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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbiirdungsfrage.

Wochen mich dem Kandidatenexamen noch unterzog. Jetzt wurde alles eins den
Kopf gestellt. Um mit einer "druckfähigen" Doktordissertcition glänzen zu
können, verloren sich die jungen Leute, kaum nachdem sie ihre Studien begonnen,
in Spezialitäten oft der kleinlichsten Art, mit ganz besondrer Vorliebe in
grammatische Quisquilien. Bei wie vielen Dissertationen ließen sich die wissen¬
schaftlichen Resultate schließlich in so viele Zeilen zusammenfassen, als der
Student Semester über der Arbeit gehockt hatte! Dann erst, nachdem das
Doktorexamen bestanden war, fing man an, die Kandidatenprüfung in Er-
wügnng zu ziehen, und suchte sich nun notdürftig ans Handbüchern und
Kompendien diejenigen Kenntnisse zu verschaffen, die man sich durch fleißigen
Kollegienbesuch und umfassende Lektüre der griechischen und römischen Autoren
Hütte erwerben müssen. Auf diese Weise sind jene modernen Gymnasialphilologen
fertig geworden, die ganz genau wissen, wie oft und an welchen Stellen Cäsar
iM geschrieben hat, wo man eigentlich Ä non erwarten sollte, aber in Ver¬
legenheit kommen, wenn ihnen ein griechischer Künstlername in den Weg
läuft, die schöne Kollektaneeu über <ox o'^s und ^ ore, angelegt, aber nie¬
mals Zeit gefunden haben, sich um den Parthenon oder gar um ein griechisches
Vasenbild zu kümmern. Ich habe Gelegenheit gehabt, einen Schüler Ritschls
kennen zu lernen, der vier Jahre lang in Leipzig studiert hatte und sich
rühmte (!), in dieser ganzen Zeit nie ein archäologisches Kolleg gehört zu haben.
Es ist schlechterdings nicht zu leugnen: das heutige Gymnasium vermittelt keine
lebendige Kenntnis und demgemäß auch keine rechte Begeisterung sür das klassische
Altertum mehr, weil die Lehrer selbst nicht mehr darin zu Hause sind. Darum
verliert auch die heutige Gymnasialbildung mehr und mehr von jener nach¬
wirkender Kraft, die in früherer Zeit jeden, der ihrer einmal teilhaftig geworden,
für sein ganzes Leben über die große Masse emporhob.

Als dritten Grund für unsre jetzigen Gymnasialzustände pflegt man den
Mangel an Erfahrung bei den jüngern Lehrkräften anzuführen. Wie kommt
es aber, daß diese Ursache sich gerade gegenwärtig fühlbar machen soll? Hat
es nicht zu allen Zeiten junge und unerfahrene Lehrer gegeben? Gewiß. Aber
zu keiner Zeit haben sie so die Majorität gebildet und so viel Einfluß gewonnen,
wie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Durch das leidige Verechtigungs-
wesen, durch das rapide Wachsen unsrer großen Städte haben sich die Gymnasien
in unerwarteter Progression ausgedehnt, sie sind hie und da zu wahren
Gymnasialkascrnen geworden. Für junge Philologen war da gute Zeit, sie
kamen sofort ins Amt, um Leute, die sich ein gutes wissenschaftliches Renommee
erworben und ein gutes Examen bestanden hatten, riß man sich förmlich. Eine
Schule, deren Kollegium 1865 aus neun Lehrern bestand, hatte 1880 deren
fünf- oder sechsundzwanzig, darunter nicht einen einzigen alten, im Amte er-
grauten Manu, sondern siehe" oder acht in mittleren Jahren stehende, die andern
lauter junge Leute, nicht mehr jung genug, und doch auch noch nicht alt genug,


Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbiirdungsfrage.

Wochen mich dem Kandidatenexamen noch unterzog. Jetzt wurde alles eins den
Kopf gestellt. Um mit einer „druckfähigen" Doktordissertcition glänzen zu
können, verloren sich die jungen Leute, kaum nachdem sie ihre Studien begonnen,
in Spezialitäten oft der kleinlichsten Art, mit ganz besondrer Vorliebe in
grammatische Quisquilien. Bei wie vielen Dissertationen ließen sich die wissen¬
schaftlichen Resultate schließlich in so viele Zeilen zusammenfassen, als der
Student Semester über der Arbeit gehockt hatte! Dann erst, nachdem das
Doktorexamen bestanden war, fing man an, die Kandidatenprüfung in Er-
wügnng zu ziehen, und suchte sich nun notdürftig ans Handbüchern und
Kompendien diejenigen Kenntnisse zu verschaffen, die man sich durch fleißigen
Kollegienbesuch und umfassende Lektüre der griechischen und römischen Autoren
Hütte erwerben müssen. Auf diese Weise sind jene modernen Gymnasialphilologen
fertig geworden, die ganz genau wissen, wie oft und an welchen Stellen Cäsar
iM geschrieben hat, wo man eigentlich Ä non erwarten sollte, aber in Ver¬
legenheit kommen, wenn ihnen ein griechischer Künstlername in den Weg
läuft, die schöne Kollektaneeu über <ox o'^s und ^ ore, angelegt, aber nie¬
mals Zeit gefunden haben, sich um den Parthenon oder gar um ein griechisches
Vasenbild zu kümmern. Ich habe Gelegenheit gehabt, einen Schüler Ritschls
kennen zu lernen, der vier Jahre lang in Leipzig studiert hatte und sich
rühmte (!), in dieser ganzen Zeit nie ein archäologisches Kolleg gehört zu haben.
Es ist schlechterdings nicht zu leugnen: das heutige Gymnasium vermittelt keine
lebendige Kenntnis und demgemäß auch keine rechte Begeisterung sür das klassische
Altertum mehr, weil die Lehrer selbst nicht mehr darin zu Hause sind. Darum
verliert auch die heutige Gymnasialbildung mehr und mehr von jener nach¬
wirkender Kraft, die in früherer Zeit jeden, der ihrer einmal teilhaftig geworden,
für sein ganzes Leben über die große Masse emporhob.

Als dritten Grund für unsre jetzigen Gymnasialzustände pflegt man den
Mangel an Erfahrung bei den jüngern Lehrkräften anzuführen. Wie kommt
es aber, daß diese Ursache sich gerade gegenwärtig fühlbar machen soll? Hat
es nicht zu allen Zeiten junge und unerfahrene Lehrer gegeben? Gewiß. Aber
zu keiner Zeit haben sie so die Majorität gebildet und so viel Einfluß gewonnen,
wie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Durch das leidige Verechtigungs-
wesen, durch das rapide Wachsen unsrer großen Städte haben sich die Gymnasien
in unerwarteter Progression ausgedehnt, sie sind hie und da zu wahren
Gymnasialkascrnen geworden. Für junge Philologen war da gute Zeit, sie
kamen sofort ins Amt, um Leute, die sich ein gutes wissenschaftliches Renommee
erworben und ein gutes Examen bestanden hatten, riß man sich förmlich. Eine
Schule, deren Kollegium 1865 aus neun Lehrern bestand, hatte 1880 deren
fünf- oder sechsundzwanzig, darunter nicht einen einzigen alten, im Amte er-
grauten Manu, sondern siehe» oder acht in mittleren Jahren stehende, die andern
lauter junge Leute, nicht mehr jung genug, und doch auch noch nicht alt genug,


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[0096] Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbiirdungsfrage. Wochen mich dem Kandidatenexamen noch unterzog. Jetzt wurde alles eins den Kopf gestellt. Um mit einer „druckfähigen" Doktordissertcition glänzen zu können, verloren sich die jungen Leute, kaum nachdem sie ihre Studien begonnen, in Spezialitäten oft der kleinlichsten Art, mit ganz besondrer Vorliebe in grammatische Quisquilien. Bei wie vielen Dissertationen ließen sich die wissen¬ schaftlichen Resultate schließlich in so viele Zeilen zusammenfassen, als der Student Semester über der Arbeit gehockt hatte! Dann erst, nachdem das Doktorexamen bestanden war, fing man an, die Kandidatenprüfung in Er- wügnng zu ziehen, und suchte sich nun notdürftig ans Handbüchern und Kompendien diejenigen Kenntnisse zu verschaffen, die man sich durch fleißigen Kollegienbesuch und umfassende Lektüre der griechischen und römischen Autoren Hütte erwerben müssen. Auf diese Weise sind jene modernen Gymnasialphilologen fertig geworden, die ganz genau wissen, wie oft und an welchen Stellen Cäsar iM geschrieben hat, wo man eigentlich Ä non erwarten sollte, aber in Ver¬ legenheit kommen, wenn ihnen ein griechischer Künstlername in den Weg läuft, die schöne Kollektaneeu über <ox o'^s und ^ ore, angelegt, aber nie¬ mals Zeit gefunden haben, sich um den Parthenon oder gar um ein griechisches Vasenbild zu kümmern. Ich habe Gelegenheit gehabt, einen Schüler Ritschls kennen zu lernen, der vier Jahre lang in Leipzig studiert hatte und sich rühmte (!), in dieser ganzen Zeit nie ein archäologisches Kolleg gehört zu haben. Es ist schlechterdings nicht zu leugnen: das heutige Gymnasium vermittelt keine lebendige Kenntnis und demgemäß auch keine rechte Begeisterung sür das klassische Altertum mehr, weil die Lehrer selbst nicht mehr darin zu Hause sind. Darum verliert auch die heutige Gymnasialbildung mehr und mehr von jener nach¬ wirkender Kraft, die in früherer Zeit jeden, der ihrer einmal teilhaftig geworden, für sein ganzes Leben über die große Masse emporhob. Als dritten Grund für unsre jetzigen Gymnasialzustände pflegt man den Mangel an Erfahrung bei den jüngern Lehrkräften anzuführen. Wie kommt es aber, daß diese Ursache sich gerade gegenwärtig fühlbar machen soll? Hat es nicht zu allen Zeiten junge und unerfahrene Lehrer gegeben? Gewiß. Aber zu keiner Zeit haben sie so die Majorität gebildet und so viel Einfluß gewonnen, wie in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Durch das leidige Verechtigungs- wesen, durch das rapide Wachsen unsrer großen Städte haben sich die Gymnasien in unerwarteter Progression ausgedehnt, sie sind hie und da zu wahren Gymnasialkascrnen geworden. Für junge Philologen war da gute Zeit, sie kamen sofort ins Amt, um Leute, die sich ein gutes wissenschaftliches Renommee erworben und ein gutes Examen bestanden hatten, riß man sich förmlich. Eine Schule, deren Kollegium 1865 aus neun Lehrern bestand, hatte 1880 deren fünf- oder sechsundzwanzig, darunter nicht einen einzigen alten, im Amte er- grauten Manu, sondern siehe» oder acht in mittleren Jahren stehende, die andern lauter junge Leute, nicht mehr jung genug, und doch auch noch nicht alt genug,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/96>, abgerufen am 25.08.2024.