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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Herr Thaddciu5>

Zu der großen Zahl poetischer Übertragungen namentlich aus der neueren
und neuesten Literatur hat sich vor kurzem die deutsche Bearbeitung des be¬
rühmtesten erzählenden Gedichts der polnischen Dichtung: Herr Thaddäus
oder der letzte Einritt in Litthauen von Adam Mickiewiez gesellt,
welche Siegfried Lipiner (Leipzig, Breitkopf und Härtel), übrigens nur als
ersten Teil einer beabsichtigten deutschen Übersetzung der sämtlichen Dichtungen
des polnischen Romantikers uns bietet.

Es ist gut, daß das gegenständlichste und frischeste Gedicht vorangeht und
somit Gelegenheit geboten wird, die von einer Literaturgeschichte zur andern
weitergegebenen Lobsprüche einmal mit dem Werke selbst zu vergleichen. Die
polnische Literatur liegt uns mit ihren Grundempfindungen, ihren Tendenzen
und ihren Stoffen fern genug, indessen ein starker menschlicher Gehalt hilft alles
Fremdartige überwinden, und gelegentlich mag auch etwas von dem Interesse,
das man billigerweise an fremden Landschafts- und Sittenbildern nimmt, in
ästhetischen Dingen mitsprechen. Ist dies der Fall, so wird jeder den Eindruck
haben, daß "Herr Thaddäus" mehr als manche andre erzählende Dichtung des
Auslandes verdient, auf deutschem Boden eingebürgert zu werden, daß es aber
eine Thorheit wäre, zu behaupten, unsre Literatur würde ohne Mickiewiez und
seinen "Thaddäus" eine Lücke aufweisen.

"Herr Thaddäus" ist ein Roman in Versen, welcher ein Stück litthauisch-
polnischen Lebens auf dem großen historischen Hintergrunde des Jahres 1812,
des Jahres der berauschenden thöricht-glückseligen patriotischen Hoffnungen der
Polen schildert. Der Höhepunkt des Gedichts liegt in der Darstellung des Ein¬
marsches der Heerhaufen unter dem Weißen Adler in Litthauen. Jener einzige
hoffnungsreiche Lenz , welcher dem trostlosen Winter von 1812 folgte, ist von
Mickiewiez in vortrefflicher Weise zur Abschluß seines Gedichts verwendet worden,
"Herr Thaddäus" endet mit einem glänzenden Verlobungsfeste zwischen dem
Helden und seiner geliebten Soschja und mit einem üppigen, rauschenden Feste
nach altpolnischer Sitte. Aber in der glühenden Abendwolke, die im Westen
steht und langsam ins Grau verschwimmt, deutet der Dichter darauf hin, daß
die Hoffnungen der Tapfern, die in einer Schlußpolonaise schreiten, nicht alle
in Erfüllung gehen sollen, ihnen aber die Enttäuschung der Zukunft verhüllt ist.

Um die eigentümliche Stoffwahl zu verstehen, muß man sich erinnern, daß
Mickiewiez das Gedicht bald nach der gescheiterten polnischen Revolution von
1831 begann und 1834 vollendete. Die Dichtung, welche in lebendigen Zügen
ein Befreiungsfest schildert, an dem der Dieser selbst als Knabe teilgenommen
und dessen sich tausende der Leser erinnern mußten, sollte einfach daran gemahnen,
daß das, was einmal gewesen sei, wiederkehren und jedes polnische Herz sich ein
zweitesmal an einem Tage laben könne, wie dem von Mariä Verkündigung, der über
Soplicowo und den Helden der Dichtung aufgegangen ist. Man fühlt, wie der
Hauch eines großen, Hoffnung und Enttäuschung im Schoße tragenden Erlebnisses


Herr Thaddciu5>

Zu der großen Zahl poetischer Übertragungen namentlich aus der neueren
und neuesten Literatur hat sich vor kurzem die deutsche Bearbeitung des be¬
rühmtesten erzählenden Gedichts der polnischen Dichtung: Herr Thaddäus
oder der letzte Einritt in Litthauen von Adam Mickiewiez gesellt,
welche Siegfried Lipiner (Leipzig, Breitkopf und Härtel), übrigens nur als
ersten Teil einer beabsichtigten deutschen Übersetzung der sämtlichen Dichtungen
des polnischen Romantikers uns bietet.

Es ist gut, daß das gegenständlichste und frischeste Gedicht vorangeht und
somit Gelegenheit geboten wird, die von einer Literaturgeschichte zur andern
weitergegebenen Lobsprüche einmal mit dem Werke selbst zu vergleichen. Die
polnische Literatur liegt uns mit ihren Grundempfindungen, ihren Tendenzen
und ihren Stoffen fern genug, indessen ein starker menschlicher Gehalt hilft alles
Fremdartige überwinden, und gelegentlich mag auch etwas von dem Interesse,
das man billigerweise an fremden Landschafts- und Sittenbildern nimmt, in
ästhetischen Dingen mitsprechen. Ist dies der Fall, so wird jeder den Eindruck
haben, daß „Herr Thaddäus" mehr als manche andre erzählende Dichtung des
Auslandes verdient, auf deutschem Boden eingebürgert zu werden, daß es aber
eine Thorheit wäre, zu behaupten, unsre Literatur würde ohne Mickiewiez und
seinen „Thaddäus" eine Lücke aufweisen.

„Herr Thaddäus" ist ein Roman in Versen, welcher ein Stück litthauisch-
polnischen Lebens auf dem großen historischen Hintergrunde des Jahres 1812,
des Jahres der berauschenden thöricht-glückseligen patriotischen Hoffnungen der
Polen schildert. Der Höhepunkt des Gedichts liegt in der Darstellung des Ein¬
marsches der Heerhaufen unter dem Weißen Adler in Litthauen. Jener einzige
hoffnungsreiche Lenz , welcher dem trostlosen Winter von 1812 folgte, ist von
Mickiewiez in vortrefflicher Weise zur Abschluß seines Gedichts verwendet worden,
„Herr Thaddäus" endet mit einem glänzenden Verlobungsfeste zwischen dem
Helden und seiner geliebten Soschja und mit einem üppigen, rauschenden Feste
nach altpolnischer Sitte. Aber in der glühenden Abendwolke, die im Westen
steht und langsam ins Grau verschwimmt, deutet der Dichter darauf hin, daß
die Hoffnungen der Tapfern, die in einer Schlußpolonaise schreiten, nicht alle
in Erfüllung gehen sollen, ihnen aber die Enttäuschung der Zukunft verhüllt ist.

Um die eigentümliche Stoffwahl zu verstehen, muß man sich erinnern, daß
Mickiewiez das Gedicht bald nach der gescheiterten polnischen Revolution von
1831 begann und 1834 vollendete. Die Dichtung, welche in lebendigen Zügen
ein Befreiungsfest schildert, an dem der Dieser selbst als Knabe teilgenommen
und dessen sich tausende der Leser erinnern mußten, sollte einfach daran gemahnen,
daß das, was einmal gewesen sei, wiederkehren und jedes polnische Herz sich ein
zweitesmal an einem Tage laben könne, wie dem von Mariä Verkündigung, der über
Soplicowo und den Helden der Dichtung aufgegangen ist. Man fühlt, wie der
Hauch eines großen, Hoffnung und Enttäuschung im Schoße tragenden Erlebnisses


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[0472] Herr Thaddciu5> Zu der großen Zahl poetischer Übertragungen namentlich aus der neueren und neuesten Literatur hat sich vor kurzem die deutsche Bearbeitung des be¬ rühmtesten erzählenden Gedichts der polnischen Dichtung: Herr Thaddäus oder der letzte Einritt in Litthauen von Adam Mickiewiez gesellt, welche Siegfried Lipiner (Leipzig, Breitkopf und Härtel), übrigens nur als ersten Teil einer beabsichtigten deutschen Übersetzung der sämtlichen Dichtungen des polnischen Romantikers uns bietet. Es ist gut, daß das gegenständlichste und frischeste Gedicht vorangeht und somit Gelegenheit geboten wird, die von einer Literaturgeschichte zur andern weitergegebenen Lobsprüche einmal mit dem Werke selbst zu vergleichen. Die polnische Literatur liegt uns mit ihren Grundempfindungen, ihren Tendenzen und ihren Stoffen fern genug, indessen ein starker menschlicher Gehalt hilft alles Fremdartige überwinden, und gelegentlich mag auch etwas von dem Interesse, das man billigerweise an fremden Landschafts- und Sittenbildern nimmt, in ästhetischen Dingen mitsprechen. Ist dies der Fall, so wird jeder den Eindruck haben, daß „Herr Thaddäus" mehr als manche andre erzählende Dichtung des Auslandes verdient, auf deutschem Boden eingebürgert zu werden, daß es aber eine Thorheit wäre, zu behaupten, unsre Literatur würde ohne Mickiewiez und seinen „Thaddäus" eine Lücke aufweisen. „Herr Thaddäus" ist ein Roman in Versen, welcher ein Stück litthauisch- polnischen Lebens auf dem großen historischen Hintergrunde des Jahres 1812, des Jahres der berauschenden thöricht-glückseligen patriotischen Hoffnungen der Polen schildert. Der Höhepunkt des Gedichts liegt in der Darstellung des Ein¬ marsches der Heerhaufen unter dem Weißen Adler in Litthauen. Jener einzige hoffnungsreiche Lenz , welcher dem trostlosen Winter von 1812 folgte, ist von Mickiewiez in vortrefflicher Weise zur Abschluß seines Gedichts verwendet worden, „Herr Thaddäus" endet mit einem glänzenden Verlobungsfeste zwischen dem Helden und seiner geliebten Soschja und mit einem üppigen, rauschenden Feste nach altpolnischer Sitte. Aber in der glühenden Abendwolke, die im Westen steht und langsam ins Grau verschwimmt, deutet der Dichter darauf hin, daß die Hoffnungen der Tapfern, die in einer Schlußpolonaise schreiten, nicht alle in Erfüllung gehen sollen, ihnen aber die Enttäuschung der Zukunft verhüllt ist. Um die eigentümliche Stoffwahl zu verstehen, muß man sich erinnern, daß Mickiewiez das Gedicht bald nach der gescheiterten polnischen Revolution von 1831 begann und 1834 vollendete. Die Dichtung, welche in lebendigen Zügen ein Befreiungsfest schildert, an dem der Dieser selbst als Knabe teilgenommen und dessen sich tausende der Leser erinnern mußten, sollte einfach daran gemahnen, daß das, was einmal gewesen sei, wiederkehren und jedes polnische Herz sich ein zweitesmal an einem Tage laben könne, wie dem von Mariä Verkündigung, der über Soplicowo und den Helden der Dichtung aufgegangen ist. Man fühlt, wie der Hauch eines großen, Hoffnung und Enttäuschung im Schoße tragenden Erlebnisses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/472>, abgerufen am 03.07.2024.