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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

für zu vornehm dazu halten. Aber für keinen der daran beteiligten kaun es
von Nutzen sein, wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dem
Volke zu übermitteln, das Amt, das nur den kundigsten Händen anvertraut
werden sollte, gewöhnlichen Leuten überlassen wird, die aus dem lebendigen
Quell der Wissenschaft selbst niemals einen frischen Trunk gethan, nicht selten
leichtfertigen, aber umso fingerfertigeren Lohnschreibcni. Es wäre von hohem
Interesse und gewiß äußerst lehrreich, könnte man einmal für einen größern
Kreis sozusagen statistisch feststellen, woher eigentlich unsre Gebildeten die Summe
historischer Kenntnisse beziehen, die allein zum Verständnis der Tngesgeschichte
unentbehrlich sind, worin also ihre historische Lektüre besteht. Das Ergebnis,
glaube ich, würde ein erschreckendes Mißverhältnis ausweisen zwischen dem hohen
wissenschaftlichen Staude der deutschen Geschichtschreibung und dem Maße der
geschichtlichen Bildung, zwischen der Produktivität der historischen Literatur und
den geringen Beständen der Privatbibliotheken an geschichtlichen Werken, unter
deuen Weiter und Wernicke wohl am stärksten vertreten sein dürften!

Und dennoch, meine ich, wird sich billigerweise nicht in Abrede stellen lassen,
daß seit etwa länger als einem Jahrzehnt in diesen Dingen eine erfreuliche
Wandlung begonnen hat und in fortschreitendem Vollzüge begriffen ist. Die
historische Literatur ist im Vergleich mit früher doch schon in mancher Hinsicht eine
andre geworden: sie gewann die allzu lange entbehrte Fühlung mit der Nation
wieder, erlangte von neuem die Fähigkeit, auf dieselbe zu wirken, und die Nation
nimmt infolge dessen auch an ihren Leistungen einen lebendigem und frischern
Anteil. Was andres aber sollte man in diesem gesteigerten historischen Interesse
zu sehen haben als eine Nachwirkung der großen geschichtlichen Ereignisse, deren
Zeuge nicht bloß, deren Träger das deutsche Volk gewesen, als eine Bethätigung
des gesteigerten nationalen Sinnes, des lebendigem nationalen Bewußtseins, die
es von den Schlachtfeldern Frankreichs mit heimgebracht?

Denn schon in früheren Zeiten wird jedesmal, wenn das deutsche Volk
sich zur Nation zusammenzufassen versucht, auch ein Ansatz, ein Anlauf zu
nationaler Geschichtschreibung bemerkbar. Im Zeitalter Maximilians, wo Deutsch¬
land sich geistig verjüngte und die Wege Italiens gehen zu wollen schien, dann
wieder im Höhcstaud der reformatorischen Bewegung, wo mit der kirchlichen
Neugestaltung zugleich auch die politische und soziale Wiedergeburt des deutschen
Volkes nahe schien, sind mehrfach nicht verächtliche Versuche in dieser Richtung
gemacht worden. Im Zeitalter Friedrichs des Großen stellte Lessing die Forderung,
die Geschichte möge sich endlich abwenden von den älteren Zeiten, welche, arm
an Quellen, aber reich an kritischen Kontroversen, eine kunstmäßige, auf ein
größeres Publikum zu wirken befähigte Behandlung überhaupt nicht zuließen,
wenn man nicht lauter Hypothesen statt Thatsachen bringen wollte, und ver¬
langte, sie sollte sich statt dessen vielmehr an die lebensvolle, an großen Thaten
reiche und einen jeden packende Geschichte der Gegenwart halten, die allein


Über nationale Geschichtschreibung.

für zu vornehm dazu halten. Aber für keinen der daran beteiligten kaun es
von Nutzen sein, wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dem
Volke zu übermitteln, das Amt, das nur den kundigsten Händen anvertraut
werden sollte, gewöhnlichen Leuten überlassen wird, die aus dem lebendigen
Quell der Wissenschaft selbst niemals einen frischen Trunk gethan, nicht selten
leichtfertigen, aber umso fingerfertigeren Lohnschreibcni. Es wäre von hohem
Interesse und gewiß äußerst lehrreich, könnte man einmal für einen größern
Kreis sozusagen statistisch feststellen, woher eigentlich unsre Gebildeten die Summe
historischer Kenntnisse beziehen, die allein zum Verständnis der Tngesgeschichte
unentbehrlich sind, worin also ihre historische Lektüre besteht. Das Ergebnis,
glaube ich, würde ein erschreckendes Mißverhältnis ausweisen zwischen dem hohen
wissenschaftlichen Staude der deutschen Geschichtschreibung und dem Maße der
geschichtlichen Bildung, zwischen der Produktivität der historischen Literatur und
den geringen Beständen der Privatbibliotheken an geschichtlichen Werken, unter
deuen Weiter und Wernicke wohl am stärksten vertreten sein dürften!

Und dennoch, meine ich, wird sich billigerweise nicht in Abrede stellen lassen,
daß seit etwa länger als einem Jahrzehnt in diesen Dingen eine erfreuliche
Wandlung begonnen hat und in fortschreitendem Vollzüge begriffen ist. Die
historische Literatur ist im Vergleich mit früher doch schon in mancher Hinsicht eine
andre geworden: sie gewann die allzu lange entbehrte Fühlung mit der Nation
wieder, erlangte von neuem die Fähigkeit, auf dieselbe zu wirken, und die Nation
nimmt infolge dessen auch an ihren Leistungen einen lebendigem und frischern
Anteil. Was andres aber sollte man in diesem gesteigerten historischen Interesse
zu sehen haben als eine Nachwirkung der großen geschichtlichen Ereignisse, deren
Zeuge nicht bloß, deren Träger das deutsche Volk gewesen, als eine Bethätigung
des gesteigerten nationalen Sinnes, des lebendigem nationalen Bewußtseins, die
es von den Schlachtfeldern Frankreichs mit heimgebracht?

Denn schon in früheren Zeiten wird jedesmal, wenn das deutsche Volk
sich zur Nation zusammenzufassen versucht, auch ein Ansatz, ein Anlauf zu
nationaler Geschichtschreibung bemerkbar. Im Zeitalter Maximilians, wo Deutsch¬
land sich geistig verjüngte und die Wege Italiens gehen zu wollen schien, dann
wieder im Höhcstaud der reformatorischen Bewegung, wo mit der kirchlichen
Neugestaltung zugleich auch die politische und soziale Wiedergeburt des deutschen
Volkes nahe schien, sind mehrfach nicht verächtliche Versuche in dieser Richtung
gemacht worden. Im Zeitalter Friedrichs des Großen stellte Lessing die Forderung,
die Geschichte möge sich endlich abwenden von den älteren Zeiten, welche, arm
an Quellen, aber reich an kritischen Kontroversen, eine kunstmäßige, auf ein
größeres Publikum zu wirken befähigte Behandlung überhaupt nicht zuließen,
wenn man nicht lauter Hypothesen statt Thatsachen bringen wollte, und ver¬
langte, sie sollte sich statt dessen vielmehr an die lebensvolle, an großen Thaten
reiche und einen jeden packende Geschichte der Gegenwart halten, die allein


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[0687] Über nationale Geschichtschreibung. für zu vornehm dazu halten. Aber für keinen der daran beteiligten kaun es von Nutzen sein, wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung dem Volke zu übermitteln, das Amt, das nur den kundigsten Händen anvertraut werden sollte, gewöhnlichen Leuten überlassen wird, die aus dem lebendigen Quell der Wissenschaft selbst niemals einen frischen Trunk gethan, nicht selten leichtfertigen, aber umso fingerfertigeren Lohnschreibcni. Es wäre von hohem Interesse und gewiß äußerst lehrreich, könnte man einmal für einen größern Kreis sozusagen statistisch feststellen, woher eigentlich unsre Gebildeten die Summe historischer Kenntnisse beziehen, die allein zum Verständnis der Tngesgeschichte unentbehrlich sind, worin also ihre historische Lektüre besteht. Das Ergebnis, glaube ich, würde ein erschreckendes Mißverhältnis ausweisen zwischen dem hohen wissenschaftlichen Staude der deutschen Geschichtschreibung und dem Maße der geschichtlichen Bildung, zwischen der Produktivität der historischen Literatur und den geringen Beständen der Privatbibliotheken an geschichtlichen Werken, unter deuen Weiter und Wernicke wohl am stärksten vertreten sein dürften! Und dennoch, meine ich, wird sich billigerweise nicht in Abrede stellen lassen, daß seit etwa länger als einem Jahrzehnt in diesen Dingen eine erfreuliche Wandlung begonnen hat und in fortschreitendem Vollzüge begriffen ist. Die historische Literatur ist im Vergleich mit früher doch schon in mancher Hinsicht eine andre geworden: sie gewann die allzu lange entbehrte Fühlung mit der Nation wieder, erlangte von neuem die Fähigkeit, auf dieselbe zu wirken, und die Nation nimmt infolge dessen auch an ihren Leistungen einen lebendigem und frischern Anteil. Was andres aber sollte man in diesem gesteigerten historischen Interesse zu sehen haben als eine Nachwirkung der großen geschichtlichen Ereignisse, deren Zeuge nicht bloß, deren Träger das deutsche Volk gewesen, als eine Bethätigung des gesteigerten nationalen Sinnes, des lebendigem nationalen Bewußtseins, die es von den Schlachtfeldern Frankreichs mit heimgebracht? Denn schon in früheren Zeiten wird jedesmal, wenn das deutsche Volk sich zur Nation zusammenzufassen versucht, auch ein Ansatz, ein Anlauf zu nationaler Geschichtschreibung bemerkbar. Im Zeitalter Maximilians, wo Deutsch¬ land sich geistig verjüngte und die Wege Italiens gehen zu wollen schien, dann wieder im Höhcstaud der reformatorischen Bewegung, wo mit der kirchlichen Neugestaltung zugleich auch die politische und soziale Wiedergeburt des deutschen Volkes nahe schien, sind mehrfach nicht verächtliche Versuche in dieser Richtung gemacht worden. Im Zeitalter Friedrichs des Großen stellte Lessing die Forderung, die Geschichte möge sich endlich abwenden von den älteren Zeiten, welche, arm an Quellen, aber reich an kritischen Kontroversen, eine kunstmäßige, auf ein größeres Publikum zu wirken befähigte Behandlung überhaupt nicht zuließen, wenn man nicht lauter Hypothesen statt Thatsachen bringen wollte, und ver¬ langte, sie sollte sich statt dessen vielmehr an die lebensvolle, an großen Thaten reiche und einen jeden packende Geschichte der Gegenwart halten, die allein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/687>, abgerufen am 24.07.2024.