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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Lyrische Dichtungen und Dichter,

Doch mit jedem Wcmvcrschritt
Weck' ich welker Blätter Rausche"

klingt durch die kleine Reihe der zugleich formschönen und schlichten Gedichte
des kleinen Bandes wenigstens durch die besten, "Stimmungen" und "Vermischte
Gedichte" überschrieben, hindurch. Wir müssen aber diese Abschnitte höher halten
als die "Zeitgedichte" desselben Dichters. Obschon wahrlich eine schwungvoll
kräftige Mahnung wie die "Am zehnjährigen Gedenktage des Frankfurter Frie¬
dens" als gutes Wort an guter Statt geehrt werden muß, so tritt doch in ver-
schiednen andern Zeitgedichtcn jenes rhetorische Element hervor, welches sich uur
selten in echte Poesie wandeln läßt. Aus tiefster Seele erklingen dagegen Ge¬
dichte wie "Schließe, schließe die Augen," "Musengruß," "Vorwärts," "Der
Arbeit Segen," "An Karl von Holtet."

Eine ziemlich gereifte Begabung für poetische Erzählung und Schilderung
spricht aus den Dichtungen des Prinzen Emil zu Schönaich-Carolath
(Stuttgart, G. I. Göschen), erfreulich wirkt sie selten. Der erlauchte Dichter
scheint bei Byron, Alfred de Musset und den französischen Romantikern über¬
haupt in die Schule gegangen. Er wirkt mit grellen Gegensätzen, wie sie das
größte und bedeutendste Gedicht des kleinen Bandes, "Angelina," aufweist. Die
Prachtmomente des ersten Teiles werden dnrch den grell häßlichen Schluß stark
beeinträchtigt. Auch "Die Sphinx," "Der schwarze Hans" und die lyrischen
Gedichte sind vom Geiste jenes herben, hosfnungsarmen Pessimismus erfüllt,
dem aller Genuß und alle Schönheit der Welt nur den Stachel schärft. Es
ist Leben, Blut, Kolorit, feines Schönheitsgefühl in diesen "Dichtungen," und
für das, was uns darin abstößt, wäre es wohl unrecht, den einzelnen
Dichter verantwortlich zu machen. Es ist eine Zeitkrankheit, die Hunderte er¬
greift und dahinrafft und sich lieber die ernsten, ticfergestimmten, reicheren Na¬
turen als die leichten, selbstzufriedenen zu Opfern wählt. Wenige sind stark
genug, die Krankheit zu überwinden, ja neue Kraft in der Genesung noch zu
gewinnen, doch werden nur diese wenigen die Dichter der Zukunft sein.




Lyrische Dichtungen und Dichter,

Doch mit jedem Wcmvcrschritt
Weck' ich welker Blätter Rausche»

klingt durch die kleine Reihe der zugleich formschönen und schlichten Gedichte
des kleinen Bandes wenigstens durch die besten, „Stimmungen" und „Vermischte
Gedichte" überschrieben, hindurch. Wir müssen aber diese Abschnitte höher halten
als die „Zeitgedichte" desselben Dichters. Obschon wahrlich eine schwungvoll
kräftige Mahnung wie die „Am zehnjährigen Gedenktage des Frankfurter Frie¬
dens" als gutes Wort an guter Statt geehrt werden muß, so tritt doch in ver-
schiednen andern Zeitgedichtcn jenes rhetorische Element hervor, welches sich uur
selten in echte Poesie wandeln läßt. Aus tiefster Seele erklingen dagegen Ge¬
dichte wie „Schließe, schließe die Augen," „Musengruß," „Vorwärts," „Der
Arbeit Segen," „An Karl von Holtet."

Eine ziemlich gereifte Begabung für poetische Erzählung und Schilderung
spricht aus den Dichtungen des Prinzen Emil zu Schönaich-Carolath
(Stuttgart, G. I. Göschen), erfreulich wirkt sie selten. Der erlauchte Dichter
scheint bei Byron, Alfred de Musset und den französischen Romantikern über¬
haupt in die Schule gegangen. Er wirkt mit grellen Gegensätzen, wie sie das
größte und bedeutendste Gedicht des kleinen Bandes, „Angelina," aufweist. Die
Prachtmomente des ersten Teiles werden dnrch den grell häßlichen Schluß stark
beeinträchtigt. Auch „Die Sphinx," „Der schwarze Hans" und die lyrischen
Gedichte sind vom Geiste jenes herben, hosfnungsarmen Pessimismus erfüllt,
dem aller Genuß und alle Schönheit der Welt nur den Stachel schärft. Es
ist Leben, Blut, Kolorit, feines Schönheitsgefühl in diesen „Dichtungen," und
für das, was uns darin abstößt, wäre es wohl unrecht, den einzelnen
Dichter verantwortlich zu machen. Es ist eine Zeitkrankheit, die Hunderte er¬
greift und dahinrafft und sich lieber die ernsten, ticfergestimmten, reicheren Na¬
turen als die leichten, selbstzufriedenen zu Opfern wählt. Wenige sind stark
genug, die Krankheit zu überwinden, ja neue Kraft in der Genesung noch zu
gewinnen, doch werden nur diese wenigen die Dichter der Zukunft sein.




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[0324] Lyrische Dichtungen und Dichter, Doch mit jedem Wcmvcrschritt Weck' ich welker Blätter Rausche» klingt durch die kleine Reihe der zugleich formschönen und schlichten Gedichte des kleinen Bandes wenigstens durch die besten, „Stimmungen" und „Vermischte Gedichte" überschrieben, hindurch. Wir müssen aber diese Abschnitte höher halten als die „Zeitgedichte" desselben Dichters. Obschon wahrlich eine schwungvoll kräftige Mahnung wie die „Am zehnjährigen Gedenktage des Frankfurter Frie¬ dens" als gutes Wort an guter Statt geehrt werden muß, so tritt doch in ver- schiednen andern Zeitgedichtcn jenes rhetorische Element hervor, welches sich uur selten in echte Poesie wandeln läßt. Aus tiefster Seele erklingen dagegen Ge¬ dichte wie „Schließe, schließe die Augen," „Musengruß," „Vorwärts," „Der Arbeit Segen," „An Karl von Holtet." Eine ziemlich gereifte Begabung für poetische Erzählung und Schilderung spricht aus den Dichtungen des Prinzen Emil zu Schönaich-Carolath (Stuttgart, G. I. Göschen), erfreulich wirkt sie selten. Der erlauchte Dichter scheint bei Byron, Alfred de Musset und den französischen Romantikern über¬ haupt in die Schule gegangen. Er wirkt mit grellen Gegensätzen, wie sie das größte und bedeutendste Gedicht des kleinen Bandes, „Angelina," aufweist. Die Prachtmomente des ersten Teiles werden dnrch den grell häßlichen Schluß stark beeinträchtigt. Auch „Die Sphinx," „Der schwarze Hans" und die lyrischen Gedichte sind vom Geiste jenes herben, hosfnungsarmen Pessimismus erfüllt, dem aller Genuß und alle Schönheit der Welt nur den Stachel schärft. Es ist Leben, Blut, Kolorit, feines Schönheitsgefühl in diesen „Dichtungen," und für das, was uns darin abstößt, wäre es wohl unrecht, den einzelnen Dichter verantwortlich zu machen. Es ist eine Zeitkrankheit, die Hunderte er¬ greift und dahinrafft und sich lieber die ernsten, ticfergestimmten, reicheren Na¬ turen als die leichten, selbstzufriedenen zu Opfern wählt. Wenige sind stark genug, die Krankheit zu überwinden, ja neue Kraft in der Genesung noch zu gewinnen, doch werden nur diese wenigen die Dichter der Zukunft sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/324>, abgerufen am 23.07.2024.