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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Zur Beleuchtung der Gefängnisfrage.

Nur sie besitzt die Kraft, Körper und Geist im Gleichgewicht zu erhalten, die
aufstrebenden Triebe der Seele zu stärken und zu zügeln, die Schaffenslust zu
fördern, das Menschengeschöpf friedfertig einzuordnen in die großen und kleinen
Kreise natürlichen Daseins. Nichts von alledem ist währ, sobald von unfreier
Arbeit, von der durch Gewalt erzwungenen Muskelbewegung des Sklaven und
des Knechtes die Rede ist. So wird denn gemeinhin zugestanden, daß, wie die
Isolirung an sich nicht viel bedeute, auch die Arbeit als solche nicht Wunder
wirken könne. Was hinzukommen müsse und allerdings die große Hauptsache
sei, das sei die stetige erziehliche, individuell menschliche Einwirkung ans den
Gefangenen durch den Seelsorger, Lehrer, Gefängnisbeamten. Man ist sehr
stolz auf das Prinzip der Individualisirung. Gering und dürftig ist in Wirk¬
lichkeit der Erfolg der ganzen Gefängniserziehung. Sie läuft darauf hinaus,
daß der Direktor Kvnduitenliften und Personalakten über die disziplinarischen
Vorgänge jedes Sträflings führt, der Gefängnisgeistliche alle Sonn- und Fest¬
tage Gottesdienst abhält, daß täglich ein oder zwei Stunden Elementarunter-
richt erteilt wird und im übrige" unter dem Kommando der Gefängniswärter
das komplizirte Räderwerk des Arbeits-, Eß- und Schlafmechauismus rastlos
abschnurrt. Mau braucht sich uur das Mißverhältnis seelsorgender und lehrender
Kräfte zu der durchschnittlichen Quantität und Qualität von Gefangenen
zu vergegenwärtigen -- ein Geistlicher, ein bis zwei Lehrer für 4--600 Sträf¬
linge --, um für die gesamte moralische Leistungsfähigkeit landesüblicher Straf-
crziehung nicht mehr als ein Achselzucken übrig zu behalten.

Nachdem Mittelstedt weiter ausgeführt, daß die staatliche Gesetzgebung heute
wie vor hundert Jahren unverrückt auf dem Staudpunkte der Abschreckung und
nur der Abschreckung stehe, sodaß sür sie die Freiheitsstrafe nichts als ein Straf¬
übel sei, dessen Größe sich nach der zeitlichen Länge der Freiheitsentziehung be-
messe, sodaß auch das System der vorläufigen Entlassung, bei seiner Rezeption
in Deutschland mit ganz besonderen Erwartungen begrüßt, kläglich Fiasko ge¬
macht habe, meint er, man sollte endlich von dein verhängnisvollen Irrtum
ablassen, durch gesetzlich zugemessene Zeitquauta vou Unfreiheit die Menschen
zur Freiheit erziehen zu Wollen. Diejenigen Ideen, welche ihm für die Reform
des bestehenden Strafensystems als die wesentlichsten erscheinen, entwickelt Mittel¬
stedt in Kürze etwa wie folgt:

Es muß grundsätzlich gebrochen werden mit dem Besserungszweck der Frei¬
heitsstrafen und ihnen voll und unbedingt die ihnen von Gott und Rechtswegen
zukommende Natur eines Strafübels zurückgegeben werden. Sie sollten end¬
gültig dem bisherigen Regime einer weichlich verhätschelnden, in Erziehungs¬
versuchen spielenden, professionellen Humanität entrissen und voll hineingestellt
werden in die Strenge, erbarmungslose Herrschaft der Entbehrungen, Duldungen
und Schmerzen. Insbesondre ist die intensivste Steigerung der Zwangsarbeit
vor allem von Nöten, um wieder Zucht und Furcht und ernsthafte Buße in


Zur Beleuchtung der Gefängnisfrage.

Nur sie besitzt die Kraft, Körper und Geist im Gleichgewicht zu erhalten, die
aufstrebenden Triebe der Seele zu stärken und zu zügeln, die Schaffenslust zu
fördern, das Menschengeschöpf friedfertig einzuordnen in die großen und kleinen
Kreise natürlichen Daseins. Nichts von alledem ist währ, sobald von unfreier
Arbeit, von der durch Gewalt erzwungenen Muskelbewegung des Sklaven und
des Knechtes die Rede ist. So wird denn gemeinhin zugestanden, daß, wie die
Isolirung an sich nicht viel bedeute, auch die Arbeit als solche nicht Wunder
wirken könne. Was hinzukommen müsse und allerdings die große Hauptsache
sei, das sei die stetige erziehliche, individuell menschliche Einwirkung ans den
Gefangenen durch den Seelsorger, Lehrer, Gefängnisbeamten. Man ist sehr
stolz auf das Prinzip der Individualisirung. Gering und dürftig ist in Wirk¬
lichkeit der Erfolg der ganzen Gefängniserziehung. Sie läuft darauf hinaus,
daß der Direktor Kvnduitenliften und Personalakten über die disziplinarischen
Vorgänge jedes Sträflings führt, der Gefängnisgeistliche alle Sonn- und Fest¬
tage Gottesdienst abhält, daß täglich ein oder zwei Stunden Elementarunter-
richt erteilt wird und im übrige» unter dem Kommando der Gefängniswärter
das komplizirte Räderwerk des Arbeits-, Eß- und Schlafmechauismus rastlos
abschnurrt. Mau braucht sich uur das Mißverhältnis seelsorgender und lehrender
Kräfte zu der durchschnittlichen Quantität und Qualität von Gefangenen
zu vergegenwärtigen — ein Geistlicher, ein bis zwei Lehrer für 4—600 Sträf¬
linge —, um für die gesamte moralische Leistungsfähigkeit landesüblicher Straf-
crziehung nicht mehr als ein Achselzucken übrig zu behalten.

Nachdem Mittelstedt weiter ausgeführt, daß die staatliche Gesetzgebung heute
wie vor hundert Jahren unverrückt auf dem Staudpunkte der Abschreckung und
nur der Abschreckung stehe, sodaß sür sie die Freiheitsstrafe nichts als ein Straf¬
übel sei, dessen Größe sich nach der zeitlichen Länge der Freiheitsentziehung be-
messe, sodaß auch das System der vorläufigen Entlassung, bei seiner Rezeption
in Deutschland mit ganz besonderen Erwartungen begrüßt, kläglich Fiasko ge¬
macht habe, meint er, man sollte endlich von dein verhängnisvollen Irrtum
ablassen, durch gesetzlich zugemessene Zeitquauta vou Unfreiheit die Menschen
zur Freiheit erziehen zu Wollen. Diejenigen Ideen, welche ihm für die Reform
des bestehenden Strafensystems als die wesentlichsten erscheinen, entwickelt Mittel¬
stedt in Kürze etwa wie folgt:

Es muß grundsätzlich gebrochen werden mit dem Besserungszweck der Frei¬
heitsstrafen und ihnen voll und unbedingt die ihnen von Gott und Rechtswegen
zukommende Natur eines Strafübels zurückgegeben werden. Sie sollten end¬
gültig dem bisherigen Regime einer weichlich verhätschelnden, in Erziehungs¬
versuchen spielenden, professionellen Humanität entrissen und voll hineingestellt
werden in die Strenge, erbarmungslose Herrschaft der Entbehrungen, Duldungen
und Schmerzen. Insbesondre ist die intensivste Steigerung der Zwangsarbeit
vor allem von Nöten, um wieder Zucht und Furcht und ernsthafte Buße in


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[0261] Zur Beleuchtung der Gefängnisfrage. Nur sie besitzt die Kraft, Körper und Geist im Gleichgewicht zu erhalten, die aufstrebenden Triebe der Seele zu stärken und zu zügeln, die Schaffenslust zu fördern, das Menschengeschöpf friedfertig einzuordnen in die großen und kleinen Kreise natürlichen Daseins. Nichts von alledem ist währ, sobald von unfreier Arbeit, von der durch Gewalt erzwungenen Muskelbewegung des Sklaven und des Knechtes die Rede ist. So wird denn gemeinhin zugestanden, daß, wie die Isolirung an sich nicht viel bedeute, auch die Arbeit als solche nicht Wunder wirken könne. Was hinzukommen müsse und allerdings die große Hauptsache sei, das sei die stetige erziehliche, individuell menschliche Einwirkung ans den Gefangenen durch den Seelsorger, Lehrer, Gefängnisbeamten. Man ist sehr stolz auf das Prinzip der Individualisirung. Gering und dürftig ist in Wirk¬ lichkeit der Erfolg der ganzen Gefängniserziehung. Sie läuft darauf hinaus, daß der Direktor Kvnduitenliften und Personalakten über die disziplinarischen Vorgänge jedes Sträflings führt, der Gefängnisgeistliche alle Sonn- und Fest¬ tage Gottesdienst abhält, daß täglich ein oder zwei Stunden Elementarunter- richt erteilt wird und im übrige» unter dem Kommando der Gefängniswärter das komplizirte Räderwerk des Arbeits-, Eß- und Schlafmechauismus rastlos abschnurrt. Mau braucht sich uur das Mißverhältnis seelsorgender und lehrender Kräfte zu der durchschnittlichen Quantität und Qualität von Gefangenen zu vergegenwärtigen — ein Geistlicher, ein bis zwei Lehrer für 4—600 Sträf¬ linge —, um für die gesamte moralische Leistungsfähigkeit landesüblicher Straf- crziehung nicht mehr als ein Achselzucken übrig zu behalten. Nachdem Mittelstedt weiter ausgeführt, daß die staatliche Gesetzgebung heute wie vor hundert Jahren unverrückt auf dem Staudpunkte der Abschreckung und nur der Abschreckung stehe, sodaß sür sie die Freiheitsstrafe nichts als ein Straf¬ übel sei, dessen Größe sich nach der zeitlichen Länge der Freiheitsentziehung be- messe, sodaß auch das System der vorläufigen Entlassung, bei seiner Rezeption in Deutschland mit ganz besonderen Erwartungen begrüßt, kläglich Fiasko ge¬ macht habe, meint er, man sollte endlich von dein verhängnisvollen Irrtum ablassen, durch gesetzlich zugemessene Zeitquauta vou Unfreiheit die Menschen zur Freiheit erziehen zu Wollen. Diejenigen Ideen, welche ihm für die Reform des bestehenden Strafensystems als die wesentlichsten erscheinen, entwickelt Mittel¬ stedt in Kürze etwa wie folgt: Es muß grundsätzlich gebrochen werden mit dem Besserungszweck der Frei¬ heitsstrafen und ihnen voll und unbedingt die ihnen von Gott und Rechtswegen zukommende Natur eines Strafübels zurückgegeben werden. Sie sollten end¬ gültig dem bisherigen Regime einer weichlich verhätschelnden, in Erziehungs¬ versuchen spielenden, professionellen Humanität entrissen und voll hineingestellt werden in die Strenge, erbarmungslose Herrschaft der Entbehrungen, Duldungen und Schmerzen. Insbesondre ist die intensivste Steigerung der Zwangsarbeit vor allem von Nöten, um wieder Zucht und Furcht und ernsthafte Buße in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/261>, abgerufen am 01.10.2024.