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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Gin Apostel der Geniezeit.

und seit dem Juli 1786 die Stellung eines Arztes der Unitätsältestenkonferenz
in Berthelsdorf und bald darauf in Herrnhut überwiesen. Dort starb er am
21. März 1795.

Während aus Kaufmanns früherer Zeit so gut wie keine eignen handschrift¬
lichen Nachrichten erhalten sind, da er seine Papiere durch Ehrmann in Schaff¬
hausen verbrennen ließ, besitzen wir aus seiner herrnhutischen Periode solche in
Hülle und Fülle. Ein Tagebuch, Briefe an seine Gattin, Auszüge aus Briefen
an die verschiedensten Personen, geistliche Aufsätze über Herzenserfahruugen u. s. w.
sind reichlich auf uns gekommen und seit kurzem aus Privatbesitz in den des
Archivs zu .Herrnhut übergegangen. Düntzer, dem auch dieses Material zu
Gebote stand, konnte hieraus mit vollen Händen schöpfen, und er hat sich die
Gelegenheit dazu nicht entgehen lassen. Von 274 Seiten seines Buches füllt
allein die Darstellung des "Herrnhutischen Arztes" 114 Seiten -- nach unsrer
Meinung zu viel, und wir denken, die Lesewelt wird diesem Urteile beipflichten.
Was soll es, wenn selbst die Badereisen der Frau uns vorgeführt werden, wenn
eine Fülle von Ergüssen Kaufmanns und seiner Gattin über ihr geistliches
Leben, die einander überaus ähnlich sind, aus dem Nachlaß ausgeschrieben
werden, wenn selbst die mancherlei kleinen häuslichen Zwistigkeiten, die sich aus
demselben ersehen lassen, mit aller Breite wiedererzählt werden! Weniger wäre hier
mehr gewesen. Einzelne charakteristische Züge, kurze, aber originelle Auslassungen,
an denen es ja in dem Tagebuche und den Briefen durchaus nicht fehlt, die aber
bei Düutzer in dem unnötigen Zuviel leicht übersehen werden, hätten genügt,
um dem Leser ein deutlicheres Bild von dem Ausgange des Mannes zu gebe",
als er so erhält. Auch wäre es gut gewesen, wenn Düntzer nicht auch hier
wieder so viel zwischen den Zeilen gelesen und Vermutungen geäußert hätte,
die doch immer nur Vermutungen bleibe" werden. Wer vermag in Wahrheit
darüber zu urteilen, wie weit das religiöse Leben eines andern echt oder Selbst¬
täuschung ist, und wer wüßte nicht, daß gerade der reuige Sünder seine eigne
Verderbtheit übertreibt, sodaß aus derartigen Bekenntnissen für den Historiker
in der Regel wenig greifbares zu gewinnen ist? Das gilt auch von Kaufmann,
der eine Menge von Gedanken und innern Erlebnissen zu Papier brachte, die
ein andrer in sich verbirgt.

Der Mensch ist nach seineu Handlungen, nicht aus seinen wechselnden
Stimmungen zu beurteilen, und die letzte Aufgabe des Historikers ist nicht das
Urteilen, sondern das Begreifen. Hat uns Düntzer durch seine sorgsame Forschung
den Weg zu solchem Verständnis Kaufmanns wesentlich erleichtert, so bleibt doch
einem künftigen Biographen noch die Aufgabe, den Helden der Geniezeit auch
aus den für ihn vorhandenen Lebensbedingungen auf dem Wege psychologischer
Vertiefung zu erfassen und zu würdigen. Wir fühlen, daß uns dies in der vor¬
liegenden Skizze auch nicht vollkommen gelungen ist, dürfen aber wenigstens ver¬
sichern, das uns vorschwebende Ziel erstrebt zu haben-




Gin Apostel der Geniezeit.

und seit dem Juli 1786 die Stellung eines Arztes der Unitätsältestenkonferenz
in Berthelsdorf und bald darauf in Herrnhut überwiesen. Dort starb er am
21. März 1795.

Während aus Kaufmanns früherer Zeit so gut wie keine eignen handschrift¬
lichen Nachrichten erhalten sind, da er seine Papiere durch Ehrmann in Schaff¬
hausen verbrennen ließ, besitzen wir aus seiner herrnhutischen Periode solche in
Hülle und Fülle. Ein Tagebuch, Briefe an seine Gattin, Auszüge aus Briefen
an die verschiedensten Personen, geistliche Aufsätze über Herzenserfahruugen u. s. w.
sind reichlich auf uns gekommen und seit kurzem aus Privatbesitz in den des
Archivs zu .Herrnhut übergegangen. Düntzer, dem auch dieses Material zu
Gebote stand, konnte hieraus mit vollen Händen schöpfen, und er hat sich die
Gelegenheit dazu nicht entgehen lassen. Von 274 Seiten seines Buches füllt
allein die Darstellung des „Herrnhutischen Arztes" 114 Seiten — nach unsrer
Meinung zu viel, und wir denken, die Lesewelt wird diesem Urteile beipflichten.
Was soll es, wenn selbst die Badereisen der Frau uns vorgeführt werden, wenn
eine Fülle von Ergüssen Kaufmanns und seiner Gattin über ihr geistliches
Leben, die einander überaus ähnlich sind, aus dem Nachlaß ausgeschrieben
werden, wenn selbst die mancherlei kleinen häuslichen Zwistigkeiten, die sich aus
demselben ersehen lassen, mit aller Breite wiedererzählt werden! Weniger wäre hier
mehr gewesen. Einzelne charakteristische Züge, kurze, aber originelle Auslassungen,
an denen es ja in dem Tagebuche und den Briefen durchaus nicht fehlt, die aber
bei Düutzer in dem unnötigen Zuviel leicht übersehen werden, hätten genügt,
um dem Leser ein deutlicheres Bild von dem Ausgange des Mannes zu gebe»,
als er so erhält. Auch wäre es gut gewesen, wenn Düntzer nicht auch hier
wieder so viel zwischen den Zeilen gelesen und Vermutungen geäußert hätte,
die doch immer nur Vermutungen bleibe» werden. Wer vermag in Wahrheit
darüber zu urteilen, wie weit das religiöse Leben eines andern echt oder Selbst¬
täuschung ist, und wer wüßte nicht, daß gerade der reuige Sünder seine eigne
Verderbtheit übertreibt, sodaß aus derartigen Bekenntnissen für den Historiker
in der Regel wenig greifbares zu gewinnen ist? Das gilt auch von Kaufmann,
der eine Menge von Gedanken und innern Erlebnissen zu Papier brachte, die
ein andrer in sich verbirgt.

Der Mensch ist nach seineu Handlungen, nicht aus seinen wechselnden
Stimmungen zu beurteilen, und die letzte Aufgabe des Historikers ist nicht das
Urteilen, sondern das Begreifen. Hat uns Düntzer durch seine sorgsame Forschung
den Weg zu solchem Verständnis Kaufmanns wesentlich erleichtert, so bleibt doch
einem künftigen Biographen noch die Aufgabe, den Helden der Geniezeit auch
aus den für ihn vorhandenen Lebensbedingungen auf dem Wege psychologischer
Vertiefung zu erfassen und zu würdigen. Wir fühlen, daß uns dies in der vor¬
liegenden Skizze auch nicht vollkommen gelungen ist, dürfen aber wenigstens ver¬
sichern, das uns vorschwebende Ziel erstrebt zu haben-




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/248>, abgerufen am 01.07.2024.