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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Bin neuer Lessingmythus.

Daß der Verfasser die Zahl der nach Amerika abgesandten Truppen etwa
um 1000 Mann zu hoch angiebt, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. Bedenklicher
ist wieder die Schilderung vom Abmärsche der Regimenter. Man habe die
Thore gesperrt, um die jammernden Angehörigen, Frauen und Kinder der aus¬
ziehenden Soldaten, von der Stadt auszuschließen; vor dem Wirtshaus "Prinz
Friedrich," nicht wie sonst immer vor dem Schloße, seien die Mannschaften
angetreten und sogleich abmarschirt; die Trommeln seien fleißig gerührt worden,
"daß kein Jammern und kein Fluchen zu hören war." Grobe Entstellung!
Auf dem Paradeplatze vor der Stadt nahmen die Truppen Aufstellung. Der
Herzog selbst richtete eine kernhafte Ansprache an die Soldaten und ermahnte
sie, auch in der Ferne der braunschweigischen Waffenehre stets eingedenk zu
sein. Ein donnerndes Hurrah war die Antwort der Krieger, mit klingendem
Spiel desilirten sie vor dem Herzoge und zogen in musterhafter Haltung den
Abenteuern des fremden Weltteils entgegen.*) Ein deutliches Zeichen, daß
die Truppen keineswegs zusammengepreßt waren, wird man schon darin er¬
kennen dürfen, daß auf dem langen Marsche bis zur Einschiffung, wie General
Riedesel voll Stolz dem Herzoge Ferdinand berichtet, keine einzige Desertion
vorfiel.**)

Gewiß ist von unserm heutigen Standpunkte aus der ganze Handel scharf
zu verurteilen. Aber ist man deshalb berechtigt, auf Grundfalscher Thatsachen
einen Lessing die herben Worte sprechen zu lassen, die ihm Herr von Sevcn-
tornen in den Mund legt? Was berechtigt zu der Annahme, daß Lessing über
die Vorfälle wirklich so gedacht habe? Giebt es eine Stelle in seinen Werken,
auf die man sich dafür berufen kann? Jedenfalls hätte sich der Verfasser
hüten sollen, ihn und seinen Begleiter falsche Schlagwörter gebrauchen zu lassen.
Lessing ironisirt den angeblich von Riedesel aufgebrachten Ausdruck "Berufs¬
reise nach Amerika," aber wohl nur, weil Herr von Sevetvrnen nicht weiß, daß
diese Bezeichnung erst 1300 von Karl Spener in Berlin erfunden worden ist,
und zwar uicht für den Ausmarsch der Truppen, sondern für die Reise der
Generalin von Riedesel, die ihren Beruf als Gattin zu erfüllen glaubte, indem
sie ihrem Manne nach Amerika folgte.***)

Nach alledem wird füglich niemand zuzumuten sein, die rührende Geschichte
von Hennig und Johann Stiebel für mehr als eine tendenziöse Erfindung
anzusehen, wenigstens so lange, bis dieselbe aktenmäßig bewiesen ist. Auch dann
aber wäre sie uur eine Ausnahme von der Regel. Es sind mir unter den





*) Vergl. unter andern: M. v. Eelking, Leben und Wirken des Herzogl. Brcnmschw.
General-Lieutenants Friedrich Advlpl) Riedesel Freiherr" zu Eisenbach. B. 2, S. IN.
**) A. a. O. S. 17.
***) Die Berufsreisc nach Amerika. Briefe der Generalin von Riedesel, auf dieser
Reise ?c. geschrieben. 2. Auflage, Berlin, 1801. S. VII.
Bin neuer Lessingmythus.

Daß der Verfasser die Zahl der nach Amerika abgesandten Truppen etwa
um 1000 Mann zu hoch angiebt, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. Bedenklicher
ist wieder die Schilderung vom Abmärsche der Regimenter. Man habe die
Thore gesperrt, um die jammernden Angehörigen, Frauen und Kinder der aus¬
ziehenden Soldaten, von der Stadt auszuschließen; vor dem Wirtshaus „Prinz
Friedrich," nicht wie sonst immer vor dem Schloße, seien die Mannschaften
angetreten und sogleich abmarschirt; die Trommeln seien fleißig gerührt worden,
„daß kein Jammern und kein Fluchen zu hören war." Grobe Entstellung!
Auf dem Paradeplatze vor der Stadt nahmen die Truppen Aufstellung. Der
Herzog selbst richtete eine kernhafte Ansprache an die Soldaten und ermahnte
sie, auch in der Ferne der braunschweigischen Waffenehre stets eingedenk zu
sein. Ein donnerndes Hurrah war die Antwort der Krieger, mit klingendem
Spiel desilirten sie vor dem Herzoge und zogen in musterhafter Haltung den
Abenteuern des fremden Weltteils entgegen.*) Ein deutliches Zeichen, daß
die Truppen keineswegs zusammengepreßt waren, wird man schon darin er¬
kennen dürfen, daß auf dem langen Marsche bis zur Einschiffung, wie General
Riedesel voll Stolz dem Herzoge Ferdinand berichtet, keine einzige Desertion
vorfiel.**)

Gewiß ist von unserm heutigen Standpunkte aus der ganze Handel scharf
zu verurteilen. Aber ist man deshalb berechtigt, auf Grundfalscher Thatsachen
einen Lessing die herben Worte sprechen zu lassen, die ihm Herr von Sevcn-
tornen in den Mund legt? Was berechtigt zu der Annahme, daß Lessing über
die Vorfälle wirklich so gedacht habe? Giebt es eine Stelle in seinen Werken,
auf die man sich dafür berufen kann? Jedenfalls hätte sich der Verfasser
hüten sollen, ihn und seinen Begleiter falsche Schlagwörter gebrauchen zu lassen.
Lessing ironisirt den angeblich von Riedesel aufgebrachten Ausdruck „Berufs¬
reise nach Amerika," aber wohl nur, weil Herr von Sevetvrnen nicht weiß, daß
diese Bezeichnung erst 1300 von Karl Spener in Berlin erfunden worden ist,
und zwar uicht für den Ausmarsch der Truppen, sondern für die Reise der
Generalin von Riedesel, die ihren Beruf als Gattin zu erfüllen glaubte, indem
sie ihrem Manne nach Amerika folgte.***)

Nach alledem wird füglich niemand zuzumuten sein, die rührende Geschichte
von Hennig und Johann Stiebel für mehr als eine tendenziöse Erfindung
anzusehen, wenigstens so lange, bis dieselbe aktenmäßig bewiesen ist. Auch dann
aber wäre sie uur eine Ausnahme von der Regel. Es sind mir unter den





*) Vergl. unter andern: M. v. Eelking, Leben und Wirken des Herzogl. Brcnmschw.
General-Lieutenants Friedrich Advlpl) Riedesel Freiherr» zu Eisenbach. B. 2, S. IN.
**) A. a. O. S. 17.
***) Die Berufsreisc nach Amerika. Briefe der Generalin von Riedesel, auf dieser
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[0144] Bin neuer Lessingmythus. Daß der Verfasser die Zahl der nach Amerika abgesandten Truppen etwa um 1000 Mann zu hoch angiebt, sei nur im Vorbeigehen erwähnt. Bedenklicher ist wieder die Schilderung vom Abmärsche der Regimenter. Man habe die Thore gesperrt, um die jammernden Angehörigen, Frauen und Kinder der aus¬ ziehenden Soldaten, von der Stadt auszuschließen; vor dem Wirtshaus „Prinz Friedrich," nicht wie sonst immer vor dem Schloße, seien die Mannschaften angetreten und sogleich abmarschirt; die Trommeln seien fleißig gerührt worden, „daß kein Jammern und kein Fluchen zu hören war." Grobe Entstellung! Auf dem Paradeplatze vor der Stadt nahmen die Truppen Aufstellung. Der Herzog selbst richtete eine kernhafte Ansprache an die Soldaten und ermahnte sie, auch in der Ferne der braunschweigischen Waffenehre stets eingedenk zu sein. Ein donnerndes Hurrah war die Antwort der Krieger, mit klingendem Spiel desilirten sie vor dem Herzoge und zogen in musterhafter Haltung den Abenteuern des fremden Weltteils entgegen.*) Ein deutliches Zeichen, daß die Truppen keineswegs zusammengepreßt waren, wird man schon darin er¬ kennen dürfen, daß auf dem langen Marsche bis zur Einschiffung, wie General Riedesel voll Stolz dem Herzoge Ferdinand berichtet, keine einzige Desertion vorfiel.**) Gewiß ist von unserm heutigen Standpunkte aus der ganze Handel scharf zu verurteilen. Aber ist man deshalb berechtigt, auf Grundfalscher Thatsachen einen Lessing die herben Worte sprechen zu lassen, die ihm Herr von Sevcn- tornen in den Mund legt? Was berechtigt zu der Annahme, daß Lessing über die Vorfälle wirklich so gedacht habe? Giebt es eine Stelle in seinen Werken, auf die man sich dafür berufen kann? Jedenfalls hätte sich der Verfasser hüten sollen, ihn und seinen Begleiter falsche Schlagwörter gebrauchen zu lassen. Lessing ironisirt den angeblich von Riedesel aufgebrachten Ausdruck „Berufs¬ reise nach Amerika," aber wohl nur, weil Herr von Sevetvrnen nicht weiß, daß diese Bezeichnung erst 1300 von Karl Spener in Berlin erfunden worden ist, und zwar uicht für den Ausmarsch der Truppen, sondern für die Reise der Generalin von Riedesel, die ihren Beruf als Gattin zu erfüllen glaubte, indem sie ihrem Manne nach Amerika folgte.***) Nach alledem wird füglich niemand zuzumuten sein, die rührende Geschichte von Hennig und Johann Stiebel für mehr als eine tendenziöse Erfindung anzusehen, wenigstens so lange, bis dieselbe aktenmäßig bewiesen ist. Auch dann aber wäre sie uur eine Ausnahme von der Regel. Es sind mir unter den *) Vergl. unter andern: M. v. Eelking, Leben und Wirken des Herzogl. Brcnmschw. General-Lieutenants Friedrich Advlpl) Riedesel Freiherr» zu Eisenbach. B. 2, S. IN. **) A. a. O. S. 17. ***) Die Berufsreisc nach Amerika. Briefe der Generalin von Riedesel, auf dieser Reise ?c. geschrieben. 2. Auflage, Berlin, 1801. S. VII.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/144>, abgerufen am 03.07.2024.