Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.Politische Briefe. Gefühl der Verantwortung stärker auf ihm gelastet wie bei irgendeinem der folgen¬ Der Zolltarif wurde mit einem Schlage im Jahre 1879 erneuert. Auf Politische Briefe. Gefühl der Verantwortung stärker auf ihm gelastet wie bei irgendeinem der folgen¬ Der Zolltarif wurde mit einem Schlage im Jahre 1879 erneuert. Auf <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151750"/> <fw type="header" place="top"> Politische Briefe.</fw><lb/> <p xml:id="ID_706" prev="#ID_705"> Gefühl der Verantwortung stärker auf ihm gelastet wie bei irgendeinem der folgen¬<lb/> reichen Entschlüsse seiner Laufbahn. Er hatte selbst im Reichstag ausgesprochen,<lb/> daß die Frage nach ihrem ganzen Umfange von keiner Einsicht zur Zeit beherrscht<lb/> werde. Aber angesichts eines sich verschlimmernden Übels muß der Staatsmann<lb/> handeln, auch wenn es keine perfekte Theorie der Heilung giebt. Bezeichnend<lb/> für die deutsche Art ist es, daß durch die Zollreform mehr als durch irgend<lb/> einen Schritt der Reichskanzler sich das Vertrauen eines patriotisch gesinnten<lb/> Teiles der deutschen Liberalen entfremdet hat. Der Theorie zuwider sind die<lb/> Wirkungen der Tarifrcform oder, was auch die überzeugtester Gegner zugeben<lb/> müssen, die begleitenden Erscheinungen derselben nur günstige gewesen. Es sind<lb/> also nicht einmal Interessen, oder nur sehr vereinzelte Interessen, von welchen<lb/> die nachhaltige Opposition gegen die Tarifreform ausgeht. Es ist vielmehr die<lb/> von der Unfehlbarkeit ihrer Einsicht überzeugte Theorie. Man muß dies achten,<lb/> und es ist zu bedauern, daß der Kampf mit der freihändlerischen Opposition,<lb/> die zum Teil aus ruhigen, ernsten Männern besteht, eine so bittre und unschöne<lb/> Form angenommen hat. Einen großen Anteil daran hat freilich die politische<lb/> Opposition des Fortschritts, welche sich der Freihandelslehre als willkommener<lb/> Waffe bedient. Den überzeugten Anhängern der deutschen Freihandelslehre<lb/> möge in Bezug auf den Inhalt der Frage, die sich im gegenwärtigen Zusammen<lb/> hange nicht eingehend behandeln läßt, nur folgende Erwägung immer wieder<lb/> empfohlen sein, die keineswegs neu ist. Die Segnungen des Freihandels setzen<lb/> zu ihrer Verwirklichung die Ausbreitung der Freihandelsprinzipien über den<lb/> Erdkreis oder doch über einen Kreis bedeutender Wirtschaftsgebiete voraus.<lb/> Hütte wirklich ein patriotischer Anhänger des Freihandels in Deutschland es<lb/> wagen wollen, die Freihandelspolitik bei uns fortzusetzen, während die andern<lb/> großen Nationen beim Schutzzoll beharrten oder zu ihm zurückkehrten? Die<lb/> Folge wäre dann doch nicht abzuwehren gewesen, daß die ersten Quellen der<lb/> wirtschaftlichen Unabhängigkeit: Ackerbau, Waldkultur u. s. w. versiegt wären,<lb/> während wir keinen Produktionszweig gehabt hätten, dessen Artikel das Ausland<lb/> uns hätte abnehmen müssen. Wir wären mindestens einer sehr gefährlichen<lb/> Krisis für eine Periode von unberechenbarer Dauer ausgesetzt worden, wenn<lb/> wir bei den großen Anforderungen, die der Staat in der nächsten Zeit unver¬<lb/> meidlich an die nationale Wirtschaft stellen muß, die letztere starken Schwankungen<lb/> preisgegeben hätten.</p><lb/> <p xml:id="ID_707" next="#ID_708"> Der Zolltarif wurde mit einem Schlage im Jahre 1879 erneuert. Auf<lb/> dem Wege der Sozialreform giebt es keine Muster, jeder Schritt ist ein Ex¬<lb/> periment, und so ist es kein Wunder, daß auf diesem Wege uoch nicht einmal der<lb/> erste Schritt gethan worden ist. Die Unfallversicherung der Arbeiter sollte dieser<lb/> Schritt sein, und von unserm Standpunkte haben wir zu bedauern, daß die<lb/> Gedanken der ersten Vorlage in der zweiten so vielfach aufgegeben und nach unserm<lb/> Urteil keineswegs durch praktischere ersetzt worden sind. Auch bei diesem Gegen-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0220]
Politische Briefe.
Gefühl der Verantwortung stärker auf ihm gelastet wie bei irgendeinem der folgen¬
reichen Entschlüsse seiner Laufbahn. Er hatte selbst im Reichstag ausgesprochen,
daß die Frage nach ihrem ganzen Umfange von keiner Einsicht zur Zeit beherrscht
werde. Aber angesichts eines sich verschlimmernden Übels muß der Staatsmann
handeln, auch wenn es keine perfekte Theorie der Heilung giebt. Bezeichnend
für die deutsche Art ist es, daß durch die Zollreform mehr als durch irgend
einen Schritt der Reichskanzler sich das Vertrauen eines patriotisch gesinnten
Teiles der deutschen Liberalen entfremdet hat. Der Theorie zuwider sind die
Wirkungen der Tarifrcform oder, was auch die überzeugtester Gegner zugeben
müssen, die begleitenden Erscheinungen derselben nur günstige gewesen. Es sind
also nicht einmal Interessen, oder nur sehr vereinzelte Interessen, von welchen
die nachhaltige Opposition gegen die Tarifreform ausgeht. Es ist vielmehr die
von der Unfehlbarkeit ihrer Einsicht überzeugte Theorie. Man muß dies achten,
und es ist zu bedauern, daß der Kampf mit der freihändlerischen Opposition,
die zum Teil aus ruhigen, ernsten Männern besteht, eine so bittre und unschöne
Form angenommen hat. Einen großen Anteil daran hat freilich die politische
Opposition des Fortschritts, welche sich der Freihandelslehre als willkommener
Waffe bedient. Den überzeugten Anhängern der deutschen Freihandelslehre
möge in Bezug auf den Inhalt der Frage, die sich im gegenwärtigen Zusammen
hange nicht eingehend behandeln läßt, nur folgende Erwägung immer wieder
empfohlen sein, die keineswegs neu ist. Die Segnungen des Freihandels setzen
zu ihrer Verwirklichung die Ausbreitung der Freihandelsprinzipien über den
Erdkreis oder doch über einen Kreis bedeutender Wirtschaftsgebiete voraus.
Hütte wirklich ein patriotischer Anhänger des Freihandels in Deutschland es
wagen wollen, die Freihandelspolitik bei uns fortzusetzen, während die andern
großen Nationen beim Schutzzoll beharrten oder zu ihm zurückkehrten? Die
Folge wäre dann doch nicht abzuwehren gewesen, daß die ersten Quellen der
wirtschaftlichen Unabhängigkeit: Ackerbau, Waldkultur u. s. w. versiegt wären,
während wir keinen Produktionszweig gehabt hätten, dessen Artikel das Ausland
uns hätte abnehmen müssen. Wir wären mindestens einer sehr gefährlichen
Krisis für eine Periode von unberechenbarer Dauer ausgesetzt worden, wenn
wir bei den großen Anforderungen, die der Staat in der nächsten Zeit unver¬
meidlich an die nationale Wirtschaft stellen muß, die letztere starken Schwankungen
preisgegeben hätten.
Der Zolltarif wurde mit einem Schlage im Jahre 1879 erneuert. Auf
dem Wege der Sozialreform giebt es keine Muster, jeder Schritt ist ein Ex¬
periment, und so ist es kein Wunder, daß auf diesem Wege uoch nicht einmal der
erste Schritt gethan worden ist. Die Unfallversicherung der Arbeiter sollte dieser
Schritt sein, und von unserm Standpunkte haben wir zu bedauern, daß die
Gedanken der ersten Vorlage in der zweiten so vielfach aufgegeben und nach unserm
Urteil keineswegs durch praktischere ersetzt worden sind. Auch bei diesem Gegen-
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