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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Das vergangne Jahr.

in einer Umarbeitung wieder zugehen sollte. Inzwischen legten Delegirte der
drei Gruppen der damals stark beabsichtigten, aber bis heute noch nicht zustande
gekommnen "großen liberalen Partei" dem Reichstage ihrerseits einen Plan der
Art vor, um zu zeigen, daß sie nicht bloß kritisiren, sondern auch Positives
leisten und sich ebenfalls für das Wohl der Arbeiter interessiren könnten.
Dieser näherte sich in wesentlichen Punkten dem, welcher das Jahr zuvor dem
Reichstage vom Bundesrate übergeben worden war, namentlich war es erfreulich,
daß selbst die manchesterlichen Fortschrittler und Sezessionisten den Versicherungs-
zwang empfahlen; doch zeigten die Vorschläge der liberalen Opposition anch
Mängel, die eine Verständigung mit der Negierung unwahrscheinlich machten.
Der Antrag Windthorsts, das Jnternirungs- und Verbanmmgsgesetz von 1874
aufzuheben, wurde auch von einem Teile der Liberalen unterstützt und fand
schließlich Annahme, aber nicht vom Bundesrate; das Zentrum erfocht damit
also keinen großen Sieg, wohl aber hatte die Fortschrittspartei, um die Politik
des Kanzlers zu stören, mit diesem Schritte den "Weg nach Canossa" betreten,
den sie bisher mit so kräftigen Reden verworfen. Im ganzen und großen hatte
der Reichstag, als er gegen Ende Januar geschlossen wurde, fleißig gearbeitet
und die Befürchtungen, die man nach dem Ausfalle der Wahlen gehegt hatte,
nur teilweise gerechtfertigt. Unter seinen positiven Leistungen nahmen der
Hamburger Zollanschluß, das Gesetz über die Verufsstatistik und der Beschluß
über die Erbauung eines Reichstagsgebäudes den obersten Rang ein, unter
den negativen Ergebnissen stand obenan die von der Eifersucht der Liberalen
herbeigeführte Ablehnung der von der Regierung für einen deutschen Volks¬
wirtschaftsrat verlangten Summen; Hauptstreitfragen wie die sozialpolitische
Reform und das Tabaksmonopol wurden in dieser Session nur gestreift.

Von den Vorlagen, die den am 14. Januar eröffneten preußischen Landtag
beschäftigten, war der kirchenpolitische Gesetzentwurf, welcher auf den gleichen
Gedanken und Absichten wie die Vorlage von 1880 wegen Abänderung der
Maigesetze beruhte, die bedeutsamste. Es handelte sich darum, mit der Regierung
von den Prinzipienfragen abzusehen und die Befriedigung praktischer Bedürfnisse
in die Hand zu nehmen. Das Juligesetz des Vorjahres hatte die Lage der
preußischen Katholiken wesentlich gebessert und hatte in Rom Vertrauen erweckt.
Auf diesem Wege mußte weitergegangen werden. Eine grundsätzliche Abänderung
der Maigesetze war später vielleicht möglich, jetzt aber noch nicht an der Zeit,
da die Ansichten noch der vollen Klärung ermangelten und politische Tendenzen
sich ihnen beimischten. Wenn die Fortschrittspartei, welche die katholische Kirche
bis dahin als Gegnerin der modernen Kultur behandelt hatte, sich jetzt mit den
Ultramontanen zu gehen anschickte, so hatte das nur taktische Bedeutung: man
wollte nicht der katholischen Kirche zu Hilfe kommen, sondern dem Kanzler durch
Ablehnung der von ihm verlangten neuen diskretiouüren Vollmachten eine
Niederlage bereiten und ihm in den Katholiken Feinde erhalten. Dieser Plan


Das vergangne Jahr.

in einer Umarbeitung wieder zugehen sollte. Inzwischen legten Delegirte der
drei Gruppen der damals stark beabsichtigten, aber bis heute noch nicht zustande
gekommnen „großen liberalen Partei" dem Reichstage ihrerseits einen Plan der
Art vor, um zu zeigen, daß sie nicht bloß kritisiren, sondern auch Positives
leisten und sich ebenfalls für das Wohl der Arbeiter interessiren könnten.
Dieser näherte sich in wesentlichen Punkten dem, welcher das Jahr zuvor dem
Reichstage vom Bundesrate übergeben worden war, namentlich war es erfreulich,
daß selbst die manchesterlichen Fortschrittler und Sezessionisten den Versicherungs-
zwang empfahlen; doch zeigten die Vorschläge der liberalen Opposition anch
Mängel, die eine Verständigung mit der Negierung unwahrscheinlich machten.
Der Antrag Windthorsts, das Jnternirungs- und Verbanmmgsgesetz von 1874
aufzuheben, wurde auch von einem Teile der Liberalen unterstützt und fand
schließlich Annahme, aber nicht vom Bundesrate; das Zentrum erfocht damit
also keinen großen Sieg, wohl aber hatte die Fortschrittspartei, um die Politik
des Kanzlers zu stören, mit diesem Schritte den „Weg nach Canossa" betreten,
den sie bisher mit so kräftigen Reden verworfen. Im ganzen und großen hatte
der Reichstag, als er gegen Ende Januar geschlossen wurde, fleißig gearbeitet
und die Befürchtungen, die man nach dem Ausfalle der Wahlen gehegt hatte,
nur teilweise gerechtfertigt. Unter seinen positiven Leistungen nahmen der
Hamburger Zollanschluß, das Gesetz über die Verufsstatistik und der Beschluß
über die Erbauung eines Reichstagsgebäudes den obersten Rang ein, unter
den negativen Ergebnissen stand obenan die von der Eifersucht der Liberalen
herbeigeführte Ablehnung der von der Regierung für einen deutschen Volks¬
wirtschaftsrat verlangten Summen; Hauptstreitfragen wie die sozialpolitische
Reform und das Tabaksmonopol wurden in dieser Session nur gestreift.

Von den Vorlagen, die den am 14. Januar eröffneten preußischen Landtag
beschäftigten, war der kirchenpolitische Gesetzentwurf, welcher auf den gleichen
Gedanken und Absichten wie die Vorlage von 1880 wegen Abänderung der
Maigesetze beruhte, die bedeutsamste. Es handelte sich darum, mit der Regierung
von den Prinzipienfragen abzusehen und die Befriedigung praktischer Bedürfnisse
in die Hand zu nehmen. Das Juligesetz des Vorjahres hatte die Lage der
preußischen Katholiken wesentlich gebessert und hatte in Rom Vertrauen erweckt.
Auf diesem Wege mußte weitergegangen werden. Eine grundsätzliche Abänderung
der Maigesetze war später vielleicht möglich, jetzt aber noch nicht an der Zeit,
da die Ansichten noch der vollen Klärung ermangelten und politische Tendenzen
sich ihnen beimischten. Wenn die Fortschrittspartei, welche die katholische Kirche
bis dahin als Gegnerin der modernen Kultur behandelt hatte, sich jetzt mit den
Ultramontanen zu gehen anschickte, so hatte das nur taktische Bedeutung: man
wollte nicht der katholischen Kirche zu Hilfe kommen, sondern dem Kanzler durch
Ablehnung der von ihm verlangten neuen diskretiouüren Vollmachten eine
Niederlage bereiten und ihm in den Katholiken Feinde erhalten. Dieser Plan


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/11>, abgerufen am 23.07.2024.