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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft.

Experimente und künstliche Instrumente; er blieb gern haften an der Betrachtung
der Oberfläche, während der echte Forscher alle Hebel und Schrauben ansetzt,
um den Mechanismus, durch den der schöne Schein entstanden ist, zu begreifen.
Die mechanische Kausalität kann nun freilich nichts andres heißen, als die An¬
wendung der Begriffe von Ursache und Wirkung auf die Materie, die nach
mechanischen Gesetzen sich verändert. Hat jemand nicht die Fähigkeit, diese Be¬
griffe auf einen Gegenstand seiner Betrachtung anzuwenden, so muß er in der
Ausübung seiner Verstandesfunktionen ganz erheblich beschränkt sein, sei es durch
einen Bildungsfehler oder eine Krankheit seines Gehirns; denn Ursache und
Wirkung gehören zu den Stammbegriffen oder kategorialen Funktionen. Doch
war dieser Teil der transzendentalen Logik dem berühmten Professor jedenfalls
unbekannt, sonst würde er sich wohl etwas besonnen haben, ehe er Goethe dem
deutschen Volke als Idioten denunzirte.

So kommen wir denn auf ein wunderliches Verhältnis Goethes zu den
Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Das, wofür er am meisten gepriesen
wird, hat er in der That garnicht besessen, und das, wofür er am meisten ge¬
tadelt wird, die Farbenlehre, war das, worauf er selbst am meisten Gewicht
legte, und womit er sich so intensiv beschäftigt hatte, so daß er sogar ein Lehrbuch
und eine Geschichte derselben verfaßte. Seine Bestrebungen in der organischen
Formenlehre gingen im wesentlichen dahin, für die Gedanken der alles er¬
zeugenden schöpferischen Klaft -- sagen wir kurz des Schöpfers -- Gesetze zu
finden. Wenn er auf diesem Gebiete Erfolge errang, die selbst die spezia-
listischen Fachmänner durchaus befriedigt haben, wenn er selber durch seine Be¬
mühungen sich einen weiten Überblick und eine herrliche Beobachtungsfertigkeit
im Einzelnen erwarb, so ist es doch viel zu kühn zu behaupten, daß die weitere
Konsequenz dieser Bestrebungen zu Virchows Zellenthcorie oder gar zu Haeckels
Monismus geführt hätte, von dem in diesen Blättern jüngst schon die Rede
gewesen. Der erneuerte Vitalismus, den Virchow in der Zcllentheorie kultivirt,
würde Goethen ebenso unverständlich geblieben sein, wie heute denjenigen Schülern
der Wissenschaft, die mit Kant und Goethe innig vertraut sind. Zur Erklärung
der Lebeusprozesse im Körper eine Lebenskraft gegenüber dem Mechanismus
der Materie aufzustellen, und wäre es auch nur in der einzelnen Zelle, ist schon
seit Kant und dann wieder seit Lotzes ersten Arbeiten für prinzipiell falsch er¬
kannt. Damit sollen nicht die großartigen äußern Erfolge, welche die Zellen¬
theorie gehabt hat, geleugnet werden, aber es ließe sich doch ein großes, weit
über den hier zugemessenen Raum gehendes Kapitel schreiben, wenn man die
hemmenden und nachteiligrn Wirkungen der Zellentheorie mit den Vorteilen
derselben vergleichen wollte. Man könnte den Vorwurf erheben, daß der Be¬
griff der mechanischen Kausalität wenigstens nicht hinreichend zur Anwendung
gekommen sei; denn die Zellentheorie will Lebenserscheinungen erklären, ohne
auf den Mechanismus der Materie hinreichend Rücksicht zu nehmen. Goethe


Grenzboten I. 1383. 79
Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft.

Experimente und künstliche Instrumente; er blieb gern haften an der Betrachtung
der Oberfläche, während der echte Forscher alle Hebel und Schrauben ansetzt,
um den Mechanismus, durch den der schöne Schein entstanden ist, zu begreifen.
Die mechanische Kausalität kann nun freilich nichts andres heißen, als die An¬
wendung der Begriffe von Ursache und Wirkung auf die Materie, die nach
mechanischen Gesetzen sich verändert. Hat jemand nicht die Fähigkeit, diese Be¬
griffe auf einen Gegenstand seiner Betrachtung anzuwenden, so muß er in der
Ausübung seiner Verstandesfunktionen ganz erheblich beschränkt sein, sei es durch
einen Bildungsfehler oder eine Krankheit seines Gehirns; denn Ursache und
Wirkung gehören zu den Stammbegriffen oder kategorialen Funktionen. Doch
war dieser Teil der transzendentalen Logik dem berühmten Professor jedenfalls
unbekannt, sonst würde er sich wohl etwas besonnen haben, ehe er Goethe dem
deutschen Volke als Idioten denunzirte.

So kommen wir denn auf ein wunderliches Verhältnis Goethes zu den
Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Das, wofür er am meisten gepriesen
wird, hat er in der That garnicht besessen, und das, wofür er am meisten ge¬
tadelt wird, die Farbenlehre, war das, worauf er selbst am meisten Gewicht
legte, und womit er sich so intensiv beschäftigt hatte, so daß er sogar ein Lehrbuch
und eine Geschichte derselben verfaßte. Seine Bestrebungen in der organischen
Formenlehre gingen im wesentlichen dahin, für die Gedanken der alles er¬
zeugenden schöpferischen Klaft — sagen wir kurz des Schöpfers — Gesetze zu
finden. Wenn er auf diesem Gebiete Erfolge errang, die selbst die spezia-
listischen Fachmänner durchaus befriedigt haben, wenn er selber durch seine Be¬
mühungen sich einen weiten Überblick und eine herrliche Beobachtungsfertigkeit
im Einzelnen erwarb, so ist es doch viel zu kühn zu behaupten, daß die weitere
Konsequenz dieser Bestrebungen zu Virchows Zellenthcorie oder gar zu Haeckels
Monismus geführt hätte, von dem in diesen Blättern jüngst schon die Rede
gewesen. Der erneuerte Vitalismus, den Virchow in der Zcllentheorie kultivirt,
würde Goethen ebenso unverständlich geblieben sein, wie heute denjenigen Schülern
der Wissenschaft, die mit Kant und Goethe innig vertraut sind. Zur Erklärung
der Lebeusprozesse im Körper eine Lebenskraft gegenüber dem Mechanismus
der Materie aufzustellen, und wäre es auch nur in der einzelnen Zelle, ist schon
seit Kant und dann wieder seit Lotzes ersten Arbeiten für prinzipiell falsch er¬
kannt. Damit sollen nicht die großartigen äußern Erfolge, welche die Zellen¬
theorie gehabt hat, geleugnet werden, aber es ließe sich doch ein großes, weit
über den hier zugemessenen Raum gehendes Kapitel schreiben, wenn man die
hemmenden und nachteiligrn Wirkungen der Zellentheorie mit den Vorteilen
derselben vergleichen wollte. Man könnte den Vorwurf erheben, daß der Be¬
griff der mechanischen Kausalität wenigstens nicht hinreichend zur Anwendung
gekommen sei; denn die Zellentheorie will Lebenserscheinungen erklären, ohne
auf den Mechanismus der Materie hinreichend Rücksicht zu nehmen. Goethe


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[0633] Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Experimente und künstliche Instrumente; er blieb gern haften an der Betrachtung der Oberfläche, während der echte Forscher alle Hebel und Schrauben ansetzt, um den Mechanismus, durch den der schöne Schein entstanden ist, zu begreifen. Die mechanische Kausalität kann nun freilich nichts andres heißen, als die An¬ wendung der Begriffe von Ursache und Wirkung auf die Materie, die nach mechanischen Gesetzen sich verändert. Hat jemand nicht die Fähigkeit, diese Be¬ griffe auf einen Gegenstand seiner Betrachtung anzuwenden, so muß er in der Ausübung seiner Verstandesfunktionen ganz erheblich beschränkt sein, sei es durch einen Bildungsfehler oder eine Krankheit seines Gehirns; denn Ursache und Wirkung gehören zu den Stammbegriffen oder kategorialen Funktionen. Doch war dieser Teil der transzendentalen Logik dem berühmten Professor jedenfalls unbekannt, sonst würde er sich wohl etwas besonnen haben, ehe er Goethe dem deutschen Volke als Idioten denunzirte. So kommen wir denn auf ein wunderliches Verhältnis Goethes zu den Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Das, wofür er am meisten gepriesen wird, hat er in der That garnicht besessen, und das, wofür er am meisten ge¬ tadelt wird, die Farbenlehre, war das, worauf er selbst am meisten Gewicht legte, und womit er sich so intensiv beschäftigt hatte, so daß er sogar ein Lehrbuch und eine Geschichte derselben verfaßte. Seine Bestrebungen in der organischen Formenlehre gingen im wesentlichen dahin, für die Gedanken der alles er¬ zeugenden schöpferischen Klaft — sagen wir kurz des Schöpfers — Gesetze zu finden. Wenn er auf diesem Gebiete Erfolge errang, die selbst die spezia- listischen Fachmänner durchaus befriedigt haben, wenn er selber durch seine Be¬ mühungen sich einen weiten Überblick und eine herrliche Beobachtungsfertigkeit im Einzelnen erwarb, so ist es doch viel zu kühn zu behaupten, daß die weitere Konsequenz dieser Bestrebungen zu Virchows Zellenthcorie oder gar zu Haeckels Monismus geführt hätte, von dem in diesen Blättern jüngst schon die Rede gewesen. Der erneuerte Vitalismus, den Virchow in der Zcllentheorie kultivirt, würde Goethen ebenso unverständlich geblieben sein, wie heute denjenigen Schülern der Wissenschaft, die mit Kant und Goethe innig vertraut sind. Zur Erklärung der Lebeusprozesse im Körper eine Lebenskraft gegenüber dem Mechanismus der Materie aufzustellen, und wäre es auch nur in der einzelnen Zelle, ist schon seit Kant und dann wieder seit Lotzes ersten Arbeiten für prinzipiell falsch er¬ kannt. Damit sollen nicht die großartigen äußern Erfolge, welche die Zellen¬ theorie gehabt hat, geleugnet werden, aber es ließe sich doch ein großes, weit über den hier zugemessenen Raum gehendes Kapitel schreiben, wenn man die hemmenden und nachteiligrn Wirkungen der Zellentheorie mit den Vorteilen derselben vergleichen wollte. Man könnte den Vorwurf erheben, daß der Be¬ griff der mechanischen Kausalität wenigstens nicht hinreichend zur Anwendung gekommen sei; denn die Zellentheorie will Lebenserscheinungen erklären, ohne auf den Mechanismus der Materie hinreichend Rücksicht zu nehmen. Goethe Grenzboten I. 1383. 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/633>, abgerufen am 23.07.2024.