Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Herr Thaddcius.

Oder gar die zur Trivialität herabsinkende Beschreibung der verschiednen
Schwämme, welche der Erzählung vom Pilzesuchen der ganzen in Soplicowo
vereinigten Gesellschaft einverleibt ist:


Als Auswurf wird verachtet ein andres Pilzengeschlccht,
Teils ist es nämlich schädlich, teils auch schmeckts nicht recht,
Doch ists nicht ohne Nutzrn; es füttert manches Tier
Und ist ein Nest der Insekten und der Haine Zier,
Der Wiesen grünes Tischtuch, weithin ausgespannt,
Bedeckt's wie Reihen Gesäße; hier mit rundem Rand
Die Blätterschwiimmc silbern, gelb und rot, wie kleine
Pokiilchcn, angefüllt mit mannichfachen Weine;
Der Löchcrschwcnnm, ein Bcchcrlein, aber umgedreht,
Die Bodenwölbung nach oben; dort, schlank erhoben, steht
Der Trichtcrpilz, vergleichbar einem Champagncrpokale;
Und wie eine milchgesüllte runde Meißnerschale
Sitzt hier der Moosschwamm, breit und platt und weiß; dort fällt
Der Bofist auf: die Kugel, die schwärzlichen Staub enthält
Gleich einer Pfefferbüchse; wie andre sind genannt,
Ist nur in der Sprache der Hasen oder Wölfe bekannt.

Hier fühlt man sich mit einem Schlage zum seligen Hamburger Ratsherrn
Barthold Heinrich Brockes und seinem "Irdischen Vergnügen in Gott" zurück¬
versetzt. Gleichwohl entbehrt diese wunderliche Erscheinung eines tiefern Grundes
nicht. In der französischen wie in jeder andern Dichtung, welche bis in unser
Jahrhundert unter der Herrschaft des akademischen Klassizismus und der Boi-
leauschen Regelmäßigkeit gestanden hatte, brach schließlich die Freude an der
stimmunggebenden poetischen Farbe, am Reize der langverschmähten Äußerlichkeit
mit einer gewissen Gewaltsamkeit hervor. Der richtige Satz, daß die Innerlichkeit
in der Poesie wichtiger sei als die sichtbare Welt, daß es sich in erster Linie
um die Darstellung von Handlung und Leidenschaft, um Geist und Empfindung
handle, hatte in seiner letzten Konsequenz zu einer uncharakteristischen Rhetorik
geführt, man hatte sich des "Zufälligen" so sehr entschlagen, daß man darüber
aus dem Konkreter in die völlige Abstraktion geraten war, und daß nicht bloß
der Hintergrund zu den dargestellten Handlungen konventionell erschien, sondern
auch die Menschendarstellung der Wärme, des Reizes der Unmittelbarkeit ent¬
behrte, welche mit jener Art der Charakteristik verbunden sind, die die Menschen
von ihren Zuständen nicht löst. Überall daher, wo die "Romantik" den französischen
Akademismus zu verdrängen und abzulösen hatte, macht sich ein starker Über¬
schuß an Schilderung der Äußerlichkeiten geltend, eine Häufung in der Wieder¬
gabe des Zuständlichen, die nicht immer gleich glücklich sein kann. Gerechterweise
muß man anerkennen, daß sie im "Herrn Thaddäus" großenteils glücklich ist.
Die Handlung wird durch die Äußerlichkeiten eben nur gelegentlich aufgehalten,
gewinnt aber in den Hauptmomenten durch sie einen besondern Reiz, dem sich
auch der deutsche Leser nicht entziehen kann.


Herr Thaddcius.

Oder gar die zur Trivialität herabsinkende Beschreibung der verschiednen
Schwämme, welche der Erzählung vom Pilzesuchen der ganzen in Soplicowo
vereinigten Gesellschaft einverleibt ist:


Als Auswurf wird verachtet ein andres Pilzengeschlccht,
Teils ist es nämlich schädlich, teils auch schmeckts nicht recht,
Doch ists nicht ohne Nutzrn; es füttert manches Tier
Und ist ein Nest der Insekten und der Haine Zier,
Der Wiesen grünes Tischtuch, weithin ausgespannt,
Bedeckt's wie Reihen Gesäße; hier mit rundem Rand
Die Blätterschwiimmc silbern, gelb und rot, wie kleine
Pokiilchcn, angefüllt mit mannichfachen Weine;
Der Löchcrschwcnnm, ein Bcchcrlein, aber umgedreht,
Die Bodenwölbung nach oben; dort, schlank erhoben, steht
Der Trichtcrpilz, vergleichbar einem Champagncrpokale;
Und wie eine milchgesüllte runde Meißnerschale
Sitzt hier der Moosschwamm, breit und platt und weiß; dort fällt
Der Bofist auf: die Kugel, die schwärzlichen Staub enthält
Gleich einer Pfefferbüchse; wie andre sind genannt,
Ist nur in der Sprache der Hasen oder Wölfe bekannt.

Hier fühlt man sich mit einem Schlage zum seligen Hamburger Ratsherrn
Barthold Heinrich Brockes und seinem „Irdischen Vergnügen in Gott" zurück¬
versetzt. Gleichwohl entbehrt diese wunderliche Erscheinung eines tiefern Grundes
nicht. In der französischen wie in jeder andern Dichtung, welche bis in unser
Jahrhundert unter der Herrschaft des akademischen Klassizismus und der Boi-
leauschen Regelmäßigkeit gestanden hatte, brach schließlich die Freude an der
stimmunggebenden poetischen Farbe, am Reize der langverschmähten Äußerlichkeit
mit einer gewissen Gewaltsamkeit hervor. Der richtige Satz, daß die Innerlichkeit
in der Poesie wichtiger sei als die sichtbare Welt, daß es sich in erster Linie
um die Darstellung von Handlung und Leidenschaft, um Geist und Empfindung
handle, hatte in seiner letzten Konsequenz zu einer uncharakteristischen Rhetorik
geführt, man hatte sich des „Zufälligen" so sehr entschlagen, daß man darüber
aus dem Konkreter in die völlige Abstraktion geraten war, und daß nicht bloß
der Hintergrund zu den dargestellten Handlungen konventionell erschien, sondern
auch die Menschendarstellung der Wärme, des Reizes der Unmittelbarkeit ent¬
behrte, welche mit jener Art der Charakteristik verbunden sind, die die Menschen
von ihren Zuständen nicht löst. Überall daher, wo die „Romantik" den französischen
Akademismus zu verdrängen und abzulösen hatte, macht sich ein starker Über¬
schuß an Schilderung der Äußerlichkeiten geltend, eine Häufung in der Wieder¬
gabe des Zuständlichen, die nicht immer gleich glücklich sein kann. Gerechterweise
muß man anerkennen, daß sie im „Herrn Thaddäus" großenteils glücklich ist.
Die Handlung wird durch die Äußerlichkeiten eben nur gelegentlich aufgehalten,
gewinnt aber in den Hauptmomenten durch sie einen besondern Reiz, dem sich
auch der deutsche Leser nicht entziehen kann.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0476" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152262"/>
          <fw type="header" place="top"> Herr Thaddcius.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1804" prev="#ID_1803"> Oder gar die zur Trivialität herabsinkende Beschreibung der verschiednen<lb/>
Schwämme, welche der Erzählung vom Pilzesuchen der ganzen in Soplicowo<lb/>
vereinigten Gesellschaft einverleibt ist:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_15" type="poem">
              <l> Als Auswurf wird verachtet ein andres Pilzengeschlccht,<lb/>
Teils ist es nämlich schädlich, teils auch schmeckts nicht recht,<lb/>
Doch ists nicht ohne Nutzrn; es füttert manches Tier<lb/>
Und ist ein Nest der Insekten und der Haine Zier,<lb/>
Der Wiesen grünes Tischtuch, weithin ausgespannt,<lb/>
Bedeckt's wie Reihen Gesäße; hier mit rundem Rand<lb/>
Die Blätterschwiimmc silbern, gelb und rot, wie kleine<lb/>
Pokiilchcn, angefüllt mit mannichfachen Weine;<lb/>
Der Löchcrschwcnnm, ein Bcchcrlein, aber umgedreht,<lb/>
Die Bodenwölbung nach oben; dort, schlank erhoben, steht<lb/>
Der Trichtcrpilz, vergleichbar einem Champagncrpokale;<lb/>
Und wie eine milchgesüllte runde Meißnerschale<lb/>
Sitzt hier der Moosschwamm, breit und platt und weiß; dort fällt<lb/>
Der Bofist auf: die Kugel, die schwärzlichen Staub enthält<lb/>
Gleich einer Pfefferbüchse; wie andre sind genannt,<lb/>
Ist nur in der Sprache der Hasen oder Wölfe bekannt.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1805"> Hier fühlt man sich mit einem Schlage zum seligen Hamburger Ratsherrn<lb/>
Barthold Heinrich Brockes und seinem &#x201E;Irdischen Vergnügen in Gott" zurück¬<lb/>
versetzt. Gleichwohl entbehrt diese wunderliche Erscheinung eines tiefern Grundes<lb/>
nicht. In der französischen wie in jeder andern Dichtung, welche bis in unser<lb/>
Jahrhundert unter der Herrschaft des akademischen Klassizismus und der Boi-<lb/>
leauschen Regelmäßigkeit gestanden hatte, brach schließlich die Freude an der<lb/>
stimmunggebenden poetischen Farbe, am Reize der langverschmähten Äußerlichkeit<lb/>
mit einer gewissen Gewaltsamkeit hervor. Der richtige Satz, daß die Innerlichkeit<lb/>
in der Poesie wichtiger sei als die sichtbare Welt, daß es sich in erster Linie<lb/>
um die Darstellung von Handlung und Leidenschaft, um Geist und Empfindung<lb/>
handle, hatte in seiner letzten Konsequenz zu einer uncharakteristischen Rhetorik<lb/>
geführt, man hatte sich des &#x201E;Zufälligen" so sehr entschlagen, daß man darüber<lb/>
aus dem Konkreter in die völlige Abstraktion geraten war, und daß nicht bloß<lb/>
der Hintergrund zu den dargestellten Handlungen konventionell erschien, sondern<lb/>
auch die Menschendarstellung der Wärme, des Reizes der Unmittelbarkeit ent¬<lb/>
behrte, welche mit jener Art der Charakteristik verbunden sind, die die Menschen<lb/>
von ihren Zuständen nicht löst. Überall daher, wo die &#x201E;Romantik" den französischen<lb/>
Akademismus zu verdrängen und abzulösen hatte, macht sich ein starker Über¬<lb/>
schuß an Schilderung der Äußerlichkeiten geltend, eine Häufung in der Wieder¬<lb/>
gabe des Zuständlichen, die nicht immer gleich glücklich sein kann. Gerechterweise<lb/>
muß man anerkennen, daß sie im &#x201E;Herrn Thaddäus" großenteils glücklich ist.<lb/>
Die Handlung wird durch die Äußerlichkeiten eben nur gelegentlich aufgehalten,<lb/>
gewinnt aber in den Hauptmomenten durch sie einen besondern Reiz, dem sich<lb/>
auch der deutsche Leser nicht entziehen kann.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0476] Herr Thaddcius. Oder gar die zur Trivialität herabsinkende Beschreibung der verschiednen Schwämme, welche der Erzählung vom Pilzesuchen der ganzen in Soplicowo vereinigten Gesellschaft einverleibt ist: Als Auswurf wird verachtet ein andres Pilzengeschlccht, Teils ist es nämlich schädlich, teils auch schmeckts nicht recht, Doch ists nicht ohne Nutzrn; es füttert manches Tier Und ist ein Nest der Insekten und der Haine Zier, Der Wiesen grünes Tischtuch, weithin ausgespannt, Bedeckt's wie Reihen Gesäße; hier mit rundem Rand Die Blätterschwiimmc silbern, gelb und rot, wie kleine Pokiilchcn, angefüllt mit mannichfachen Weine; Der Löchcrschwcnnm, ein Bcchcrlein, aber umgedreht, Die Bodenwölbung nach oben; dort, schlank erhoben, steht Der Trichtcrpilz, vergleichbar einem Champagncrpokale; Und wie eine milchgesüllte runde Meißnerschale Sitzt hier der Moosschwamm, breit und platt und weiß; dort fällt Der Bofist auf: die Kugel, die schwärzlichen Staub enthält Gleich einer Pfefferbüchse; wie andre sind genannt, Ist nur in der Sprache der Hasen oder Wölfe bekannt. Hier fühlt man sich mit einem Schlage zum seligen Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes und seinem „Irdischen Vergnügen in Gott" zurück¬ versetzt. Gleichwohl entbehrt diese wunderliche Erscheinung eines tiefern Grundes nicht. In der französischen wie in jeder andern Dichtung, welche bis in unser Jahrhundert unter der Herrschaft des akademischen Klassizismus und der Boi- leauschen Regelmäßigkeit gestanden hatte, brach schließlich die Freude an der stimmunggebenden poetischen Farbe, am Reize der langverschmähten Äußerlichkeit mit einer gewissen Gewaltsamkeit hervor. Der richtige Satz, daß die Innerlichkeit in der Poesie wichtiger sei als die sichtbare Welt, daß es sich in erster Linie um die Darstellung von Handlung und Leidenschaft, um Geist und Empfindung handle, hatte in seiner letzten Konsequenz zu einer uncharakteristischen Rhetorik geführt, man hatte sich des „Zufälligen" so sehr entschlagen, daß man darüber aus dem Konkreter in die völlige Abstraktion geraten war, und daß nicht bloß der Hintergrund zu den dargestellten Handlungen konventionell erschien, sondern auch die Menschendarstellung der Wärme, des Reizes der Unmittelbarkeit ent¬ behrte, welche mit jener Art der Charakteristik verbunden sind, die die Menschen von ihren Zuständen nicht löst. Überall daher, wo die „Romantik" den französischen Akademismus zu verdrängen und abzulösen hatte, macht sich ein starker Über¬ schuß an Schilderung der Äußerlichkeiten geltend, eine Häufung in der Wieder¬ gabe des Zuständlichen, die nicht immer gleich glücklich sein kann. Gerechterweise muß man anerkennen, daß sie im „Herrn Thaddäus" großenteils glücklich ist. Die Handlung wird durch die Äußerlichkeiten eben nur gelegentlich aufgehalten, gewinnt aber in den Hauptmomenten durch sie einen besondern Reiz, dem sich auch der deutsche Leser nicht entziehen kann.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/476
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/476>, abgerufen am 04.07.2024.