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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die deutsche und die französische Volksdichtung.

Woher dieser Abgrund, welcher sich unleugbar zwischen der Kunst- und
Volkspoesie in Frankreich zeigt, woher diese befremdende Erscheinung, daß das
Volk nicht teilnimmt an den Meisterwerken seiner Kunstdichter, und die ge¬
bildeten Kreise weit davon entfernt sind, die literarischen Schätze des Volkes zu
ahnen und zu begreifen?

Dieser Riß wurde vorbereitet im sechzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der
Renaissance, also gerade in einer Zeit, welche für die Volksliteratur eine Blüte¬
zeit genannt werden darf. Die leuchtenden Vorbilder, welche Griechenland und
Rom der gebildeten Welt jener Tage entgegentrugen, nahmen dieselbe in so
hohem Maße gesungen, daß sie die heimische Poesie zu vergessen begann und in
der überkommenen fremden aufging. Thut doch der Herold dieser neuen Richtung
Du Bellay in seiner IllustiÄtion as 1a lanssus trancMs die heimische Dichtkunst
mit den Worten ab: "Gieb diese alten französischen Dichtungen, Balladen, Lieder
und andre Tändeleien (se autrss teils" Spiesriös) auf, welche den Geschmack an
unsrer Sprache verderben und keinen andern Zweck haben als Zeugnis von
unsrer Unwissenheit abzulegen," während das Haupt der sogenannten Plejade,
Ronsard, welcher den französischen Parnaß in nie wiedergesehener Weise be¬
herrschte, im Grunde doch volkstümlich blieb. So eingenommen er auch von den
Vorzügen der Antike gegenüber der heimischen Dichtung sein mochte, er ver¬
suchte doch das heimische Element mit dem antiken zu verschmelzen. Erst das
siebzehnte Jahrhundert löste sich vollständig von dem volkstümlichen Boden los.
ging einseitig in der Antike auf, wie dieses am schlagendsten der ^,re xostiaue
des Boileau und besonders jene Stelle beweist, in welcher der Gesetzgeber des
Parnaß als den ersten, welcher


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OsdromUs, I'^re "ortus as iwuZ visux romÄneisrs,

Viktor preist und damit die an nationalen Erinnerungen reiche Literatur der
vergangnen Jahrhunderte souverän in den Bann thut. Die Poesie, welche so
auf das Altertum gepfropft erblüte, an Feinheit und Rundung hatte sie wohl
gewonnen, an Saft und Ursprünglichkeit aber verloren.

So blieben die Verhältnisse das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch,
und ausdrücklich bezeugt Villemain, daß Laharpe die Kreise der Hauptstadt wohl
für die Kunstdichtung zu begeistern wußte, mit vornehmer Verachtung dagegen
auf jene Studien herabsah, welche sich mit dem Volke beschäftigten. Erst mit
dem Eintritt der Revolution, welche unter den Klängen der Marseillaise ihren
Einzug hielt, begann auch in der Dichtung neues Leben zu Pulsiren. Einen
Augenblick schien es, als wenn die Revolution, welche von der Provinz ausging,
auch den Keim zu einer mehr volkstümlichen Dichtung erwecken sollte. Aber
unglücklicherweise, wenigstens für die Poesie, konzentrirte sich die Revolution in
Paris und führte zum Kaiserreich, und unter dem eisernen Szepter, welches


Grenzboten I. 1883. 87
Die deutsche und die französische Volksdichtung.

Woher dieser Abgrund, welcher sich unleugbar zwischen der Kunst- und
Volkspoesie in Frankreich zeigt, woher diese befremdende Erscheinung, daß das
Volk nicht teilnimmt an den Meisterwerken seiner Kunstdichter, und die ge¬
bildeten Kreise weit davon entfernt sind, die literarischen Schätze des Volkes zu
ahnen und zu begreifen?

Dieser Riß wurde vorbereitet im sechzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der
Renaissance, also gerade in einer Zeit, welche für die Volksliteratur eine Blüte¬
zeit genannt werden darf. Die leuchtenden Vorbilder, welche Griechenland und
Rom der gebildeten Welt jener Tage entgegentrugen, nahmen dieselbe in so
hohem Maße gesungen, daß sie die heimische Poesie zu vergessen begann und in
der überkommenen fremden aufging. Thut doch der Herold dieser neuen Richtung
Du Bellay in seiner IllustiÄtion as 1a lanssus trancMs die heimische Dichtkunst
mit den Worten ab: „Gieb diese alten französischen Dichtungen, Balladen, Lieder
und andre Tändeleien (se autrss teils« Spiesriös) auf, welche den Geschmack an
unsrer Sprache verderben und keinen andern Zweck haben als Zeugnis von
unsrer Unwissenheit abzulegen," während das Haupt der sogenannten Plejade,
Ronsard, welcher den französischen Parnaß in nie wiedergesehener Weise be¬
herrschte, im Grunde doch volkstümlich blieb. So eingenommen er auch von den
Vorzügen der Antike gegenüber der heimischen Dichtung sein mochte, er ver¬
suchte doch das heimische Element mit dem antiken zu verschmelzen. Erst das
siebzehnte Jahrhundert löste sich vollständig von dem volkstümlichen Boden los.
ging einseitig in der Antike auf, wie dieses am schlagendsten der ^,re xostiaue
des Boileau und besonders jene Stelle beweist, in welcher der Gesetzgeber des
Parnaß als den ersten, welcher


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OsdromUs, I'^re «ortus as iwuZ visux romÄneisrs,

Viktor preist und damit die an nationalen Erinnerungen reiche Literatur der
vergangnen Jahrhunderte souverän in den Bann thut. Die Poesie, welche so
auf das Altertum gepfropft erblüte, an Feinheit und Rundung hatte sie wohl
gewonnen, an Saft und Ursprünglichkeit aber verloren.

So blieben die Verhältnisse das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch,
und ausdrücklich bezeugt Villemain, daß Laharpe die Kreise der Hauptstadt wohl
für die Kunstdichtung zu begeistern wußte, mit vornehmer Verachtung dagegen
auf jene Studien herabsah, welche sich mit dem Volke beschäftigten. Erst mit
dem Eintritt der Revolution, welche unter den Klängen der Marseillaise ihren
Einzug hielt, begann auch in der Dichtung neues Leben zu Pulsiren. Einen
Augenblick schien es, als wenn die Revolution, welche von der Provinz ausging,
auch den Keim zu einer mehr volkstümlichen Dichtung erwecken sollte. Aber
unglücklicherweise, wenigstens für die Poesie, konzentrirte sich die Revolution in
Paris und führte zum Kaiserreich, und unter dem eisernen Szepter, welches


Grenzboten I. 1883. 87
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[0697] Die deutsche und die französische Volksdichtung. Woher dieser Abgrund, welcher sich unleugbar zwischen der Kunst- und Volkspoesie in Frankreich zeigt, woher diese befremdende Erscheinung, daß das Volk nicht teilnimmt an den Meisterwerken seiner Kunstdichter, und die ge¬ bildeten Kreise weit davon entfernt sind, die literarischen Schätze des Volkes zu ahnen und zu begreifen? Dieser Riß wurde vorbereitet im sechzehnten Jahrhundert, im Zeitalter der Renaissance, also gerade in einer Zeit, welche für die Volksliteratur eine Blüte¬ zeit genannt werden darf. Die leuchtenden Vorbilder, welche Griechenland und Rom der gebildeten Welt jener Tage entgegentrugen, nahmen dieselbe in so hohem Maße gesungen, daß sie die heimische Poesie zu vergessen begann und in der überkommenen fremden aufging. Thut doch der Herold dieser neuen Richtung Du Bellay in seiner IllustiÄtion as 1a lanssus trancMs die heimische Dichtkunst mit den Worten ab: „Gieb diese alten französischen Dichtungen, Balladen, Lieder und andre Tändeleien (se autrss teils« Spiesriös) auf, welche den Geschmack an unsrer Sprache verderben und keinen andern Zweck haben als Zeugnis von unsrer Unwissenheit abzulegen," während das Haupt der sogenannten Plejade, Ronsard, welcher den französischen Parnaß in nie wiedergesehener Weise be¬ herrschte, im Grunde doch volkstümlich blieb. So eingenommen er auch von den Vorzügen der Antike gegenüber der heimischen Dichtung sein mochte, er ver¬ suchte doch das heimische Element mit dem antiken zu verschmelzen. Erst das siebzehnte Jahrhundert löste sich vollständig von dem volkstümlichen Boden los. ging einseitig in der Antike auf, wie dieses am schlagendsten der ^,re xostiaue des Boileau und besonders jene Stelle beweist, in welcher der Gesetzgeber des Parnaß als den ersten, welcher as,us ess sisolsg ^rossisrs OsdromUs, I'^re «ortus as iwuZ visux romÄneisrs, Viktor preist und damit die an nationalen Erinnerungen reiche Literatur der vergangnen Jahrhunderte souverän in den Bann thut. Die Poesie, welche so auf das Altertum gepfropft erblüte, an Feinheit und Rundung hatte sie wohl gewonnen, an Saft und Ursprünglichkeit aber verloren. So blieben die Verhältnisse das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch, und ausdrücklich bezeugt Villemain, daß Laharpe die Kreise der Hauptstadt wohl für die Kunstdichtung zu begeistern wußte, mit vornehmer Verachtung dagegen auf jene Studien herabsah, welche sich mit dem Volke beschäftigten. Erst mit dem Eintritt der Revolution, welche unter den Klängen der Marseillaise ihren Einzug hielt, begann auch in der Dichtung neues Leben zu Pulsiren. Einen Augenblick schien es, als wenn die Revolution, welche von der Provinz ausging, auch den Keim zu einer mehr volkstümlichen Dichtung erwecken sollte. Aber unglücklicherweise, wenigstens für die Poesie, konzentrirte sich die Revolution in Paris und führte zum Kaiserreich, und unter dem eisernen Szepter, welches Grenzboten I. 1883. 87

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/697>, abgerufen am 23.07.2024.