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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die Ministerveränderung in Frankreich.

die Franzosen wie die Beschwörung eines Schwarzkünstlers gewirkt und alles
ins Wanken gebracht. Die napoleonische Legende schien sich in Nebel aufgelöst
zu haben, Sedan hatte Austerlitz ausgelöscht, die Verminderung des französischen
Gebietes hatte die Erinnerung an die Eroberungen des ersten Bonaparte ver¬
dunkelt, schwere Steuern ließen selbst die Bauern den Wohlstand vergessen,
welcher unter dem zweiten Kaiserreiche geherrscht hatte. Der Tod des Sohnes
Louis Napoleons hatte die Imperialisten eines populären und unternehmenden
jugendlichen Führers beraubt lind an Stelle desselben ihnen einen höchst unbe¬
liebten Manu als Verfechter ihrer Sache aufgenötigt, den ein Teil der Partei
durchaus nicht mochte. Und trotz alledem hat der Imperialismus Leben in sich
behalten, "mit zwanzig Todeswunden auf dein Schädel" schwankt sein Geist durch
die Politik des Landes, und die Republik ist nicht stark genug, über den Spuk
zu lachen. Auch andre Gespenster sehen wie eine Gefahr aus. Von 1830 an
mußte das Erloschensein der bourbonischen Sache volle vierzig Jahre lang als
feststehende Thatsache gelten. Ludwig Philipp regierte achtzehn Jahre, und als
er vertrieben wurde, dachte in Frankreich keine Seele an Berufung des Grafen
Chambord auf den Thron. Der Republik von damals folgte das Kaiserreich,
und die Aussichten auf eine Restauration verblichen noch mehr. Gab es hier
und da noch Freunde der alten Dynastie, so schloß der Charakter des erblichen
Trägers ihrer Ansprüche alle vernünftig begründete Hoffnung aus. Er war
ein frommer Herr, der an Wunder glaubte, sehr geduldig, allen Wagnissen ab¬
geneigt, nur entschlossen in seiner Weigerung, die nationale Fahne und mit ihr
die neue Zeit anzuerkennen. Freunde wie Gegner stimmten darin überein, daß
nur ein Mirakel ihm die Krone aufs Haupt setzen könne. Und siehe da, das
Mirakel war 1873 nahe daran, sich zu vollziehen. Der "Roh" hatte sein Mani¬
fest mit der weißen Fahne noch nicht zurückgenommen, als der Graf von Paris
die Ansprüche der jüngern Linie zu Gunsten der ältern aufgab, und die Ver-
sailler Nationalversammlung schien jetzt eine Mehrheit von Rohalisten zu ent¬
halten. Später waren die Ehren, welche dem Prinzen des Hauses Orleans zu¬
teil wurden, an sich ein Beweis, daß "der Aberglaube der Legitimität," wie es
die Republikaner nennen, in Frankreich nicht ganz ausgestorben sein kann. Die
jüngere Linie der Bourbonen hatte in Gestalt des Grafen von Paris in Frohs-
dorf mit voller Überlegung auf unmittelbare Erfolge verzichtet, sie hatte sich
dort zu den Ideen des letzten Vertreters der ältern bekehrt und sich damit dessen
UnPopularität eingeimpft. Seit ihrer Rückkehr nach Frankreich haben diese
Prinzen wenig gethan, um sich beliebt zu machen. Und doch fürchtet die Re¬
publik offenbar diese stillen, reservirten, obskuren Herren, als ob die bloße
Gegenwart derselben im Lande mit einem zweiten General Monk drohte.

Gewisse ausländische Beobachter behaupten, die Franzosen seien ein wetter¬
wendisches Volk, das leicht vergesse, und die Revolution habe einen tiefen Ab¬
grund zwischen dem alten und dem neuen Frankreich aufgerissen. In Frankreich


Grcnzbvlni I. 18W. 4:!
Die Ministerveränderung in Frankreich.

die Franzosen wie die Beschwörung eines Schwarzkünstlers gewirkt und alles
ins Wanken gebracht. Die napoleonische Legende schien sich in Nebel aufgelöst
zu haben, Sedan hatte Austerlitz ausgelöscht, die Verminderung des französischen
Gebietes hatte die Erinnerung an die Eroberungen des ersten Bonaparte ver¬
dunkelt, schwere Steuern ließen selbst die Bauern den Wohlstand vergessen,
welcher unter dem zweiten Kaiserreiche geherrscht hatte. Der Tod des Sohnes
Louis Napoleons hatte die Imperialisten eines populären und unternehmenden
jugendlichen Führers beraubt lind an Stelle desselben ihnen einen höchst unbe¬
liebten Manu als Verfechter ihrer Sache aufgenötigt, den ein Teil der Partei
durchaus nicht mochte. Und trotz alledem hat der Imperialismus Leben in sich
behalten, „mit zwanzig Todeswunden auf dein Schädel" schwankt sein Geist durch
die Politik des Landes, und die Republik ist nicht stark genug, über den Spuk
zu lachen. Auch andre Gespenster sehen wie eine Gefahr aus. Von 1830 an
mußte das Erloschensein der bourbonischen Sache volle vierzig Jahre lang als
feststehende Thatsache gelten. Ludwig Philipp regierte achtzehn Jahre, und als
er vertrieben wurde, dachte in Frankreich keine Seele an Berufung des Grafen
Chambord auf den Thron. Der Republik von damals folgte das Kaiserreich,
und die Aussichten auf eine Restauration verblichen noch mehr. Gab es hier
und da noch Freunde der alten Dynastie, so schloß der Charakter des erblichen
Trägers ihrer Ansprüche alle vernünftig begründete Hoffnung aus. Er war
ein frommer Herr, der an Wunder glaubte, sehr geduldig, allen Wagnissen ab¬
geneigt, nur entschlossen in seiner Weigerung, die nationale Fahne und mit ihr
die neue Zeit anzuerkennen. Freunde wie Gegner stimmten darin überein, daß
nur ein Mirakel ihm die Krone aufs Haupt setzen könne. Und siehe da, das
Mirakel war 1873 nahe daran, sich zu vollziehen. Der „Roh" hatte sein Mani¬
fest mit der weißen Fahne noch nicht zurückgenommen, als der Graf von Paris
die Ansprüche der jüngern Linie zu Gunsten der ältern aufgab, und die Ver-
sailler Nationalversammlung schien jetzt eine Mehrheit von Rohalisten zu ent¬
halten. Später waren die Ehren, welche dem Prinzen des Hauses Orleans zu¬
teil wurden, an sich ein Beweis, daß „der Aberglaube der Legitimität," wie es
die Republikaner nennen, in Frankreich nicht ganz ausgestorben sein kann. Die
jüngere Linie der Bourbonen hatte in Gestalt des Grafen von Paris in Frohs-
dorf mit voller Überlegung auf unmittelbare Erfolge verzichtet, sie hatte sich
dort zu den Ideen des letzten Vertreters der ältern bekehrt und sich damit dessen
UnPopularität eingeimpft. Seit ihrer Rückkehr nach Frankreich haben diese
Prinzen wenig gethan, um sich beliebt zu machen. Und doch fürchtet die Re¬
publik offenbar diese stillen, reservirten, obskuren Herren, als ob die bloße
Gegenwart derselben im Lande mit einem zweiten General Monk drohte.

Gewisse ausländische Beobachter behaupten, die Franzosen seien ein wetter¬
wendisches Volk, das leicht vergesse, und die Revolution habe einen tiefen Ab¬
grund zwischen dem alten und dem neuen Frankreich aufgerissen. In Frankreich


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[0345] Die Ministerveränderung in Frankreich. die Franzosen wie die Beschwörung eines Schwarzkünstlers gewirkt und alles ins Wanken gebracht. Die napoleonische Legende schien sich in Nebel aufgelöst zu haben, Sedan hatte Austerlitz ausgelöscht, die Verminderung des französischen Gebietes hatte die Erinnerung an die Eroberungen des ersten Bonaparte ver¬ dunkelt, schwere Steuern ließen selbst die Bauern den Wohlstand vergessen, welcher unter dem zweiten Kaiserreiche geherrscht hatte. Der Tod des Sohnes Louis Napoleons hatte die Imperialisten eines populären und unternehmenden jugendlichen Führers beraubt lind an Stelle desselben ihnen einen höchst unbe¬ liebten Manu als Verfechter ihrer Sache aufgenötigt, den ein Teil der Partei durchaus nicht mochte. Und trotz alledem hat der Imperialismus Leben in sich behalten, „mit zwanzig Todeswunden auf dein Schädel" schwankt sein Geist durch die Politik des Landes, und die Republik ist nicht stark genug, über den Spuk zu lachen. Auch andre Gespenster sehen wie eine Gefahr aus. Von 1830 an mußte das Erloschensein der bourbonischen Sache volle vierzig Jahre lang als feststehende Thatsache gelten. Ludwig Philipp regierte achtzehn Jahre, und als er vertrieben wurde, dachte in Frankreich keine Seele an Berufung des Grafen Chambord auf den Thron. Der Republik von damals folgte das Kaiserreich, und die Aussichten auf eine Restauration verblichen noch mehr. Gab es hier und da noch Freunde der alten Dynastie, so schloß der Charakter des erblichen Trägers ihrer Ansprüche alle vernünftig begründete Hoffnung aus. Er war ein frommer Herr, der an Wunder glaubte, sehr geduldig, allen Wagnissen ab¬ geneigt, nur entschlossen in seiner Weigerung, die nationale Fahne und mit ihr die neue Zeit anzuerkennen. Freunde wie Gegner stimmten darin überein, daß nur ein Mirakel ihm die Krone aufs Haupt setzen könne. Und siehe da, das Mirakel war 1873 nahe daran, sich zu vollziehen. Der „Roh" hatte sein Mani¬ fest mit der weißen Fahne noch nicht zurückgenommen, als der Graf von Paris die Ansprüche der jüngern Linie zu Gunsten der ältern aufgab, und die Ver- sailler Nationalversammlung schien jetzt eine Mehrheit von Rohalisten zu ent¬ halten. Später waren die Ehren, welche dem Prinzen des Hauses Orleans zu¬ teil wurden, an sich ein Beweis, daß „der Aberglaube der Legitimität," wie es die Republikaner nennen, in Frankreich nicht ganz ausgestorben sein kann. Die jüngere Linie der Bourbonen hatte in Gestalt des Grafen von Paris in Frohs- dorf mit voller Überlegung auf unmittelbare Erfolge verzichtet, sie hatte sich dort zu den Ideen des letzten Vertreters der ältern bekehrt und sich damit dessen UnPopularität eingeimpft. Seit ihrer Rückkehr nach Frankreich haben diese Prinzen wenig gethan, um sich beliebt zu machen. Und doch fürchtet die Re¬ publik offenbar diese stillen, reservirten, obskuren Herren, als ob die bloße Gegenwart derselben im Lande mit einem zweiten General Monk drohte. Gewisse ausländische Beobachter behaupten, die Franzosen seien ein wetter¬ wendisches Volk, das leicht vergesse, und die Revolution habe einen tiefen Ab¬ grund zwischen dem alten und dem neuen Frankreich aufgerissen. In Frankreich Grcnzbvlni I. 18W. 4:!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/345>, abgerufen am 03.07.2024.