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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Lin neuer Lessingmythu5.

Die ganze Geschichte von der Gesellschaft auf dem Weghause ist eine, bei¬
läufig gesagt, recht dürftige Erfindung. Ebert, der sich hier mit Luise Grase
verlobt, ist zu dieser Zeit schou über sieben Jahre mit ihr verheiratet gewesen. Am
übelsten ersonnen ist von allen den dortigen Erlebnissen die Szene mit Alexander
Daveson, da sich der Verfasser hier wiederum zu sichern Schriftstücken in
Widerspruch setzt. Er stellt die Sache so dar, als wenn dem Daveson das
unzweidentigste Unrecht widerfahren wäre, und zwar allein von feiten des
Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand. So faßt sein Lessing die Sache auf, den
er dem Herzoge darob sehr kräftig den Text lesen läßt. Wie hat aber Lessing
in Wirklichkeit von dem Manne, von den Vorgängen, über welche ich, offen
gestanden, noch keine volle Klarheit habe gewinnen können, gedacht? Wir er¬
fahre" es ans seinem Briefe an Mendelssohn vom 19. (nicht 18.) Dezember,
den Herr von Seventorncn selbst erwähnt, also doch wohl gelesen hat. Hier
schreibt Lessing: "Denn es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz
unschuldig ist. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen lassen. Eigentlich
heißt er Alexander Daveson, dieser Emigrant; und daß ihm unsre Leute auf
Verhetzung der Ihrigen sehr häßlich mitgespielt haben, das kann ich ihm
bezeugen." Lessing hielt also den Mann nicht für ganz unschuldig*) und
schrieb den Anlaß zu den unverdient harten Verfolgungen den jüdischen Glaubens¬
genossen desselben zu. Aber davon sagt Herr v. S. kein Wort, alle Schuld
bürdet er auf den Herzog. Mit welchem Recht?

Doch genug, um die gänzliche Unzuverlässigkeit dieser "authentischen Bei¬
träge zum Leben Lessings" zu erweisen. Truge das Buch nicht selbst diesen
Titel an der Stirn, könnte es nicht durch seine anscheinende Quellenmäßigkeit
das Urteil weiterer Kreise, die deu behandelten Fragen ferner stehen, in schäd¬
licher Weise verwirren, so würde jedes Wort, das man darüber spricht, ein
verschwendetes sein. Den" künstlerisch als Schöpfung der dichterischen Phantasie
betrachtet, erhebt es sich in keiner Weise über das Durchschnittsmaß dessen, was
heutzutage für geschichtlichen Roman oder Novelle ausgegeben wird. Die
Handlung ist zusammengesetzt aus den abgebrauchtesten Lustspielmotiven; den
Hauptinhalt bilden philosophisch-politische Reden, wie man sie von einem
liberalen Kannegießer unsrer Tage auf jeder Gasse hören kann, daneben allerlei
schöne und nützliche Gespräche, z. B. über Brot- und Fleischpreise "nach gleich¬
zeitigen Tabellen" -- übrigens nicht ohne Fehler**) -- gegeben.




") Weß Geistes Kind der Mann war, hat auch das spätere Leben desselben deutlich
gezeigt: als französischer Lohnschreiber gab er in Berlin 1806 bis 1808 den "Telegraphen"
heraus.
**) Die Tabellen befinden sich in den Braunschweigischen Anzeigen des Jahres 1730,
denen der Versasser vieles entnommen hat. Aber leider laufen auch bei Wiedergabe dieser
Dinge mancherlei Fehler unter, die mindestens große Flüchtigkeit bekunde".
Lin neuer Lessingmythu5.

Die ganze Geschichte von der Gesellschaft auf dem Weghause ist eine, bei¬
läufig gesagt, recht dürftige Erfindung. Ebert, der sich hier mit Luise Grase
verlobt, ist zu dieser Zeit schou über sieben Jahre mit ihr verheiratet gewesen. Am
übelsten ersonnen ist von allen den dortigen Erlebnissen die Szene mit Alexander
Daveson, da sich der Verfasser hier wiederum zu sichern Schriftstücken in
Widerspruch setzt. Er stellt die Sache so dar, als wenn dem Daveson das
unzweidentigste Unrecht widerfahren wäre, und zwar allein von feiten des
Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand. So faßt sein Lessing die Sache auf, den
er dem Herzoge darob sehr kräftig den Text lesen läßt. Wie hat aber Lessing
in Wirklichkeit von dem Manne, von den Vorgängen, über welche ich, offen
gestanden, noch keine volle Klarheit habe gewinnen können, gedacht? Wir er¬
fahre» es ans seinem Briefe an Mendelssohn vom 19. (nicht 18.) Dezember,
den Herr von Seventorncn selbst erwähnt, also doch wohl gelesen hat. Hier
schreibt Lessing: „Denn es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz
unschuldig ist. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen lassen. Eigentlich
heißt er Alexander Daveson, dieser Emigrant; und daß ihm unsre Leute auf
Verhetzung der Ihrigen sehr häßlich mitgespielt haben, das kann ich ihm
bezeugen." Lessing hielt also den Mann nicht für ganz unschuldig*) und
schrieb den Anlaß zu den unverdient harten Verfolgungen den jüdischen Glaubens¬
genossen desselben zu. Aber davon sagt Herr v. S. kein Wort, alle Schuld
bürdet er auf den Herzog. Mit welchem Recht?

Doch genug, um die gänzliche Unzuverlässigkeit dieser „authentischen Bei¬
träge zum Leben Lessings" zu erweisen. Truge das Buch nicht selbst diesen
Titel an der Stirn, könnte es nicht durch seine anscheinende Quellenmäßigkeit
das Urteil weiterer Kreise, die deu behandelten Fragen ferner stehen, in schäd¬
licher Weise verwirren, so würde jedes Wort, das man darüber spricht, ein
verschwendetes sein. Den» künstlerisch als Schöpfung der dichterischen Phantasie
betrachtet, erhebt es sich in keiner Weise über das Durchschnittsmaß dessen, was
heutzutage für geschichtlichen Roman oder Novelle ausgegeben wird. Die
Handlung ist zusammengesetzt aus den abgebrauchtesten Lustspielmotiven; den
Hauptinhalt bilden philosophisch-politische Reden, wie man sie von einem
liberalen Kannegießer unsrer Tage auf jeder Gasse hören kann, daneben allerlei
schöne und nützliche Gespräche, z. B. über Brot- und Fleischpreise „nach gleich¬
zeitigen Tabellen" — übrigens nicht ohne Fehler**) — gegeben.




") Weß Geistes Kind der Mann war, hat auch das spätere Leben desselben deutlich
gezeigt: als französischer Lohnschreiber gab er in Berlin 1806 bis 1808 den „Telegraphen"
heraus.
**) Die Tabellen befinden sich in den Braunschweigischen Anzeigen des Jahres 1730,
denen der Versasser vieles entnommen hat. Aber leider laufen auch bei Wiedergabe dieser
Dinge mancherlei Fehler unter, die mindestens große Flüchtigkeit bekunde».
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[0147] Lin neuer Lessingmythu5. Die ganze Geschichte von der Gesellschaft auf dem Weghause ist eine, bei¬ läufig gesagt, recht dürftige Erfindung. Ebert, der sich hier mit Luise Grase verlobt, ist zu dieser Zeit schou über sieben Jahre mit ihr verheiratet gewesen. Am übelsten ersonnen ist von allen den dortigen Erlebnissen die Szene mit Alexander Daveson, da sich der Verfasser hier wiederum zu sichern Schriftstücken in Widerspruch setzt. Er stellt die Sache so dar, als wenn dem Daveson das unzweidentigste Unrecht widerfahren wäre, und zwar allein von feiten des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand. So faßt sein Lessing die Sache auf, den er dem Herzoge darob sehr kräftig den Text lesen läßt. Wie hat aber Lessing in Wirklichkeit von dem Manne, von den Vorgängen, über welche ich, offen gestanden, noch keine volle Klarheit habe gewinnen können, gedacht? Wir er¬ fahre» es ans seinem Briefe an Mendelssohn vom 19. (nicht 18.) Dezember, den Herr von Seventorncn selbst erwähnt, also doch wohl gelesen hat. Hier schreibt Lessing: „Denn es ist nicht wahr, daß der Unglückliche ganz unschuldig ist. An Klugheit hat er es wohl immer fehlen lassen. Eigentlich heißt er Alexander Daveson, dieser Emigrant; und daß ihm unsre Leute auf Verhetzung der Ihrigen sehr häßlich mitgespielt haben, das kann ich ihm bezeugen." Lessing hielt also den Mann nicht für ganz unschuldig*) und schrieb den Anlaß zu den unverdient harten Verfolgungen den jüdischen Glaubens¬ genossen desselben zu. Aber davon sagt Herr v. S. kein Wort, alle Schuld bürdet er auf den Herzog. Mit welchem Recht? Doch genug, um die gänzliche Unzuverlässigkeit dieser „authentischen Bei¬ träge zum Leben Lessings" zu erweisen. Truge das Buch nicht selbst diesen Titel an der Stirn, könnte es nicht durch seine anscheinende Quellenmäßigkeit das Urteil weiterer Kreise, die deu behandelten Fragen ferner stehen, in schäd¬ licher Weise verwirren, so würde jedes Wort, das man darüber spricht, ein verschwendetes sein. Den» künstlerisch als Schöpfung der dichterischen Phantasie betrachtet, erhebt es sich in keiner Weise über das Durchschnittsmaß dessen, was heutzutage für geschichtlichen Roman oder Novelle ausgegeben wird. Die Handlung ist zusammengesetzt aus den abgebrauchtesten Lustspielmotiven; den Hauptinhalt bilden philosophisch-politische Reden, wie man sie von einem liberalen Kannegießer unsrer Tage auf jeder Gasse hören kann, daneben allerlei schöne und nützliche Gespräche, z. B. über Brot- und Fleischpreise „nach gleich¬ zeitigen Tabellen" — übrigens nicht ohne Fehler**) — gegeben. ") Weß Geistes Kind der Mann war, hat auch das spätere Leben desselben deutlich gezeigt: als französischer Lohnschreiber gab er in Berlin 1806 bis 1808 den „Telegraphen" heraus. **) Die Tabellen befinden sich in den Braunschweigischen Anzeigen des Jahres 1730, denen der Versasser vieles entnommen hat. Aber leider laufen auch bei Wiedergabe dieser Dinge mancherlei Fehler unter, die mindestens große Flüchtigkeit bekunde».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/147>, abgerufen am 01.07.2024.