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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Gegen das Landstreichortum,

Arbeitsnot und Arbeitermangel ein, das ländliche Proletariat war geschaffen.
Es suchte, begünstigt durch die Freizügigkeit, Abhilfe seiner Not in den
Städten, um von diesen mit getäuschten Hoffnungen arbeitsuchend auf die Land¬
straße zu kommen.

In den Verhältnissen der landwirtschaftlichen Arbeitern, welche dem Land-
streichertum das größte Kontingent stellen -- freilich soll nicht unerwähnt bleiben,
daß auch ein Teil der geschilderten Besitzer, sowie gewesene Börsianer und
Schornsteinbarone sich mit ihren frühern "Leuten" kameradschaftlich auf der
Landstraße bewegen und nur insofern gegen diese im Nachteil sind, als sie den
Unbilden des modernen Zigeunertums weniger Widerstandsfähigkeit entgegen¬
bringen -- in diesen Verhältnissen muß vou seiten der Arbeitgeber eine durch¬
greifende Abhilfe geschaffen werden. Es muß wieder ein stabiler landwirtschaft¬
licher Arbeiterstand hergestellt werden, der mit den schweren Lasten seines Berufs
auch die Wohlthaten genießt, welche das selbsterworbene am heimischen Herde
und auf ihn" bestimmter Scholle gewährt, welche erzeugt werden durch den
Fleiß, den er mit den Seinigen neben der Thätigkeit für den Brodherrn auf
eigne kleine Wirtschaft verwendet. Soweit dieses nicht durch Wiedereinführung
der alten Kontraktverhältnisse von seiten der größer" Grundbesitzer geschaffen
werden sollte -- noch vor zwanzig Jahren nahmen wir diejenigen Leute am
liebsten in Dienst, welche ini Besitze einer Kuh und mit voller Wagenladung
Kartoffeln und Kohl anzogen, denn dieser Besitz zeugte am besten für ihre
Tüchtigkeit --, wird die Parzellirung von Domänen und Gütern und die Grün¬
dung kleiner Kolouistenstellen in Erwägung zu ziehen sein. Die Wirkung des
Großkapitals auf den kleinen Handwerker und den Fabrikarbeiter zeigt sich auch
beim Großgrundbesitze in den Händen engherziger Eigentümer gegenüber dem
ländlichen Arbeiter: er absorbirt feine ganze Arbeitskraft und stößt ihn in das
Proletariat.

An zweiter Stelle trägt der moderne "Gerichtsvollzieher" große Schuld
an der gänzlichen Verlumpung vieler bis dahin unbescholtenen und fleißigen
Leute. Der in Vermögensverfall geratene Handwerker und Gewerbetreibende wird
durch die infolge der neuen Gerichtsordnung jetzt gestattete Auspfändung,
welche ihm alles nimmt, worauf seine bürgerliche Existenz beruht, an den Bettel¬
stab gebracht, ohne daß er dadurch seine Gläubiger loswürde. Der durch den
Zwangsverkaus erzielte Erlös seiner Habseligkeiten deckt in den meisten Fällen
nicht einmal die Kosten des Verfahrens. Der Mann, der zu Hause eine aus¬
gepfändete Wohnung findet, und bei dem jeder nen verdiente Thaler von rechts-
wegen seinem Gläubiger gehört, verliert die sittliche Haltung, den Mut und die
Lust zu fernerm Schaffen, er läuft in die Kneipe, um Sorgen und Schande
im Rausch zu ertränken, und endet als heimatloser Vagabund auf der Land¬
straße, seine Familie zunächst dem Armenhause, später dem gleichen Schicksale
überlassend.


Gegen das Landstreichortum,

Arbeitsnot und Arbeitermangel ein, das ländliche Proletariat war geschaffen.
Es suchte, begünstigt durch die Freizügigkeit, Abhilfe seiner Not in den
Städten, um von diesen mit getäuschten Hoffnungen arbeitsuchend auf die Land¬
straße zu kommen.

In den Verhältnissen der landwirtschaftlichen Arbeitern, welche dem Land-
streichertum das größte Kontingent stellen — freilich soll nicht unerwähnt bleiben,
daß auch ein Teil der geschilderten Besitzer, sowie gewesene Börsianer und
Schornsteinbarone sich mit ihren frühern „Leuten" kameradschaftlich auf der
Landstraße bewegen und nur insofern gegen diese im Nachteil sind, als sie den
Unbilden des modernen Zigeunertums weniger Widerstandsfähigkeit entgegen¬
bringen — in diesen Verhältnissen muß vou seiten der Arbeitgeber eine durch¬
greifende Abhilfe geschaffen werden. Es muß wieder ein stabiler landwirtschaft¬
licher Arbeiterstand hergestellt werden, der mit den schweren Lasten seines Berufs
auch die Wohlthaten genießt, welche das selbsterworbene am heimischen Herde
und auf ihn« bestimmter Scholle gewährt, welche erzeugt werden durch den
Fleiß, den er mit den Seinigen neben der Thätigkeit für den Brodherrn auf
eigne kleine Wirtschaft verwendet. Soweit dieses nicht durch Wiedereinführung
der alten Kontraktverhältnisse von seiten der größer» Grundbesitzer geschaffen
werden sollte — noch vor zwanzig Jahren nahmen wir diejenigen Leute am
liebsten in Dienst, welche ini Besitze einer Kuh und mit voller Wagenladung
Kartoffeln und Kohl anzogen, denn dieser Besitz zeugte am besten für ihre
Tüchtigkeit —, wird die Parzellirung von Domänen und Gütern und die Grün¬
dung kleiner Kolouistenstellen in Erwägung zu ziehen sein. Die Wirkung des
Großkapitals auf den kleinen Handwerker und den Fabrikarbeiter zeigt sich auch
beim Großgrundbesitze in den Händen engherziger Eigentümer gegenüber dem
ländlichen Arbeiter: er absorbirt feine ganze Arbeitskraft und stößt ihn in das
Proletariat.

An zweiter Stelle trägt der moderne „Gerichtsvollzieher" große Schuld
an der gänzlichen Verlumpung vieler bis dahin unbescholtenen und fleißigen
Leute. Der in Vermögensverfall geratene Handwerker und Gewerbetreibende wird
durch die infolge der neuen Gerichtsordnung jetzt gestattete Auspfändung,
welche ihm alles nimmt, worauf seine bürgerliche Existenz beruht, an den Bettel¬
stab gebracht, ohne daß er dadurch seine Gläubiger loswürde. Der durch den
Zwangsverkaus erzielte Erlös seiner Habseligkeiten deckt in den meisten Fällen
nicht einmal die Kosten des Verfahrens. Der Mann, der zu Hause eine aus¬
gepfändete Wohnung findet, und bei dem jeder nen verdiente Thaler von rechts-
wegen seinem Gläubiger gehört, verliert die sittliche Haltung, den Mut und die
Lust zu fernerm Schaffen, er läuft in die Kneipe, um Sorgen und Schande
im Rausch zu ertränken, und endet als heimatloser Vagabund auf der Land¬
straße, seine Familie zunächst dem Armenhause, später dem gleichen Schicksale
überlassend.


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[0424] Gegen das Landstreichortum, Arbeitsnot und Arbeitermangel ein, das ländliche Proletariat war geschaffen. Es suchte, begünstigt durch die Freizügigkeit, Abhilfe seiner Not in den Städten, um von diesen mit getäuschten Hoffnungen arbeitsuchend auf die Land¬ straße zu kommen. In den Verhältnissen der landwirtschaftlichen Arbeitern, welche dem Land- streichertum das größte Kontingent stellen — freilich soll nicht unerwähnt bleiben, daß auch ein Teil der geschilderten Besitzer, sowie gewesene Börsianer und Schornsteinbarone sich mit ihren frühern „Leuten" kameradschaftlich auf der Landstraße bewegen und nur insofern gegen diese im Nachteil sind, als sie den Unbilden des modernen Zigeunertums weniger Widerstandsfähigkeit entgegen¬ bringen — in diesen Verhältnissen muß vou seiten der Arbeitgeber eine durch¬ greifende Abhilfe geschaffen werden. Es muß wieder ein stabiler landwirtschaft¬ licher Arbeiterstand hergestellt werden, der mit den schweren Lasten seines Berufs auch die Wohlthaten genießt, welche das selbsterworbene am heimischen Herde und auf ihn« bestimmter Scholle gewährt, welche erzeugt werden durch den Fleiß, den er mit den Seinigen neben der Thätigkeit für den Brodherrn auf eigne kleine Wirtschaft verwendet. Soweit dieses nicht durch Wiedereinführung der alten Kontraktverhältnisse von seiten der größer» Grundbesitzer geschaffen werden sollte — noch vor zwanzig Jahren nahmen wir diejenigen Leute am liebsten in Dienst, welche ini Besitze einer Kuh und mit voller Wagenladung Kartoffeln und Kohl anzogen, denn dieser Besitz zeugte am besten für ihre Tüchtigkeit —, wird die Parzellirung von Domänen und Gütern und die Grün¬ dung kleiner Kolouistenstellen in Erwägung zu ziehen sein. Die Wirkung des Großkapitals auf den kleinen Handwerker und den Fabrikarbeiter zeigt sich auch beim Großgrundbesitze in den Händen engherziger Eigentümer gegenüber dem ländlichen Arbeiter: er absorbirt feine ganze Arbeitskraft und stößt ihn in das Proletariat. An zweiter Stelle trägt der moderne „Gerichtsvollzieher" große Schuld an der gänzlichen Verlumpung vieler bis dahin unbescholtenen und fleißigen Leute. Der in Vermögensverfall geratene Handwerker und Gewerbetreibende wird durch die infolge der neuen Gerichtsordnung jetzt gestattete Auspfändung, welche ihm alles nimmt, worauf seine bürgerliche Existenz beruht, an den Bettel¬ stab gebracht, ohne daß er dadurch seine Gläubiger loswürde. Der durch den Zwangsverkaus erzielte Erlös seiner Habseligkeiten deckt in den meisten Fällen nicht einmal die Kosten des Verfahrens. Der Mann, der zu Hause eine aus¬ gepfändete Wohnung findet, und bei dem jeder nen verdiente Thaler von rechts- wegen seinem Gläubiger gehört, verliert die sittliche Haltung, den Mut und die Lust zu fernerm Schaffen, er läuft in die Kneipe, um Sorgen und Schande im Rausch zu ertränken, und endet als heimatloser Vagabund auf der Land¬ straße, seine Familie zunächst dem Armenhause, später dem gleichen Schicksale überlassend.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/424>, abgerufen am 26.06.2024.