wirkliche Italien von dem in Büchern geschilderten
ist, traue ich auch den Beschreibungen von Paris, denen man so häufig begegnet,
nicht mehr. Und besonders wird meiner Überzeugung nach zu viel Wert auf


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[0272] genommen, daß er es, wie sie dachte, vielleicht noch nicht bemerkt hatte; oder vielleicht scheute er sich auch, die Sache von neuem zu berühren. Dorothea wollte auch hierin die Politik des AbWartens befolgen. Was aber Graf Dietrich betraf, so hatte sie angefangen, ihn mit größerer Sorge zu betrachten. Er hatte ihr zuerst, bei dem Nachmittagsbesuche, recht gut gefallen, aber sein Wesen hatte sich verändert, seitdem er im Schlosse wohnte. Er hatte begonnen, ihr eine Aufmerksamkeit zu schenken, die ihr bedenklich er¬ schien. Sie mußte sich gestehen, daß er ein Mann von vortrefflichen Formen und viel Geist war, seine Unterhaltung war immer interessant, und sie konnte ihm nicht vorwerfen, daß er ihr in aufdringlicher Manier den Hof mache. Aber er umgab sie in beharrlicher Weise mit Aufmerksamkeiten, und sie konnte sich nicht darüber täuschen, daß dies in überlegter Absicht geschehe. Die Empfindung, daß er in systematischer Weise seine Beziehungen zu ihr vermehren und zu ver¬ tiefen strebe, ward ihr so deutlich fühlbar, daß sie dadurch schon ungeduldig über ihn geworden war. Sie fand ihn zeitweise zu höflich und beschuldigte ihn heimlich der Koketterie. Wenn er seine sprechenden Augen auf sie richtete, den feinen braunen Schnurrbart drehte und über Kunst oder Literatur Bemerkungen machte, denen sie nur zustimmen konnte, hatte sie wohl das Gefühl, er betrachte mehr sich selbst als sie und höre sich selbst lieber als ihre Antworten. Zuweilen dachte sie auch, er unterschütze sie und trage ihr Dinge vor, welche er ihrer Leichtigkeit wegen als erprobt bei Damen gefunden habe. Und so ging es ihr heute, als sie ihm im Wagen gegenüber saß und er viel über Pariser Sitten und besonders über die Damen in Paris erzählte. Dorothea hörte nur mit geteilter Aufmerksamkeit zu, denn man fuhr den alten, lieben Weg, der so schöne Erinnerungen hatte. Indem sie nun an Eberhardt dachte, während sie sich doch über so ganz andre Interessen unterhalten mußte, ward sie von einem solchen Anfall von Ungeduld ergriffen. Ich glaube kaum, daß es richtig ist, Graf Altenschwerdt, sagte sie, nach den Manieren einiger Koterien von Schöngeistern und Salonheldinnen ein all¬ gemeines Urteil über die Sitten von Paris zu fällen, wie Sie es thun. Ihre Stimme hatte bei diesen Worten einen leichten Ton von Unzufrieden¬ heit und Tadel, welcher weder der Gräfin noch ihrem Sohne entging. Graf Dietrich biß sich auf die Lippe und sah sie fragend um. Ich meine, fuhr Dorothea fort, während sich ihre Farbe belebte, daß es für einen ernsten Beobachter kaum der Mühe lohnen müßte, Moden und Ge¬ bräuche zu beachten, welche nach zehn Jahren nicht mehr existiren werden. Aber es ist freilich schwerer, jene bleibenden Triebfedern zu erforschen, welche im ge¬ heimen tiefsten Grunde eines Volkscharakters wirksam sind. Seitdem ich gesehen habe, wie verschieden das wirkliche Italien von dem in Büchern geschilderten ist, traue ich auch den Beschreibungen von Paris, denen man so häufig begegnet, nicht mehr. Und besonders wird meiner Überzeugung nach zu viel Wert auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/272>, abgerufen am 25.08.2024.