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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die Ministerveränderung in Frankreich,

werden wollte, die es bedrohten. In Marseille waren die Sozialisten nicht ein¬
mal Franzosen genug, um höflich gegen die Exkaiserin zu sein, die ihnen einen
Palast und einen Park geschenkt hatte. In Lyon wollen die Roten dem Seiden¬
handel durch Wahl von Kommunisten aushelfen, welche statt geordneter Regierung
die Anarchie empfehlend Gott für abgeschafft erklären. In Paris drängen die
Munizipalräte die Deputirten zu überstürzten Anträgen, und die demokratischen
Klubs überwachen die Munizipalräte. Es sieht aus, als ob es den "Entschiedener"
nicht genügte, die Prinzen dem Löwen des Radikalismus vorzuwerfen. Man
hört auch schon wildes Geschrei, welches sich gegen die Priester, die Beamten,
die Träger von Titeln und vor allem gegen die freilich vielfach mit Recht ver¬
haßte Finanzwelt richtet. Alles das wirkt ans die finanzielle und kommerzielle
Lage zurück, die, wenn auch noch keineswegs verzweifelt, doch gestört ist, und
das Barometer der Pariser Börse zittert und fällt wie vor einem heraufziehenden
Gewitter. Und weiter: jene Furcht und jener Haß hallen in den Kreisen der Ab¬
geordneten wieder, die nicht wieder gewählt zu werden fürchten, wenn sie wider¬
sprechen wollten, und werden von Ministern kundgegeben, die im Amte zu bleiben
wünschen. Wenn aber zu der Furcht vor den Prätendenten und ihren Anhängern
einiger Grund vorhanden ist, so liegt er lediglich in der Schwäche der Republik.
Dieselbe würde stark sein, wenn sie ihre Aufgabe begriffe, d. h. wenn sie wüßte,
daß sie konservativ und friedfertig sein muß, wenn sie am Leben bleiben will.
Wenn eine Napoleonische Restauration denkbar wäre, so würde der neue Kaiser
beinahe von vornherein auf einen Nachekrieg gegen Deutschland hinsteuern müssen.
Ebenso würden die Legitimsten und Orleanisten, um die vou Paris aus das
Laud beeinflussende chauvinistische Genossenschaft zu befriedigen, das Versprechen
eines baldigen Kreuzzugs zur Wiedergewinnung der Rheingrenze geben müssen.
Und doch kann kein Zweifel darüber obwalten, daß die große Mehrheit der Franzosen
einen solchen Krieg verabscheut, ihn wenigstens sür die Gegenwart und die nächste
Zukunft nicht will. Aber die jetzige Regierung hat das Land nicht gehörig in
der Hand, und so überläßt sie sich zu sehr der Strömung des Parteitreibens.
Warum beging sie den ersten Fehler in dieser Angelegenheit, die Verhaftung
des Prinzen Napoleon, und warum den zweiten, die Adoptirnng der Floquet-
schen und Ballueschen Anträge in ihren wesentlichen Punkten? Einfach aus
Furcht vor der leidenschaftlichen und aufsässigen Mehrheit der Deputirten, welche
sie zu unterstützen vorgab. Sie war ein geduldetes Kabinet, und sie wußte
recht wohl, daß sie jeden Augenblick von vorn und zugleich von hinten ange¬
griffen werden konnte. Die ganze jüngste französische Politik in auswärtigen
Angelegenheiten läßt sich nur begreifen und entschuldigen, wenn man sich diese
Lage der Minister vergegenwärtigt. Freycinet und Duelerc waren ebenso rasch
entschlossen als ängstlich, heute unternehmend, morgen unentschieden, jetzt voll
Eifer und den nächsten Tag zögernd, lediglich weil sie bald mehr den Tadel
des Zentrums, sie opferten französische Interessen, bald mehr den Vorwurf der


Die Ministerveränderung in Frankreich,

werden wollte, die es bedrohten. In Marseille waren die Sozialisten nicht ein¬
mal Franzosen genug, um höflich gegen die Exkaiserin zu sein, die ihnen einen
Palast und einen Park geschenkt hatte. In Lyon wollen die Roten dem Seiden¬
handel durch Wahl von Kommunisten aushelfen, welche statt geordneter Regierung
die Anarchie empfehlend Gott für abgeschafft erklären. In Paris drängen die
Munizipalräte die Deputirten zu überstürzten Anträgen, und die demokratischen
Klubs überwachen die Munizipalräte. Es sieht aus, als ob es den „Entschiedener"
nicht genügte, die Prinzen dem Löwen des Radikalismus vorzuwerfen. Man
hört auch schon wildes Geschrei, welches sich gegen die Priester, die Beamten,
die Träger von Titeln und vor allem gegen die freilich vielfach mit Recht ver¬
haßte Finanzwelt richtet. Alles das wirkt ans die finanzielle und kommerzielle
Lage zurück, die, wenn auch noch keineswegs verzweifelt, doch gestört ist, und
das Barometer der Pariser Börse zittert und fällt wie vor einem heraufziehenden
Gewitter. Und weiter: jene Furcht und jener Haß hallen in den Kreisen der Ab¬
geordneten wieder, die nicht wieder gewählt zu werden fürchten, wenn sie wider¬
sprechen wollten, und werden von Ministern kundgegeben, die im Amte zu bleiben
wünschen. Wenn aber zu der Furcht vor den Prätendenten und ihren Anhängern
einiger Grund vorhanden ist, so liegt er lediglich in der Schwäche der Republik.
Dieselbe würde stark sein, wenn sie ihre Aufgabe begriffe, d. h. wenn sie wüßte,
daß sie konservativ und friedfertig sein muß, wenn sie am Leben bleiben will.
Wenn eine Napoleonische Restauration denkbar wäre, so würde der neue Kaiser
beinahe von vornherein auf einen Nachekrieg gegen Deutschland hinsteuern müssen.
Ebenso würden die Legitimsten und Orleanisten, um die vou Paris aus das
Laud beeinflussende chauvinistische Genossenschaft zu befriedigen, das Versprechen
eines baldigen Kreuzzugs zur Wiedergewinnung der Rheingrenze geben müssen.
Und doch kann kein Zweifel darüber obwalten, daß die große Mehrheit der Franzosen
einen solchen Krieg verabscheut, ihn wenigstens sür die Gegenwart und die nächste
Zukunft nicht will. Aber die jetzige Regierung hat das Land nicht gehörig in
der Hand, und so überläßt sie sich zu sehr der Strömung des Parteitreibens.
Warum beging sie den ersten Fehler in dieser Angelegenheit, die Verhaftung
des Prinzen Napoleon, und warum den zweiten, die Adoptirnng der Floquet-
schen und Ballueschen Anträge in ihren wesentlichen Punkten? Einfach aus
Furcht vor der leidenschaftlichen und aufsässigen Mehrheit der Deputirten, welche
sie zu unterstützen vorgab. Sie war ein geduldetes Kabinet, und sie wußte
recht wohl, daß sie jeden Augenblick von vorn und zugleich von hinten ange¬
griffen werden konnte. Die ganze jüngste französische Politik in auswärtigen
Angelegenheiten läßt sich nur begreifen und entschuldigen, wenn man sich diese
Lage der Minister vergegenwärtigt. Freycinet und Duelerc waren ebenso rasch
entschlossen als ängstlich, heute unternehmend, morgen unentschieden, jetzt voll
Eifer und den nächsten Tag zögernd, lediglich weil sie bald mehr den Tadel
des Zentrums, sie opferten französische Interessen, bald mehr den Vorwurf der


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[0341] Die Ministerveränderung in Frankreich, werden wollte, die es bedrohten. In Marseille waren die Sozialisten nicht ein¬ mal Franzosen genug, um höflich gegen die Exkaiserin zu sein, die ihnen einen Palast und einen Park geschenkt hatte. In Lyon wollen die Roten dem Seiden¬ handel durch Wahl von Kommunisten aushelfen, welche statt geordneter Regierung die Anarchie empfehlend Gott für abgeschafft erklären. In Paris drängen die Munizipalräte die Deputirten zu überstürzten Anträgen, und die demokratischen Klubs überwachen die Munizipalräte. Es sieht aus, als ob es den „Entschiedener" nicht genügte, die Prinzen dem Löwen des Radikalismus vorzuwerfen. Man hört auch schon wildes Geschrei, welches sich gegen die Priester, die Beamten, die Träger von Titeln und vor allem gegen die freilich vielfach mit Recht ver¬ haßte Finanzwelt richtet. Alles das wirkt ans die finanzielle und kommerzielle Lage zurück, die, wenn auch noch keineswegs verzweifelt, doch gestört ist, und das Barometer der Pariser Börse zittert und fällt wie vor einem heraufziehenden Gewitter. Und weiter: jene Furcht und jener Haß hallen in den Kreisen der Ab¬ geordneten wieder, die nicht wieder gewählt zu werden fürchten, wenn sie wider¬ sprechen wollten, und werden von Ministern kundgegeben, die im Amte zu bleiben wünschen. Wenn aber zu der Furcht vor den Prätendenten und ihren Anhängern einiger Grund vorhanden ist, so liegt er lediglich in der Schwäche der Republik. Dieselbe würde stark sein, wenn sie ihre Aufgabe begriffe, d. h. wenn sie wüßte, daß sie konservativ und friedfertig sein muß, wenn sie am Leben bleiben will. Wenn eine Napoleonische Restauration denkbar wäre, so würde der neue Kaiser beinahe von vornherein auf einen Nachekrieg gegen Deutschland hinsteuern müssen. Ebenso würden die Legitimsten und Orleanisten, um die vou Paris aus das Laud beeinflussende chauvinistische Genossenschaft zu befriedigen, das Versprechen eines baldigen Kreuzzugs zur Wiedergewinnung der Rheingrenze geben müssen. Und doch kann kein Zweifel darüber obwalten, daß die große Mehrheit der Franzosen einen solchen Krieg verabscheut, ihn wenigstens sür die Gegenwart und die nächste Zukunft nicht will. Aber die jetzige Regierung hat das Land nicht gehörig in der Hand, und so überläßt sie sich zu sehr der Strömung des Parteitreibens. Warum beging sie den ersten Fehler in dieser Angelegenheit, die Verhaftung des Prinzen Napoleon, und warum den zweiten, die Adoptirnng der Floquet- schen und Ballueschen Anträge in ihren wesentlichen Punkten? Einfach aus Furcht vor der leidenschaftlichen und aufsässigen Mehrheit der Deputirten, welche sie zu unterstützen vorgab. Sie war ein geduldetes Kabinet, und sie wußte recht wohl, daß sie jeden Augenblick von vorn und zugleich von hinten ange¬ griffen werden konnte. Die ganze jüngste französische Politik in auswärtigen Angelegenheiten läßt sich nur begreifen und entschuldigen, wenn man sich diese Lage der Minister vergegenwärtigt. Freycinet und Duelerc waren ebenso rasch entschlossen als ängstlich, heute unternehmend, morgen unentschieden, jetzt voll Eifer und den nächsten Tag zögernd, lediglich weil sie bald mehr den Tadel des Zentrums, sie opferten französische Interessen, bald mehr den Vorwurf der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/341>, abgerufen am 23.07.2024.