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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Treitschkes Deutsche Geschichte.

zwischen Vaiern und dem liberalen Deutschland machte, als Gewinns sein un¬
gerechtes Zerrbild von König Ludwig in die Welt schickte. Vor allem aber ist
eins ausgeschlossen. Gewiß könnte, wie Baumgarten sagt, "heute gar nichts
verkehrteres gedacht werden, als den nichtprenßischen Deutschen die Empfindung
zu wecken, als sehe man in Berlin mit Geringschätzung auf sie herab." Aber
wer hat dies gethan? Wer kann das Buch Treitschkes im Zusammenhange
lesen, ohne berührt zu werden von dem Hauche seines warmherzigen patriotischen
Empfindens für das Ganze unsers deutschen Volkstums, welches er so fein¬
sinnig in seinen verschiednen Ausprägungen zu charakterisiren weiß? Die poli¬
tische Seite ist doch nur die eine; aber man braucht nur auf das wundervolle
erste Kapitel des Bandes zu verweisen, worin er die geistigen Strömungen der
ersten Friedensjahre schildert -- eines der glänzendsten Spezimina geistvoller
und umfassender kulturgeschichtlicher Darstellung, die wir besitzen, -- um die
Ungeheuerlichkeit einer solchen Anklage, wenn sie ernstlich erhoben werden sollte,
zu charakterisiren.

Und zuletzt. Nun ja, es wird niemand in Treitschke einen Historiker er¬
kennen wollen von der Strenge und Kühle Rankescher Objektivität, welche ich
für meinen Teil allerdings als das Höchste und Reinste verehre, was die deutsche
Wissenschaft auf dem Gebiete historischer Leistung zur Anschauung gebracht hat,
deren Anwendbarkeit auf alle Objekte aber wenigstens nicht erwiesen ist. Es
ist wahr, neben vielen andern beneidenswerten Gaben haben die Götter diesem
Manne etwas heißeres Blut verliehen, als in den Adern der meisten andern
fließt. Es ist ein leidenschaftlicher Zug in seinem Wesen, nicht allein in seinem
Darstellen und Urteilen, sondern schon in seinem Sehen und Erkennen. Leiden¬
schaft kann den Blick trüben, sie kann ihn auch schärfen zu höher gesteigerter
Erkenntniskraft, und in leidenschaftlichen Naturen wird sie bald in der einen,
bald in der andern Richtung wirken. Es liegt mir fern, zu leugnen, daß nicht
auch bei Treitschke die ungünstige Wirkung erkennbar sei; er ist stark und heftig
in seinem Für und in seinem Wider, er kann auch ungerecht sein und ist es
vielleicht bisweilen, es kann ihm begegnen (und ihm allein?), daß in dem ge¬
schlossenen Gesamtbild einer Persönlichkeit, welches ihm aus seinen Studie"?
erwachsen ist, einzelne Züge zu Gunsten oder Ungunsten sich verschieben oder
ihm entfallen; das ist bei Friedrich Wilhelm III. wohl zuweilen geschehen, und
in der von den beiden Kritikern vielbesprochnen Charakteristik Rottecks würde
ich gewiß gewünscht haben, daß ihm die von Dr. Bulle angeführten Stellen
nicht entgangen oder entfallen wären, welche das von dem Haupte der süd¬
deutschen Liberalen entworfene Bild allerdings in einigen Zügen korrigiren.
Aber man wolle doch solche Fündchen nicht so maßlos aufbauschen. Und ent¬
springt nicht andrerseits aus jener leidenschaftlichen Bewegtheit des Naturells
gerade auch das beste, was uns an dieser Geschichtschreibung erfreut, die warme
und erwärmende Lebhaftigkeit der Darstellung, die stets präsente Fülle konkreter


Grmztwteu I. 1883. l!L
Treitschkes Deutsche Geschichte.

zwischen Vaiern und dem liberalen Deutschland machte, als Gewinns sein un¬
gerechtes Zerrbild von König Ludwig in die Welt schickte. Vor allem aber ist
eins ausgeschlossen. Gewiß könnte, wie Baumgarten sagt, „heute gar nichts
verkehrteres gedacht werden, als den nichtprenßischen Deutschen die Empfindung
zu wecken, als sehe man in Berlin mit Geringschätzung auf sie herab." Aber
wer hat dies gethan? Wer kann das Buch Treitschkes im Zusammenhange
lesen, ohne berührt zu werden von dem Hauche seines warmherzigen patriotischen
Empfindens für das Ganze unsers deutschen Volkstums, welches er so fein¬
sinnig in seinen verschiednen Ausprägungen zu charakterisiren weiß? Die poli¬
tische Seite ist doch nur die eine; aber man braucht nur auf das wundervolle
erste Kapitel des Bandes zu verweisen, worin er die geistigen Strömungen der
ersten Friedensjahre schildert — eines der glänzendsten Spezimina geistvoller
und umfassender kulturgeschichtlicher Darstellung, die wir besitzen, — um die
Ungeheuerlichkeit einer solchen Anklage, wenn sie ernstlich erhoben werden sollte,
zu charakterisiren.

Und zuletzt. Nun ja, es wird niemand in Treitschke einen Historiker er¬
kennen wollen von der Strenge und Kühle Rankescher Objektivität, welche ich
für meinen Teil allerdings als das Höchste und Reinste verehre, was die deutsche
Wissenschaft auf dem Gebiete historischer Leistung zur Anschauung gebracht hat,
deren Anwendbarkeit auf alle Objekte aber wenigstens nicht erwiesen ist. Es
ist wahr, neben vielen andern beneidenswerten Gaben haben die Götter diesem
Manne etwas heißeres Blut verliehen, als in den Adern der meisten andern
fließt. Es ist ein leidenschaftlicher Zug in seinem Wesen, nicht allein in seinem
Darstellen und Urteilen, sondern schon in seinem Sehen und Erkennen. Leiden¬
schaft kann den Blick trüben, sie kann ihn auch schärfen zu höher gesteigerter
Erkenntniskraft, und in leidenschaftlichen Naturen wird sie bald in der einen,
bald in der andern Richtung wirken. Es liegt mir fern, zu leugnen, daß nicht
auch bei Treitschke die ungünstige Wirkung erkennbar sei; er ist stark und heftig
in seinem Für und in seinem Wider, er kann auch ungerecht sein und ist es
vielleicht bisweilen, es kann ihm begegnen (und ihm allein?), daß in dem ge¬
schlossenen Gesamtbild einer Persönlichkeit, welches ihm aus seinen Studie«?
erwachsen ist, einzelne Züge zu Gunsten oder Ungunsten sich verschieben oder
ihm entfallen; das ist bei Friedrich Wilhelm III. wohl zuweilen geschehen, und
in der von den beiden Kritikern vielbesprochnen Charakteristik Rottecks würde
ich gewiß gewünscht haben, daß ihm die von Dr. Bulle angeführten Stellen
nicht entgangen oder entfallen wären, welche das von dem Haupte der süd¬
deutschen Liberalen entworfene Bild allerdings in einigen Zügen korrigiren.
Aber man wolle doch solche Fündchen nicht so maßlos aufbauschen. Und ent¬
springt nicht andrerseits aus jener leidenschaftlichen Bewegtheit des Naturells
gerade auch das beste, was uns an dieser Geschichtschreibung erfreut, die warme
und erwärmende Lebhaftigkeit der Darstellung, die stets präsente Fülle konkreter


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[0257] Treitschkes Deutsche Geschichte. zwischen Vaiern und dem liberalen Deutschland machte, als Gewinns sein un¬ gerechtes Zerrbild von König Ludwig in die Welt schickte. Vor allem aber ist eins ausgeschlossen. Gewiß könnte, wie Baumgarten sagt, „heute gar nichts verkehrteres gedacht werden, als den nichtprenßischen Deutschen die Empfindung zu wecken, als sehe man in Berlin mit Geringschätzung auf sie herab." Aber wer hat dies gethan? Wer kann das Buch Treitschkes im Zusammenhange lesen, ohne berührt zu werden von dem Hauche seines warmherzigen patriotischen Empfindens für das Ganze unsers deutschen Volkstums, welches er so fein¬ sinnig in seinen verschiednen Ausprägungen zu charakterisiren weiß? Die poli¬ tische Seite ist doch nur die eine; aber man braucht nur auf das wundervolle erste Kapitel des Bandes zu verweisen, worin er die geistigen Strömungen der ersten Friedensjahre schildert — eines der glänzendsten Spezimina geistvoller und umfassender kulturgeschichtlicher Darstellung, die wir besitzen, — um die Ungeheuerlichkeit einer solchen Anklage, wenn sie ernstlich erhoben werden sollte, zu charakterisiren. Und zuletzt. Nun ja, es wird niemand in Treitschke einen Historiker er¬ kennen wollen von der Strenge und Kühle Rankescher Objektivität, welche ich für meinen Teil allerdings als das Höchste und Reinste verehre, was die deutsche Wissenschaft auf dem Gebiete historischer Leistung zur Anschauung gebracht hat, deren Anwendbarkeit auf alle Objekte aber wenigstens nicht erwiesen ist. Es ist wahr, neben vielen andern beneidenswerten Gaben haben die Götter diesem Manne etwas heißeres Blut verliehen, als in den Adern der meisten andern fließt. Es ist ein leidenschaftlicher Zug in seinem Wesen, nicht allein in seinem Darstellen und Urteilen, sondern schon in seinem Sehen und Erkennen. Leiden¬ schaft kann den Blick trüben, sie kann ihn auch schärfen zu höher gesteigerter Erkenntniskraft, und in leidenschaftlichen Naturen wird sie bald in der einen, bald in der andern Richtung wirken. Es liegt mir fern, zu leugnen, daß nicht auch bei Treitschke die ungünstige Wirkung erkennbar sei; er ist stark und heftig in seinem Für und in seinem Wider, er kann auch ungerecht sein und ist es vielleicht bisweilen, es kann ihm begegnen (und ihm allein?), daß in dem ge¬ schlossenen Gesamtbild einer Persönlichkeit, welches ihm aus seinen Studie«? erwachsen ist, einzelne Züge zu Gunsten oder Ungunsten sich verschieben oder ihm entfallen; das ist bei Friedrich Wilhelm III. wohl zuweilen geschehen, und in der von den beiden Kritikern vielbesprochnen Charakteristik Rottecks würde ich gewiß gewünscht haben, daß ihm die von Dr. Bulle angeführten Stellen nicht entgangen oder entfallen wären, welche das von dem Haupte der süd¬ deutschen Liberalen entworfene Bild allerdings in einigen Zügen korrigiren. Aber man wolle doch solche Fündchen nicht so maßlos aufbauschen. Und ent¬ springt nicht andrerseits aus jener leidenschaftlichen Bewegtheit des Naturells gerade auch das beste, was uns an dieser Geschichtschreibung erfreut, die warme und erwärmende Lebhaftigkeit der Darstellung, die stets präsente Fülle konkreter Grmztwteu I. 1883. l!L

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/257>, abgerufen am 23.07.2024.