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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

Die christlich-germanische Schwärmerei mit ihren stark katholisirenden Neigungen
wurde Mode, wurde eine Macht; aus der Literatur und der Kunst fand sie
ihren Weg in die Politik und in die Kirche.

War es da nun wohl zu verwundern, wenn nachher, beim Beginn eines
neuen, gesünderen politischen Lebens in Deutschland, das eben noch vergötterte
Mittelalter wiederum der Gegenstand der heftigsten Angriffe wurde? Wenn
man dasselbe gar sür die Mängel der Gegenwart verantwortlich machte, indem
man die moderne Feudalität fälschlich mit der mittelalterlichen, die hierarchischen
Bestrebungen der protestantischen Orthodoxie einfach mit dem hierarchischen Papst¬
tum zusammenwarf? Mußte in einer innerlich so stürmisch gährenden Zeit da
nicht schließlich immer Weilern Kreisen erst die Fähigkeit und dann auch der
gute Wille verloren gehen, dem Mittelalter historisch gerecht zu werden?

Die damals entstandenen Gegensätze aber kämpfen noch heute miteinander,
so Großes inzwischen durch die um Ranke geschaarte kritische Schule in der
wissenschaftlichen Erforschung des Mittelalters geleistet sein mag. Noch fehlt
eine allgemein anerkannte Durchschnittsauffassung, ein nationales Bild des deut¬
schen Mittelalters, in welchem diejenigen Züge desselben, die in ihrer Bedeutung
für die Gesamtentwicklung Deutschlands von alle" gleichmüßig anerkannt sind,
einheitlich zusammengefaßt wäre". Dem sentimental romantisircnden Standpunkte,
den Wilhelm von Giesebrecht in seiner deutsche" Kaisergeschichte einnimmt, stellt
sich schroff der politisch-kritische entgegen, den zuerst Heinrich von Sybel ver¬
treten, indem er die in die Ferne schweifende, unerreichbaren Idealen nachjagende
Kaiserpolitik der Ottonen, Salier und Staufer mit beredten, aber doch nicht
berechtigten Worten als die erste und eigentliche Quelle alles Elends nachzu¬
weisen suchte, welches Deutschland in der Folgezeit getroffen und auf Jahr¬
hunderte zur Ohnmacht und Zerrissenheit verurteilt hat.

Jedenfalls ist das deutsche Mittelalter in seiner Gesamtbedeutung für die
Entwicklung der deutschen Nation noch kontrovers, noch ist diese nicht von
dem Standpunkte der nationalen Geschichtschreibung festgelegt. Wo und wie
sie diskutirt werden mag, sofort entbrennt der Kampf zwischen Zcntralisten und
Partikularisten, zwischen Groß- und Kleindeutschen, zwischen Welsen und Ghi-
bellinen aufs neue.

Aber bei welcher von den großen Epochen der deutschen Geschichte, die für
eine nationale Historiographie vorzugsweise in Betracht kommen würde", ist
nicht das gleiche, zum Teil in noch weit höherm Maße der Fall?

Ich denke zunächst an die Reformation. In der Erneuerung der evan¬
gelischen Lehre durch den thüringischen Bauernsohn, welcher deutsches Volks¬
bewußtsein und deutsches Volksgewissen in sich verkörperte, sieht der eine Teil
der deutschen Nation die herrlichste Großthat deutscher geistiger und sittlicher
Kraft, der andre verurteilt sie als eine revolutionäre Verirrung, als eine
frevelhafte Auflehnung gegen göttliches und menschliches Recht. Während die


Über nationale Geschichtschreibung.

Die christlich-germanische Schwärmerei mit ihren stark katholisirenden Neigungen
wurde Mode, wurde eine Macht; aus der Literatur und der Kunst fand sie
ihren Weg in die Politik und in die Kirche.

War es da nun wohl zu verwundern, wenn nachher, beim Beginn eines
neuen, gesünderen politischen Lebens in Deutschland, das eben noch vergötterte
Mittelalter wiederum der Gegenstand der heftigsten Angriffe wurde? Wenn
man dasselbe gar sür die Mängel der Gegenwart verantwortlich machte, indem
man die moderne Feudalität fälschlich mit der mittelalterlichen, die hierarchischen
Bestrebungen der protestantischen Orthodoxie einfach mit dem hierarchischen Papst¬
tum zusammenwarf? Mußte in einer innerlich so stürmisch gährenden Zeit da
nicht schließlich immer Weilern Kreisen erst die Fähigkeit und dann auch der
gute Wille verloren gehen, dem Mittelalter historisch gerecht zu werden?

Die damals entstandenen Gegensätze aber kämpfen noch heute miteinander,
so Großes inzwischen durch die um Ranke geschaarte kritische Schule in der
wissenschaftlichen Erforschung des Mittelalters geleistet sein mag. Noch fehlt
eine allgemein anerkannte Durchschnittsauffassung, ein nationales Bild des deut¬
schen Mittelalters, in welchem diejenigen Züge desselben, die in ihrer Bedeutung
für die Gesamtentwicklung Deutschlands von alle» gleichmüßig anerkannt sind,
einheitlich zusammengefaßt wäre». Dem sentimental romantisircnden Standpunkte,
den Wilhelm von Giesebrecht in seiner deutsche» Kaisergeschichte einnimmt, stellt
sich schroff der politisch-kritische entgegen, den zuerst Heinrich von Sybel ver¬
treten, indem er die in die Ferne schweifende, unerreichbaren Idealen nachjagende
Kaiserpolitik der Ottonen, Salier und Staufer mit beredten, aber doch nicht
berechtigten Worten als die erste und eigentliche Quelle alles Elends nachzu¬
weisen suchte, welches Deutschland in der Folgezeit getroffen und auf Jahr¬
hunderte zur Ohnmacht und Zerrissenheit verurteilt hat.

Jedenfalls ist das deutsche Mittelalter in seiner Gesamtbedeutung für die
Entwicklung der deutschen Nation noch kontrovers, noch ist diese nicht von
dem Standpunkte der nationalen Geschichtschreibung festgelegt. Wo und wie
sie diskutirt werden mag, sofort entbrennt der Kampf zwischen Zcntralisten und
Partikularisten, zwischen Groß- und Kleindeutschen, zwischen Welsen und Ghi-
bellinen aufs neue.

Aber bei welcher von den großen Epochen der deutschen Geschichte, die für
eine nationale Historiographie vorzugsweise in Betracht kommen würde», ist
nicht das gleiche, zum Teil in noch weit höherm Maße der Fall?

Ich denke zunächst an die Reformation. In der Erneuerung der evan¬
gelischen Lehre durch den thüringischen Bauernsohn, welcher deutsches Volks¬
bewußtsein und deutsches Volksgewissen in sich verkörperte, sieht der eine Teil
der deutschen Nation die herrlichste Großthat deutscher geistiger und sittlicher
Kraft, der andre verurteilt sie als eine revolutionäre Verirrung, als eine
frevelhafte Auflehnung gegen göttliches und menschliches Recht. Während die


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[0682] Über nationale Geschichtschreibung. Die christlich-germanische Schwärmerei mit ihren stark katholisirenden Neigungen wurde Mode, wurde eine Macht; aus der Literatur und der Kunst fand sie ihren Weg in die Politik und in die Kirche. War es da nun wohl zu verwundern, wenn nachher, beim Beginn eines neuen, gesünderen politischen Lebens in Deutschland, das eben noch vergötterte Mittelalter wiederum der Gegenstand der heftigsten Angriffe wurde? Wenn man dasselbe gar sür die Mängel der Gegenwart verantwortlich machte, indem man die moderne Feudalität fälschlich mit der mittelalterlichen, die hierarchischen Bestrebungen der protestantischen Orthodoxie einfach mit dem hierarchischen Papst¬ tum zusammenwarf? Mußte in einer innerlich so stürmisch gährenden Zeit da nicht schließlich immer Weilern Kreisen erst die Fähigkeit und dann auch der gute Wille verloren gehen, dem Mittelalter historisch gerecht zu werden? Die damals entstandenen Gegensätze aber kämpfen noch heute miteinander, so Großes inzwischen durch die um Ranke geschaarte kritische Schule in der wissenschaftlichen Erforschung des Mittelalters geleistet sein mag. Noch fehlt eine allgemein anerkannte Durchschnittsauffassung, ein nationales Bild des deut¬ schen Mittelalters, in welchem diejenigen Züge desselben, die in ihrer Bedeutung für die Gesamtentwicklung Deutschlands von alle» gleichmüßig anerkannt sind, einheitlich zusammengefaßt wäre». Dem sentimental romantisircnden Standpunkte, den Wilhelm von Giesebrecht in seiner deutsche» Kaisergeschichte einnimmt, stellt sich schroff der politisch-kritische entgegen, den zuerst Heinrich von Sybel ver¬ treten, indem er die in die Ferne schweifende, unerreichbaren Idealen nachjagende Kaiserpolitik der Ottonen, Salier und Staufer mit beredten, aber doch nicht berechtigten Worten als die erste und eigentliche Quelle alles Elends nachzu¬ weisen suchte, welches Deutschland in der Folgezeit getroffen und auf Jahr¬ hunderte zur Ohnmacht und Zerrissenheit verurteilt hat. Jedenfalls ist das deutsche Mittelalter in seiner Gesamtbedeutung für die Entwicklung der deutschen Nation noch kontrovers, noch ist diese nicht von dem Standpunkte der nationalen Geschichtschreibung festgelegt. Wo und wie sie diskutirt werden mag, sofort entbrennt der Kampf zwischen Zcntralisten und Partikularisten, zwischen Groß- und Kleindeutschen, zwischen Welsen und Ghi- bellinen aufs neue. Aber bei welcher von den großen Epochen der deutschen Geschichte, die für eine nationale Historiographie vorzugsweise in Betracht kommen würde», ist nicht das gleiche, zum Teil in noch weit höherm Maße der Fall? Ich denke zunächst an die Reformation. In der Erneuerung der evan¬ gelischen Lehre durch den thüringischen Bauernsohn, welcher deutsches Volks¬ bewußtsein und deutsches Volksgewissen in sich verkörperte, sieht der eine Teil der deutschen Nation die herrlichste Großthat deutscher geistiger und sittlicher Kraft, der andre verurteilt sie als eine revolutionäre Verirrung, als eine frevelhafte Auflehnung gegen göttliches und menschliches Recht. Während die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/682>, abgerufen am 23.07.2024.