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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Gin neuer Tessingmythus.

Buch ist ohne die erforderliche Sachkenntnis geschrieben, ja es stellt sich mit
unbestreitbaren Thatsachen in unlöslichen Widerspruch, so daß die Absicht des
Verfassers, eine wahrheitsgetreue Schilderung der Zeitverhältnisse zu liefern,
als völlig verfehlt bezeichnet werden muß.

Der Name "von Seventornen" mutet heimatlich an: er ist einem Bnr-
gensengeschlechte der Stadt Braunschweig entlehnt, dessen letzter Sproß, Alexander,
nach Ausweis der Stadtbücher in der ersten Hülste des 14. Jahrhunderts gelebt
hat. Mag aber der jetzige rsc1i?ion,8 von Geburt vielleicht kein Fremdling unter
uns sein: in der Landesgeschichte ist er augenfällig nur sehr mäßig bewandert.
Auf Schritt und Tritt stößt man bei ihm auf Fehler und Ungenauigkeiten, wie
sie einem Manne, der sich über die Geschichte der Zeit ein Urteil erlauben will,
unmöglich nachgesehen werden können.

Schon die Aufführung der benutzten Quellen muß höchlichst überraschen.
Er nennt hier zuerst "amtliche Dokumente der Behörden, welche dem Verfasser
im Original vorlagen." Leider unterläßt er diese Behörden näher zu bezeichnen.
Daß er aber die eigentlichen Regierungsakteu, welche sich im Landeshauptarchivc
zu Wolfenbüttel befinden, nicht eingesehen hat, kann der Verfasser dieses Auf¬
satzes aus sicherer Kenntnis bezeugen. Auch die Akten der herzoglichen Kammer
in Braunschweig, die für einzelne hier behandelte Fragen hätten in Betracht
kommen können, sind eingezogener Erkundigung zufolge seit Jahrzehnten von
niemand benutzt worden. Es werden weiter die Tagebücher von Leisewitz an¬
geführt, aber auch diese hat nach der Versicherung des Vorstandes des Braun¬
schweigischen Stadtarchivs, des Stadtarchivars Hänselmann, außer von Heine¬
mann und dem leider bald darauf verstorbenen Kutscher" von Aichbergen niemals
jemand eingehend durchforscht; ebensowenig sind nach demselben Zeugnis die
an dritter Stelle angeführten Briefe Leisewitzens an seine Braut nach Kutscher"
irgendwer" zu erschöpfender Benutzung vorgelegt worden, von Seventornen
kann also diese Schriften nur aus den bisher durch von Heinemann, Kntschera
und Schiller*) veröffentlichten Bruchstücken kennen gelernt haben. Gleichwohl
giebt er sich das Ansehen, als wenn sie ihm eine bisher unbekannte Ausbeute
gewährt hätten. Daß man hiernach gegen die vierte Quelle, "ante sichere Tra¬
dition alter braunschweigischer Familien," etwas Mißtrauen faßt, wird einem kein
Billigdenkender verargen können. Endlich fügt der Verfasser noch hinzu: "Wenige
kleine Freiheiten, die der Verfasser in nebensächlichen Beziehungen sich mit Ort
und Zeit erlaubt hat, wird jeder Unbefangene billigen." Will er sich hierdurch
im voraus gegen alle Einwürfe und Berichtigungen sicher stellen? Dann ist



*) Zur Erinnerung an Gotthold Ephraim Lessing. Briefe und Aktenstücke ze., heraus¬
gegeben von O. v. Heinemann, Leipzig, 1870. -- Johann Anton Leisewitz. Ein Beitrag
Mr Geschichte der deutschen Literatur im XVIII. Jahrhundert. Von Gregor Kntschera von
Aichbergen. Wien, 1876. -- Herrigs Archiv XXXI, S. 353--410.
Gin neuer Tessingmythus.

Buch ist ohne die erforderliche Sachkenntnis geschrieben, ja es stellt sich mit
unbestreitbaren Thatsachen in unlöslichen Widerspruch, so daß die Absicht des
Verfassers, eine wahrheitsgetreue Schilderung der Zeitverhältnisse zu liefern,
als völlig verfehlt bezeichnet werden muß.

Der Name „von Seventornen" mutet heimatlich an: er ist einem Bnr-
gensengeschlechte der Stadt Braunschweig entlehnt, dessen letzter Sproß, Alexander,
nach Ausweis der Stadtbücher in der ersten Hülste des 14. Jahrhunderts gelebt
hat. Mag aber der jetzige rsc1i?ion,8 von Geburt vielleicht kein Fremdling unter
uns sein: in der Landesgeschichte ist er augenfällig nur sehr mäßig bewandert.
Auf Schritt und Tritt stößt man bei ihm auf Fehler und Ungenauigkeiten, wie
sie einem Manne, der sich über die Geschichte der Zeit ein Urteil erlauben will,
unmöglich nachgesehen werden können.

Schon die Aufführung der benutzten Quellen muß höchlichst überraschen.
Er nennt hier zuerst „amtliche Dokumente der Behörden, welche dem Verfasser
im Original vorlagen." Leider unterläßt er diese Behörden näher zu bezeichnen.
Daß er aber die eigentlichen Regierungsakteu, welche sich im Landeshauptarchivc
zu Wolfenbüttel befinden, nicht eingesehen hat, kann der Verfasser dieses Auf¬
satzes aus sicherer Kenntnis bezeugen. Auch die Akten der herzoglichen Kammer
in Braunschweig, die für einzelne hier behandelte Fragen hätten in Betracht
kommen können, sind eingezogener Erkundigung zufolge seit Jahrzehnten von
niemand benutzt worden. Es werden weiter die Tagebücher von Leisewitz an¬
geführt, aber auch diese hat nach der Versicherung des Vorstandes des Braun¬
schweigischen Stadtarchivs, des Stadtarchivars Hänselmann, außer von Heine¬
mann und dem leider bald darauf verstorbenen Kutscher« von Aichbergen niemals
jemand eingehend durchforscht; ebensowenig sind nach demselben Zeugnis die
an dritter Stelle angeführten Briefe Leisewitzens an seine Braut nach Kutscher«
irgendwer» zu erschöpfender Benutzung vorgelegt worden, von Seventornen
kann also diese Schriften nur aus den bisher durch von Heinemann, Kntschera
und Schiller*) veröffentlichten Bruchstücken kennen gelernt haben. Gleichwohl
giebt er sich das Ansehen, als wenn sie ihm eine bisher unbekannte Ausbeute
gewährt hätten. Daß man hiernach gegen die vierte Quelle, „ante sichere Tra¬
dition alter braunschweigischer Familien," etwas Mißtrauen faßt, wird einem kein
Billigdenkender verargen können. Endlich fügt der Verfasser noch hinzu: „Wenige
kleine Freiheiten, die der Verfasser in nebensächlichen Beziehungen sich mit Ort
und Zeit erlaubt hat, wird jeder Unbefangene billigen." Will er sich hierdurch
im voraus gegen alle Einwürfe und Berichtigungen sicher stellen? Dann ist



*) Zur Erinnerung an Gotthold Ephraim Lessing. Briefe und Aktenstücke ze., heraus¬
gegeben von O. v. Heinemann, Leipzig, 1870. — Johann Anton Leisewitz. Ein Beitrag
Mr Geschichte der deutschen Literatur im XVIII. Jahrhundert. Von Gregor Kntschera von
Aichbergen. Wien, 1876. — Herrigs Archiv XXXI, S. 353—410.
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[0140] Gin neuer Tessingmythus. Buch ist ohne die erforderliche Sachkenntnis geschrieben, ja es stellt sich mit unbestreitbaren Thatsachen in unlöslichen Widerspruch, so daß die Absicht des Verfassers, eine wahrheitsgetreue Schilderung der Zeitverhältnisse zu liefern, als völlig verfehlt bezeichnet werden muß. Der Name „von Seventornen" mutet heimatlich an: er ist einem Bnr- gensengeschlechte der Stadt Braunschweig entlehnt, dessen letzter Sproß, Alexander, nach Ausweis der Stadtbücher in der ersten Hülste des 14. Jahrhunderts gelebt hat. Mag aber der jetzige rsc1i?ion,8 von Geburt vielleicht kein Fremdling unter uns sein: in der Landesgeschichte ist er augenfällig nur sehr mäßig bewandert. Auf Schritt und Tritt stößt man bei ihm auf Fehler und Ungenauigkeiten, wie sie einem Manne, der sich über die Geschichte der Zeit ein Urteil erlauben will, unmöglich nachgesehen werden können. Schon die Aufführung der benutzten Quellen muß höchlichst überraschen. Er nennt hier zuerst „amtliche Dokumente der Behörden, welche dem Verfasser im Original vorlagen." Leider unterläßt er diese Behörden näher zu bezeichnen. Daß er aber die eigentlichen Regierungsakteu, welche sich im Landeshauptarchivc zu Wolfenbüttel befinden, nicht eingesehen hat, kann der Verfasser dieses Auf¬ satzes aus sicherer Kenntnis bezeugen. Auch die Akten der herzoglichen Kammer in Braunschweig, die für einzelne hier behandelte Fragen hätten in Betracht kommen können, sind eingezogener Erkundigung zufolge seit Jahrzehnten von niemand benutzt worden. Es werden weiter die Tagebücher von Leisewitz an¬ geführt, aber auch diese hat nach der Versicherung des Vorstandes des Braun¬ schweigischen Stadtarchivs, des Stadtarchivars Hänselmann, außer von Heine¬ mann und dem leider bald darauf verstorbenen Kutscher« von Aichbergen niemals jemand eingehend durchforscht; ebensowenig sind nach demselben Zeugnis die an dritter Stelle angeführten Briefe Leisewitzens an seine Braut nach Kutscher« irgendwer» zu erschöpfender Benutzung vorgelegt worden, von Seventornen kann also diese Schriften nur aus den bisher durch von Heinemann, Kntschera und Schiller*) veröffentlichten Bruchstücken kennen gelernt haben. Gleichwohl giebt er sich das Ansehen, als wenn sie ihm eine bisher unbekannte Ausbeute gewährt hätten. Daß man hiernach gegen die vierte Quelle, „ante sichere Tra¬ dition alter braunschweigischer Familien," etwas Mißtrauen faßt, wird einem kein Billigdenkender verargen können. Endlich fügt der Verfasser noch hinzu: „Wenige kleine Freiheiten, die der Verfasser in nebensächlichen Beziehungen sich mit Ort und Zeit erlaubt hat, wird jeder Unbefangene billigen." Will er sich hierdurch im voraus gegen alle Einwürfe und Berichtigungen sicher stellen? Dann ist *) Zur Erinnerung an Gotthold Ephraim Lessing. Briefe und Aktenstücke ze., heraus¬ gegeben von O. v. Heinemann, Leipzig, 1870. — Johann Anton Leisewitz. Ein Beitrag Mr Geschichte der deutschen Literatur im XVIII. Jahrhundert. Von Gregor Kntschera von Aichbergen. Wien, 1876. — Herrigs Archiv XXXI, S. 353—410.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/140>, abgerufen am 01.07.2024.