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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Herr Thaddäus.

durch die Erfindung des Gedichts hindurchweht. Beinahe nur einmal unter¬
bricht der Dichter seine Erzählung mit einer lyrischen Aufwallung, aber sie gilt
jener Erinnerung und schließt jenen Grundgedanken in sich, der die Geschichte
vom "Herrn Thaddäus" geistig belebt:


O Frühling! wer dich bei uns gesehn in jener Zeit!
Denkwürdiger Frühling des Krieges, Frühling der Fruchtbarkeit!
O Frühling, wer dich gesehen voll üppiger Blüten hangend,
Voll Garben und Grün und hell von Menschcnscharen prangend,
Reich an Begebenheiten, voll Hoffnungen im Schoß!
Du stehst vor mir noch heut, du Traumbild, schön und groß!
In Knechtschaft geboren, als Säugling schon in Ketten gebannt,
Hab ich im Leben nur einen solchen Frühling gekannt!

Aber so bestimmt die patriotisch-polnische Tendenz des Gedichts und so un¬
zweifelhaft dasselbe zur Ermutigung eines niedergebeugten, in sich zerbröckelnder
Volkes bestimmt war, kann man es doch nicht rhetorisch und unwirklich schelten.
Es würde ein volles Stück Leben auch für denjenigen bleiben, der von dem
geheimsten Lebensnerv der Dichtung nichts wüßte und von ihrer Tendenz gar¬
nicht berührt würde.

Die Erzählung selbst ist in ihrem Verlauf nicht allzu einfach, aber über¬
sichtlich und in ihrem Episodenreichtum und mit aller häufigen Anwendung der
epischen Rückschau doch immer anziehend. Offenbar dienen ganze Reihen der
kleinen Begebenheiten vor allem der Schilderung der altlitthauischen und alt¬
polnischen Sitten, auf welcher der Hauptreiz des Gedichts beruht. Die
Schilderungsgabe des Dichters ist außerordentlich, die Heimatliebe vergoldet
mit ihrem sonnigsten Strahl die Genrebilder, welche sich am Faden der Schick¬
sale des jungen Pein Thaddäus aneinanderreihen. Herr Thaddäus kehrt im
Beginn des Gedichts (im Sommer 1811) von der Hochschule in die ländliche
Heimat zurück, wo ihn der Onkel, der würdige Richter, zu verheiraten denkt.
Obschon ein wohlgearteter und bis hierher wohlbehüteter Jüngling, fängt
Thaddäus als echter Edelmann von polnischem Blute doch leicht Feuer und
verliebt sich im Handumdrehen in eine ältere, welterfahrene, aber noch schöne Dame,
Frau Telimene, die im Jagen besser als junge Jäger Bescheid weiß. Mitten
in den harmlosen Schmauß- und Jagdszenen, in den kleinen Abenteuern landes¬
üblicher Galanterie tauchen neue Gestalten empor, welche auf den ernsten Hinter¬
grund des ländlichen Bildes hindeuten, der Mönch Robak, ein kriegerisch drein¬
schauender Bernhardiner, welcher den politischen Agenten kaum verleugnet und
Votschaften aus dem Herzogtum Warschau empfängt. Dies kann umso besser
geschehen, als der Vertreter der russischen Zwingherrschaft in dem geschilderten
Kreise der brave Hauptmann Rykow ist, der es ganz begreiflich findet, daß die
Polen an ihr Vaterland denken, aber, bis es zum Raufen kommt, sich in
polnischer Gesellschaft vorzugsweise gefällt. "Jetzt nicht raufen, jetzt ist ja


Grenzboten I. 1883. S9
Herr Thaddäus.

durch die Erfindung des Gedichts hindurchweht. Beinahe nur einmal unter¬
bricht der Dichter seine Erzählung mit einer lyrischen Aufwallung, aber sie gilt
jener Erinnerung und schließt jenen Grundgedanken in sich, der die Geschichte
vom „Herrn Thaddäus" geistig belebt:


O Frühling! wer dich bei uns gesehn in jener Zeit!
Denkwürdiger Frühling des Krieges, Frühling der Fruchtbarkeit!
O Frühling, wer dich gesehen voll üppiger Blüten hangend,
Voll Garben und Grün und hell von Menschcnscharen prangend,
Reich an Begebenheiten, voll Hoffnungen im Schoß!
Du stehst vor mir noch heut, du Traumbild, schön und groß!
In Knechtschaft geboren, als Säugling schon in Ketten gebannt,
Hab ich im Leben nur einen solchen Frühling gekannt!

Aber so bestimmt die patriotisch-polnische Tendenz des Gedichts und so un¬
zweifelhaft dasselbe zur Ermutigung eines niedergebeugten, in sich zerbröckelnder
Volkes bestimmt war, kann man es doch nicht rhetorisch und unwirklich schelten.
Es würde ein volles Stück Leben auch für denjenigen bleiben, der von dem
geheimsten Lebensnerv der Dichtung nichts wüßte und von ihrer Tendenz gar¬
nicht berührt würde.

Die Erzählung selbst ist in ihrem Verlauf nicht allzu einfach, aber über¬
sichtlich und in ihrem Episodenreichtum und mit aller häufigen Anwendung der
epischen Rückschau doch immer anziehend. Offenbar dienen ganze Reihen der
kleinen Begebenheiten vor allem der Schilderung der altlitthauischen und alt¬
polnischen Sitten, auf welcher der Hauptreiz des Gedichts beruht. Die
Schilderungsgabe des Dichters ist außerordentlich, die Heimatliebe vergoldet
mit ihrem sonnigsten Strahl die Genrebilder, welche sich am Faden der Schick¬
sale des jungen Pein Thaddäus aneinanderreihen. Herr Thaddäus kehrt im
Beginn des Gedichts (im Sommer 1811) von der Hochschule in die ländliche
Heimat zurück, wo ihn der Onkel, der würdige Richter, zu verheiraten denkt.
Obschon ein wohlgearteter und bis hierher wohlbehüteter Jüngling, fängt
Thaddäus als echter Edelmann von polnischem Blute doch leicht Feuer und
verliebt sich im Handumdrehen in eine ältere, welterfahrene, aber noch schöne Dame,
Frau Telimene, die im Jagen besser als junge Jäger Bescheid weiß. Mitten
in den harmlosen Schmauß- und Jagdszenen, in den kleinen Abenteuern landes¬
üblicher Galanterie tauchen neue Gestalten empor, welche auf den ernsten Hinter¬
grund des ländlichen Bildes hindeuten, der Mönch Robak, ein kriegerisch drein¬
schauender Bernhardiner, welcher den politischen Agenten kaum verleugnet und
Votschaften aus dem Herzogtum Warschau empfängt. Dies kann umso besser
geschehen, als der Vertreter der russischen Zwingherrschaft in dem geschilderten
Kreise der brave Hauptmann Rykow ist, der es ganz begreiflich findet, daß die
Polen an ihr Vaterland denken, aber, bis es zum Raufen kommt, sich in
polnischer Gesellschaft vorzugsweise gefällt. „Jetzt nicht raufen, jetzt ist ja


Grenzboten I. 1883. S9
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[0473] Herr Thaddäus. durch die Erfindung des Gedichts hindurchweht. Beinahe nur einmal unter¬ bricht der Dichter seine Erzählung mit einer lyrischen Aufwallung, aber sie gilt jener Erinnerung und schließt jenen Grundgedanken in sich, der die Geschichte vom „Herrn Thaddäus" geistig belebt: O Frühling! wer dich bei uns gesehn in jener Zeit! Denkwürdiger Frühling des Krieges, Frühling der Fruchtbarkeit! O Frühling, wer dich gesehen voll üppiger Blüten hangend, Voll Garben und Grün und hell von Menschcnscharen prangend, Reich an Begebenheiten, voll Hoffnungen im Schoß! Du stehst vor mir noch heut, du Traumbild, schön und groß! In Knechtschaft geboren, als Säugling schon in Ketten gebannt, Hab ich im Leben nur einen solchen Frühling gekannt! Aber so bestimmt die patriotisch-polnische Tendenz des Gedichts und so un¬ zweifelhaft dasselbe zur Ermutigung eines niedergebeugten, in sich zerbröckelnder Volkes bestimmt war, kann man es doch nicht rhetorisch und unwirklich schelten. Es würde ein volles Stück Leben auch für denjenigen bleiben, der von dem geheimsten Lebensnerv der Dichtung nichts wüßte und von ihrer Tendenz gar¬ nicht berührt würde. Die Erzählung selbst ist in ihrem Verlauf nicht allzu einfach, aber über¬ sichtlich und in ihrem Episodenreichtum und mit aller häufigen Anwendung der epischen Rückschau doch immer anziehend. Offenbar dienen ganze Reihen der kleinen Begebenheiten vor allem der Schilderung der altlitthauischen und alt¬ polnischen Sitten, auf welcher der Hauptreiz des Gedichts beruht. Die Schilderungsgabe des Dichters ist außerordentlich, die Heimatliebe vergoldet mit ihrem sonnigsten Strahl die Genrebilder, welche sich am Faden der Schick¬ sale des jungen Pein Thaddäus aneinanderreihen. Herr Thaddäus kehrt im Beginn des Gedichts (im Sommer 1811) von der Hochschule in die ländliche Heimat zurück, wo ihn der Onkel, der würdige Richter, zu verheiraten denkt. Obschon ein wohlgearteter und bis hierher wohlbehüteter Jüngling, fängt Thaddäus als echter Edelmann von polnischem Blute doch leicht Feuer und verliebt sich im Handumdrehen in eine ältere, welterfahrene, aber noch schöne Dame, Frau Telimene, die im Jagen besser als junge Jäger Bescheid weiß. Mitten in den harmlosen Schmauß- und Jagdszenen, in den kleinen Abenteuern landes¬ üblicher Galanterie tauchen neue Gestalten empor, welche auf den ernsten Hinter¬ grund des ländlichen Bildes hindeuten, der Mönch Robak, ein kriegerisch drein¬ schauender Bernhardiner, welcher den politischen Agenten kaum verleugnet und Votschaften aus dem Herzogtum Warschau empfängt. Dies kann umso besser geschehen, als der Vertreter der russischen Zwingherrschaft in dem geschilderten Kreise der brave Hauptmann Rykow ist, der es ganz begreiflich findet, daß die Polen an ihr Vaterland denken, aber, bis es zum Raufen kommt, sich in polnischer Gesellschaft vorzugsweise gefällt. „Jetzt nicht raufen, jetzt ist ja Grenzboten I. 1883. S9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/473>, abgerufen am 03.07.2024.