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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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pompejanische Spaziergängo.

einer Thür und enthielt eine große Anzahl jener Täfelchen (wbulaö), auf
welchen die Römer das Konzept ihrer Geschüstspapiere, kleine unwichtige Billets,
den ersten Entwurf der Werke, die sie verfaßten, kurz alle ihre laufenden
Schreibereien verzeichneten, während Pergament und Papyrus denjenigen
Schriften vorbehalten blieb, welche sie dauernd aufbewahren wollten. Diese
Täfelchen bestanden in der Regel aus zwei bis drei dünnen hölzernen Brettchen,
die wie die Deckel eines Buches miteinander verbunden und innen mit einer
leichten Schicht von Wachs überzogen waren; auf diesem Wachs wurde mit
einem kleinen eisernen Griffel geschrieben. Ein so schwacher, so zarter, so wenig
sür lange Dauer geschaffener Stoff hat hier alle möglichen Unfälle, denen Marmor
und Eisen kaum zu widerstehen vermochten, glücklich überlebt! Wir fragen
uns, durch welches Wunder mitten in einer plötzlich erstickten und verschlungenen
Stadt, unter dem alle Häuser bedeckenden Stein- und Aschenregen, dieses Holz
und dieses Wachs der Vernichtung entgehen konnten, und noch größer ist unser
Staunen darüber, daß diese Stoffe nach der schrecklichen Katastrophe achtzehn
Jahrhunderte der Finsternis und Feuchtigkeit zu überstehen vermochten, ohne
völlig zu Grunde zu gehen. Als man sie fand, bildeten sie nur noch ein Gefüge
calcinirter Kohle, und kaum wurden sie von den Strahlen der Sonne berührt,
die sie seit achtzehnhundert Jahren nicht gesehen, da bekamen sie zusehends überall
Risse und zerfielen an der Luft in kleine Stücke. Es bedürfte unendlicher
Vorsicht, um diese kostbaren Überreste nach Neapel zu schaffen; dort, wo in
eigens dazu bestimmten Ateliers das Aufrollen und Lesen der Papyrus von
Herculaneum mit bewundernswerter Geduld ausgeführt wird, ging man daran,
die Täfelchen von einander zu trennen, die zerstreuten Stücke zusammenzufügen,
sie zu öffnen, endlich, falls glücklicherweise das Wachs nicht geschmolzen war,
die von dem eisernen Griffel darauf zurückgelassenen Spuren zu entziffern. Im
ganzen war der Erfolg größer als man gehofft hatte -- dank dem Geschick
und der Gelehrsamkeit de Petras, des Direktors des Museums zu Neapel,
welcher die Arbeit überwachte und nach ihrer Beendigung zuerst ihre Ergebnisse
veröffentlichte.*)

Entsprechen diese Ergebnisse der Mühe, die sie gekostet haben? -- Es muß
bemerkt werden, daß auf Entdeckungen dieser Art fast immer eine Enttäuschung
gefolgt ist. Man erwartet von vornherein zu viel; so ist es natürlich, daß die
Wirklichkeit nicht auf der Höhe der Hoffnungen steht. Die Kiste des Jucundus
enthielt 132 für ihn ausgestellte Quittungen; davon sind 127 ganz oder teil¬
weise entziffert worden. Fast alle diese Quittungen (116 von 127) beziehen sich
uns Versteigerungen und machen uns mit dem Mechanismus dieser Art von



*) Da Petras Denkschrift, betitelt I.g osrats al?owxvi erschien zuerst in
der Sammlung der Akademie der Lincei, Seitdem hat Mommsen in einer wichtigen Ab¬
handlung im Hermes (XII, S. 88) die Tcifelchcn besonders vom juristischen Standpunkt
aus studirt. Vgl. auch Caillemcr in der Rovuo Iiiswriquv as droit tru,u(/-us (Juli 1377).
pompejanische Spaziergängo.

einer Thür und enthielt eine große Anzahl jener Täfelchen (wbulaö), auf
welchen die Römer das Konzept ihrer Geschüstspapiere, kleine unwichtige Billets,
den ersten Entwurf der Werke, die sie verfaßten, kurz alle ihre laufenden
Schreibereien verzeichneten, während Pergament und Papyrus denjenigen
Schriften vorbehalten blieb, welche sie dauernd aufbewahren wollten. Diese
Täfelchen bestanden in der Regel aus zwei bis drei dünnen hölzernen Brettchen,
die wie die Deckel eines Buches miteinander verbunden und innen mit einer
leichten Schicht von Wachs überzogen waren; auf diesem Wachs wurde mit
einem kleinen eisernen Griffel geschrieben. Ein so schwacher, so zarter, so wenig
sür lange Dauer geschaffener Stoff hat hier alle möglichen Unfälle, denen Marmor
und Eisen kaum zu widerstehen vermochten, glücklich überlebt! Wir fragen
uns, durch welches Wunder mitten in einer plötzlich erstickten und verschlungenen
Stadt, unter dem alle Häuser bedeckenden Stein- und Aschenregen, dieses Holz
und dieses Wachs der Vernichtung entgehen konnten, und noch größer ist unser
Staunen darüber, daß diese Stoffe nach der schrecklichen Katastrophe achtzehn
Jahrhunderte der Finsternis und Feuchtigkeit zu überstehen vermochten, ohne
völlig zu Grunde zu gehen. Als man sie fand, bildeten sie nur noch ein Gefüge
calcinirter Kohle, und kaum wurden sie von den Strahlen der Sonne berührt,
die sie seit achtzehnhundert Jahren nicht gesehen, da bekamen sie zusehends überall
Risse und zerfielen an der Luft in kleine Stücke. Es bedürfte unendlicher
Vorsicht, um diese kostbaren Überreste nach Neapel zu schaffen; dort, wo in
eigens dazu bestimmten Ateliers das Aufrollen und Lesen der Papyrus von
Herculaneum mit bewundernswerter Geduld ausgeführt wird, ging man daran,
die Täfelchen von einander zu trennen, die zerstreuten Stücke zusammenzufügen,
sie zu öffnen, endlich, falls glücklicherweise das Wachs nicht geschmolzen war,
die von dem eisernen Griffel darauf zurückgelassenen Spuren zu entziffern. Im
ganzen war der Erfolg größer als man gehofft hatte — dank dem Geschick
und der Gelehrsamkeit de Petras, des Direktors des Museums zu Neapel,
welcher die Arbeit überwachte und nach ihrer Beendigung zuerst ihre Ergebnisse
veröffentlichte.*)

Entsprechen diese Ergebnisse der Mühe, die sie gekostet haben? — Es muß
bemerkt werden, daß auf Entdeckungen dieser Art fast immer eine Enttäuschung
gefolgt ist. Man erwartet von vornherein zu viel; so ist es natürlich, daß die
Wirklichkeit nicht auf der Höhe der Hoffnungen steht. Die Kiste des Jucundus
enthielt 132 für ihn ausgestellte Quittungen; davon sind 127 ganz oder teil¬
weise entziffert worden. Fast alle diese Quittungen (116 von 127) beziehen sich
uns Versteigerungen und machen uns mit dem Mechanismus dieser Art von



*) Da Petras Denkschrift, betitelt I.g osrats al?owxvi erschien zuerst in
der Sammlung der Akademie der Lincei, Seitdem hat Mommsen in einer wichtigen Ab¬
handlung im Hermes (XII, S. 88) die Tcifelchcn besonders vom juristischen Standpunkt
aus studirt. Vgl. auch Caillemcr in der Rovuo Iiiswriquv as droit tru,u(/-us (Juli 1377).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/195>, abgerufen am 03.07.2024.