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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Entstehungsgeschichte und 5til des Lginont.

zum Gemisst der Geschichte und des Lebens wieder erwacht sei; und er konnte
nach Vollendung des Egmont sagen, daß er kein Stück mit mehr Freiheit des
Gemütes und mit mehr Gewissenhaftigkeit vollbracht habe.

Sogleich nach der Iphigenie wollte Goethe an den Egmont gehen; aber
die Reise nach Unteritalien trat dazwischen. Nach seiner Rückkehr nimmt er das
Stück in Rom vor, und die Arbeit geht anfangs wieder schnell. Am 6. Juli 1787
ist der erste Akt im reinen und zur Reife, an ganze Szenen brauchte er hier
nicht zu rühren. Am 17. Juli ist Egmont bis in den vierten Akt gediehen.
Dann geht es wieder langsam, erst am 1. August wird er damit fertig. Am
11. August kann er bereits die Vollendung des Ganzen melden, wenn auch bis An¬
fang (5.) September immer noch etwas zu bessern und Lücken auszufüllen bleiben.




Diese äußeren Daten sollen dem folgenden Versuche, der Entstehung des
Egmont von innen beizukommen, nur als Stützpunkte dienen. Ich versuche,
dem Gange des Stückes folgend, nachzuweisen, was man aus inneren
Gründen etwa in die Frankfurter und was in die Weimarer Zeit, zu welcher
Italien keinen Gegensatz bildet, zu verweisen hätte. Das chronologische Moment
ist uns dabei sehr gleichgiltig, von Wichtigkeit aber der Unterschied, welchen die
verschiednen Partien in Bezug auf Stil und Ton aufzeigen. Wenn ich daher
sage, diese oder jene Szene scheine in die Frankfurter Zeit zu gehören, so meine
ich zunächst damit, daß sie im Stile von Sturm und Drang, besonders im
Stile des Götz gehalten sei; das biographische Moment kommt erst hinterher
in Betracht.

Daß die Volks- und Bürgcrszeuen in der aufgeknöpfte", stndentenhaften Manier,
welche Goethe an der ersten Fassung tadelte, besser wiederzugeben waren als in
dem klassischen Stil der Weimarer Zeit, ist von vornherein deutlich. Volks¬
und Massenszenen, soweit sie nicht bloße Aufzüge sind, hat Goethe nach dem
Götz und Egmont nicht mehr geschrieben; anch die Szenen "vor dem Thore"
im Faust werden vor der italienischen Reise anzusetzen sein. In Frankfurt haben
wir auch die Modelle zu den Bürgern im Egmont zu suchen. Zwar schildert
Egmont selber seine Landsleute (in der später umgearbeiteten Szene mit Alba)
sehr vorteilhaft: "Es sind Männer, werth Gottes Boden zu treten, ein jeder
rund für sich, ein kleiner König, fest, rührig, fähig, treu, an alten Sitten hangend.
Schwer ist's, ihr Zutrauen zu verdienen, leicht, zu erhalten. Starr und fest!
Zu drücken sind sie, nicht zu unterdrücken." Aber dieser Schilderung entsprechen
die Bürger im Stücke sehr wenig. Diese führen vielmehr das Goethen schon in
der Zeit des Götz verhaßte Sprüchelchen für Weiber: "Leben und leben lassen"
im Munde: unsre Fürsten, sagt Soest, müssen leben und leben lassen; unsre
Miliz, sagt Jctter, lebte und ließ leben. Mehr oder weniger sind sie alle Philister,
und deutlich spricht sich hier Goethes Abneigung gegen seine Frankfurter Mitbürger
aus, welche im Festhalten an alten reichsbürgcrlichen Rechten, Sitten und Cere-


Entstehungsgeschichte und 5til des Lginont.

zum Gemisst der Geschichte und des Lebens wieder erwacht sei; und er konnte
nach Vollendung des Egmont sagen, daß er kein Stück mit mehr Freiheit des
Gemütes und mit mehr Gewissenhaftigkeit vollbracht habe.

Sogleich nach der Iphigenie wollte Goethe an den Egmont gehen; aber
die Reise nach Unteritalien trat dazwischen. Nach seiner Rückkehr nimmt er das
Stück in Rom vor, und die Arbeit geht anfangs wieder schnell. Am 6. Juli 1787
ist der erste Akt im reinen und zur Reife, an ganze Szenen brauchte er hier
nicht zu rühren. Am 17. Juli ist Egmont bis in den vierten Akt gediehen.
Dann geht es wieder langsam, erst am 1. August wird er damit fertig. Am
11. August kann er bereits die Vollendung des Ganzen melden, wenn auch bis An¬
fang (5.) September immer noch etwas zu bessern und Lücken auszufüllen bleiben.




Diese äußeren Daten sollen dem folgenden Versuche, der Entstehung des
Egmont von innen beizukommen, nur als Stützpunkte dienen. Ich versuche,
dem Gange des Stückes folgend, nachzuweisen, was man aus inneren
Gründen etwa in die Frankfurter und was in die Weimarer Zeit, zu welcher
Italien keinen Gegensatz bildet, zu verweisen hätte. Das chronologische Moment
ist uns dabei sehr gleichgiltig, von Wichtigkeit aber der Unterschied, welchen die
verschiednen Partien in Bezug auf Stil und Ton aufzeigen. Wenn ich daher
sage, diese oder jene Szene scheine in die Frankfurter Zeit zu gehören, so meine
ich zunächst damit, daß sie im Stile von Sturm und Drang, besonders im
Stile des Götz gehalten sei; das biographische Moment kommt erst hinterher
in Betracht.

Daß die Volks- und Bürgcrszeuen in der aufgeknöpfte», stndentenhaften Manier,
welche Goethe an der ersten Fassung tadelte, besser wiederzugeben waren als in
dem klassischen Stil der Weimarer Zeit, ist von vornherein deutlich. Volks¬
und Massenszenen, soweit sie nicht bloße Aufzüge sind, hat Goethe nach dem
Götz und Egmont nicht mehr geschrieben; anch die Szenen „vor dem Thore"
im Faust werden vor der italienischen Reise anzusetzen sein. In Frankfurt haben
wir auch die Modelle zu den Bürgern im Egmont zu suchen. Zwar schildert
Egmont selber seine Landsleute (in der später umgearbeiteten Szene mit Alba)
sehr vorteilhaft: „Es sind Männer, werth Gottes Boden zu treten, ein jeder
rund für sich, ein kleiner König, fest, rührig, fähig, treu, an alten Sitten hangend.
Schwer ist's, ihr Zutrauen zu verdienen, leicht, zu erhalten. Starr und fest!
Zu drücken sind sie, nicht zu unterdrücken." Aber dieser Schilderung entsprechen
die Bürger im Stücke sehr wenig. Diese führen vielmehr das Goethen schon in
der Zeit des Götz verhaßte Sprüchelchen für Weiber: „Leben und leben lassen"
im Munde: unsre Fürsten, sagt Soest, müssen leben und leben lassen; unsre
Miliz, sagt Jctter, lebte und ließ leben. Mehr oder weniger sind sie alle Philister,
und deutlich spricht sich hier Goethes Abneigung gegen seine Frankfurter Mitbürger
aus, welche im Festhalten an alten reichsbürgcrlichen Rechten, Sitten und Cere-


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[0371] Entstehungsgeschichte und 5til des Lginont. zum Gemisst der Geschichte und des Lebens wieder erwacht sei; und er konnte nach Vollendung des Egmont sagen, daß er kein Stück mit mehr Freiheit des Gemütes und mit mehr Gewissenhaftigkeit vollbracht habe. Sogleich nach der Iphigenie wollte Goethe an den Egmont gehen; aber die Reise nach Unteritalien trat dazwischen. Nach seiner Rückkehr nimmt er das Stück in Rom vor, und die Arbeit geht anfangs wieder schnell. Am 6. Juli 1787 ist der erste Akt im reinen und zur Reife, an ganze Szenen brauchte er hier nicht zu rühren. Am 17. Juli ist Egmont bis in den vierten Akt gediehen. Dann geht es wieder langsam, erst am 1. August wird er damit fertig. Am 11. August kann er bereits die Vollendung des Ganzen melden, wenn auch bis An¬ fang (5.) September immer noch etwas zu bessern und Lücken auszufüllen bleiben. Diese äußeren Daten sollen dem folgenden Versuche, der Entstehung des Egmont von innen beizukommen, nur als Stützpunkte dienen. Ich versuche, dem Gange des Stückes folgend, nachzuweisen, was man aus inneren Gründen etwa in die Frankfurter und was in die Weimarer Zeit, zu welcher Italien keinen Gegensatz bildet, zu verweisen hätte. Das chronologische Moment ist uns dabei sehr gleichgiltig, von Wichtigkeit aber der Unterschied, welchen die verschiednen Partien in Bezug auf Stil und Ton aufzeigen. Wenn ich daher sage, diese oder jene Szene scheine in die Frankfurter Zeit zu gehören, so meine ich zunächst damit, daß sie im Stile von Sturm und Drang, besonders im Stile des Götz gehalten sei; das biographische Moment kommt erst hinterher in Betracht. Daß die Volks- und Bürgcrszeuen in der aufgeknöpfte», stndentenhaften Manier, welche Goethe an der ersten Fassung tadelte, besser wiederzugeben waren als in dem klassischen Stil der Weimarer Zeit, ist von vornherein deutlich. Volks¬ und Massenszenen, soweit sie nicht bloße Aufzüge sind, hat Goethe nach dem Götz und Egmont nicht mehr geschrieben; anch die Szenen „vor dem Thore" im Faust werden vor der italienischen Reise anzusetzen sein. In Frankfurt haben wir auch die Modelle zu den Bürgern im Egmont zu suchen. Zwar schildert Egmont selber seine Landsleute (in der später umgearbeiteten Szene mit Alba) sehr vorteilhaft: „Es sind Männer, werth Gottes Boden zu treten, ein jeder rund für sich, ein kleiner König, fest, rührig, fähig, treu, an alten Sitten hangend. Schwer ist's, ihr Zutrauen zu verdienen, leicht, zu erhalten. Starr und fest! Zu drücken sind sie, nicht zu unterdrücken." Aber dieser Schilderung entsprechen die Bürger im Stücke sehr wenig. Diese führen vielmehr das Goethen schon in der Zeit des Götz verhaßte Sprüchelchen für Weiber: „Leben und leben lassen" im Munde: unsre Fürsten, sagt Soest, müssen leben und leben lassen; unsre Miliz, sagt Jctter, lebte und ließ leben. Mehr oder weniger sind sie alle Philister, und deutlich spricht sich hier Goethes Abneigung gegen seine Frankfurter Mitbürger aus, welche im Festhalten an alten reichsbürgcrlichen Rechten, Sitten und Cere-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/371>, abgerufen am 23.07.2024.