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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Pflichten des Reiches gegen die deutsche Auswanderung.

zogen, ohne Halt, ohne Belehrung, ohne bleibenden Zusammenhang mit dem
Vaterlande. Das einzige, was von einzelnen Staaten geleistet worden ist, sind
Polizcimaßregeln in kleinem Stil gewesen, wodurch in den Hafenstädten gewisse
Kontrole" geschaffen und die Auswanderuugsagcnteu überwacht wurden. Auch
ist, wie für Südbrasilien genugsam bekannt und erörtert ist, die Auswanderung
nach einzelnen mit Recht oder Unrecht als gefährlich geltenden Territorien ge¬
setzlich oder polizeilich erschwert und möglichst verhindert worden.

Man darf vielleicht ohne Übertreibung sagen, daß eine solche Vernach¬
lässigung der Auswanderung, eine solche Mißachtung und Preisgebung des
eignen Fleisches und Blutes, der eignen auferzogne" Landeskinder, welche größten¬
teils mit jammernden Herzen sich von der Heimat losreißen -- um dem blinden
Ungefähr überantwortet zu werden -- in der Geschichte fast unerhört ist. Sehen
wir uns in der alten wie in der neuen Geschichte um: überall, wo Völker
-- und seien es noch so kleine Staaten oder einzelne Städte -- ihren Be-
völkernngsüberschnß Hinausgehen ließen zur Gründung neuer Kolonien oder auch
zur einzelnen Niederlassung in fremden Völkern und Ländern, überall leitete
und schützte der Mutterstaat seine auswandernden Kinder, bis sie genügend
erstarkt waren.

Die Folgen des wilden, plan- und direktionslvsen Charakters der bisherigen
deutschen Auswanderung liegen traurig genug vor Auge". Abgesehen von
wenigen rühmlichen Ausnahme", wie in einzelnen Teilen Nordamerikas, ein
zersplittertes, haltloses Zigenuertnm ohne festen Zusammenhang unter sich, ohne
pietätvolle Verbindung mit dem Mutterlande. Ja wer viel im Auslande gereist
ist, wird bestätigen müssen, daß nicht selten von den Ausgewanderten nur mit
Groll und Abneigung des Vaterlandes und seiner Verhältnisse gedacht wird.
Kann es aber bei der bisherige" Sachlage anders sein? Der Auswanderer,
welcher sich ohnehin schon im Herzen als ein Ausgestoßener fühlt und mit Neid
auf die Glückliche" blickt, denen ein günstigeres Geschick das Verbleiben in den
heimischen Verhältnissen gestattet, er steht, sowie er das Schiffsverdeck betreten
hat, abgelöst von allem Halt, aller Hilfe, allem Zusammenhang mit der alten
Heimat da, und wenn es ihm gelingt, im neuen Lande sich eine bessere Existenz
zu erringe", so hat er jedenfalls dem Vaterlande dafür nicht zu danken.

Vielleicht verliert sich im Laufe der Zeit und zumal bei späterem Wohl¬
ergehen dieser Groll gegen das stiefmütterliche Stammland etwas; ganz schwindet
er selten, lind meist wird aus dem ausgewanderten Deutschen, wenn er nicht
der Nationalität des neuen Landes sich anschließt, ein haltloser Kosmopolit
kläglichsten Stiles.

Daß diese Zersplitterung der deutschen Auswanderung aber auch wirt¬
schaftlich sehr zu beklagen ist, braucht wohl nicht noch hervorgehoben zu werden.
Wo größere Massen Deutscher sich niedergelassen haben, würde unter normale"
Verhältnissen Handels- und Schiffsverbindung mit dem Mutterlande geschaffen


Die Pflichten des Reiches gegen die deutsche Auswanderung.

zogen, ohne Halt, ohne Belehrung, ohne bleibenden Zusammenhang mit dem
Vaterlande. Das einzige, was von einzelnen Staaten geleistet worden ist, sind
Polizcimaßregeln in kleinem Stil gewesen, wodurch in den Hafenstädten gewisse
Kontrole» geschaffen und die Auswanderuugsagcnteu überwacht wurden. Auch
ist, wie für Südbrasilien genugsam bekannt und erörtert ist, die Auswanderung
nach einzelnen mit Recht oder Unrecht als gefährlich geltenden Territorien ge¬
setzlich oder polizeilich erschwert und möglichst verhindert worden.

Man darf vielleicht ohne Übertreibung sagen, daß eine solche Vernach¬
lässigung der Auswanderung, eine solche Mißachtung und Preisgebung des
eignen Fleisches und Blutes, der eignen auferzogne» Landeskinder, welche größten¬
teils mit jammernden Herzen sich von der Heimat losreißen — um dem blinden
Ungefähr überantwortet zu werden — in der Geschichte fast unerhört ist. Sehen
wir uns in der alten wie in der neuen Geschichte um: überall, wo Völker
— und seien es noch so kleine Staaten oder einzelne Städte — ihren Be-
völkernngsüberschnß Hinausgehen ließen zur Gründung neuer Kolonien oder auch
zur einzelnen Niederlassung in fremden Völkern und Ländern, überall leitete
und schützte der Mutterstaat seine auswandernden Kinder, bis sie genügend
erstarkt waren.

Die Folgen des wilden, plan- und direktionslvsen Charakters der bisherigen
deutschen Auswanderung liegen traurig genug vor Auge». Abgesehen von
wenigen rühmlichen Ausnahme», wie in einzelnen Teilen Nordamerikas, ein
zersplittertes, haltloses Zigenuertnm ohne festen Zusammenhang unter sich, ohne
pietätvolle Verbindung mit dem Mutterlande. Ja wer viel im Auslande gereist
ist, wird bestätigen müssen, daß nicht selten von den Ausgewanderten nur mit
Groll und Abneigung des Vaterlandes und seiner Verhältnisse gedacht wird.
Kann es aber bei der bisherige» Sachlage anders sein? Der Auswanderer,
welcher sich ohnehin schon im Herzen als ein Ausgestoßener fühlt und mit Neid
auf die Glückliche» blickt, denen ein günstigeres Geschick das Verbleiben in den
heimischen Verhältnissen gestattet, er steht, sowie er das Schiffsverdeck betreten
hat, abgelöst von allem Halt, aller Hilfe, allem Zusammenhang mit der alten
Heimat da, und wenn es ihm gelingt, im neuen Lande sich eine bessere Existenz
zu erringe», so hat er jedenfalls dem Vaterlande dafür nicht zu danken.

Vielleicht verliert sich im Laufe der Zeit und zumal bei späterem Wohl¬
ergehen dieser Groll gegen das stiefmütterliche Stammland etwas; ganz schwindet
er selten, lind meist wird aus dem ausgewanderten Deutschen, wenn er nicht
der Nationalität des neuen Landes sich anschließt, ein haltloser Kosmopolit
kläglichsten Stiles.

Daß diese Zersplitterung der deutschen Auswanderung aber auch wirt¬
schaftlich sehr zu beklagen ist, braucht wohl nicht noch hervorgehoben zu werden.
Wo größere Massen Deutscher sich niedergelassen haben, würde unter normale»
Verhältnissen Handels- und Schiffsverbindung mit dem Mutterlande geschaffen


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[0123] Die Pflichten des Reiches gegen die deutsche Auswanderung. zogen, ohne Halt, ohne Belehrung, ohne bleibenden Zusammenhang mit dem Vaterlande. Das einzige, was von einzelnen Staaten geleistet worden ist, sind Polizcimaßregeln in kleinem Stil gewesen, wodurch in den Hafenstädten gewisse Kontrole» geschaffen und die Auswanderuugsagcnteu überwacht wurden. Auch ist, wie für Südbrasilien genugsam bekannt und erörtert ist, die Auswanderung nach einzelnen mit Recht oder Unrecht als gefährlich geltenden Territorien ge¬ setzlich oder polizeilich erschwert und möglichst verhindert worden. Man darf vielleicht ohne Übertreibung sagen, daß eine solche Vernach¬ lässigung der Auswanderung, eine solche Mißachtung und Preisgebung des eignen Fleisches und Blutes, der eignen auferzogne» Landeskinder, welche größten¬ teils mit jammernden Herzen sich von der Heimat losreißen — um dem blinden Ungefähr überantwortet zu werden — in der Geschichte fast unerhört ist. Sehen wir uns in der alten wie in der neuen Geschichte um: überall, wo Völker — und seien es noch so kleine Staaten oder einzelne Städte — ihren Be- völkernngsüberschnß Hinausgehen ließen zur Gründung neuer Kolonien oder auch zur einzelnen Niederlassung in fremden Völkern und Ländern, überall leitete und schützte der Mutterstaat seine auswandernden Kinder, bis sie genügend erstarkt waren. Die Folgen des wilden, plan- und direktionslvsen Charakters der bisherigen deutschen Auswanderung liegen traurig genug vor Auge». Abgesehen von wenigen rühmlichen Ausnahme», wie in einzelnen Teilen Nordamerikas, ein zersplittertes, haltloses Zigenuertnm ohne festen Zusammenhang unter sich, ohne pietätvolle Verbindung mit dem Mutterlande. Ja wer viel im Auslande gereist ist, wird bestätigen müssen, daß nicht selten von den Ausgewanderten nur mit Groll und Abneigung des Vaterlandes und seiner Verhältnisse gedacht wird. Kann es aber bei der bisherige» Sachlage anders sein? Der Auswanderer, welcher sich ohnehin schon im Herzen als ein Ausgestoßener fühlt und mit Neid auf die Glückliche» blickt, denen ein günstigeres Geschick das Verbleiben in den heimischen Verhältnissen gestattet, er steht, sowie er das Schiffsverdeck betreten hat, abgelöst von allem Halt, aller Hilfe, allem Zusammenhang mit der alten Heimat da, und wenn es ihm gelingt, im neuen Lande sich eine bessere Existenz zu erringe», so hat er jedenfalls dem Vaterlande dafür nicht zu danken. Vielleicht verliert sich im Laufe der Zeit und zumal bei späterem Wohl¬ ergehen dieser Groll gegen das stiefmütterliche Stammland etwas; ganz schwindet er selten, lind meist wird aus dem ausgewanderten Deutschen, wenn er nicht der Nationalität des neuen Landes sich anschließt, ein haltloser Kosmopolit kläglichsten Stiles. Daß diese Zersplitterung der deutschen Auswanderung aber auch wirt¬ schaftlich sehr zu beklagen ist, braucht wohl nicht noch hervorgehoben zu werden. Wo größere Massen Deutscher sich niedergelassen haben, würde unter normale» Verhältnissen Handels- und Schiffsverbindung mit dem Mutterlande geschaffen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/123>, abgerufen am 03.07.2024.