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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Glossen eines Deutschen im Auslande,

Man redet jetzt so viel von Überbürdung der Schuljugend, Ein Gegen¬
stand, der sofort vom Unterrichtsprogramm gestrichen werden könnte, ist die Ge¬
schichte, Ans derselben lernt ja doch fast niemand etwas -- und daraus soll
man keinem einen Vorwurf machen, da selbst mancher Professor der Geschichte
so wenig von seinem Studium profitirt hat! -- und zum Zeitvertreib sind ja
historische Romane viel geeigneter. Nicht einmal die Tagesgeschichte macht ans
die freiwilligen Staatsmänner den mindesten Eindruck, Diese Debatten über
die Stellung der Beamte" zu den Wahlen und über die Regiernngspressc!
Preußen hat keine Parteiregierung und wird hoffentlich vor einer solchen be¬
wahrt werden; es ist also ein unfaßbarer Nonsens, daß die Behörden zu all
den Verdrehungen, Erfindungen und Verleumdungen, welche für 238 720 Mark
in die Wahlbewegung geworfen werden, schweigen, und es gar noch ruhig mit
ansehen sollen, wenn Verwaltungsbeamte gegen ihre Vorgesetzten agitiren. Aber
es giebt Staaten, in welchen in der That die Regierung aus der jeweiligen
Majorität zusammengesetzt wird, Ist nnn ein Ministerium glücklich gestürzt,
hat die Tyrannei und Korruption ein Ende, beginnt das ehrliche, verfassungs¬
mäßige Regiment, so erfährt man regelmäßig, diese Regierung, getragen von
der öffentlichen Meinung, bedürfe keine Mittel, dieselbe zu beeinflussen, es gebe
keine offiziöse Presse mehr. Einen Monat pflegt die tugendhafte Stimmung
vorzuhalten, dann melden sich die unabhängigen Gesinnungsgenossen um den
Lohn für ihre uneigennützige Unterstützung, und das abgelvhnte Preßbureau
wird in aller Stille wieder eingesetzt. Aber davon haben die Volksmänner in
Berlin nie etwas gehört. Beiläufig bemerkt: dem armen Virchow immer
wieder seine geflügelten Worte vorzurücken, ist ebenso unpolitisch wie grausam.
Grausam, weil der berühmte Anatom, den seit seinein glorreichen Votum in der
trojanischen Frage einige von seinen politischen Freunden auch für einen Archäo¬
logen halten sollen, als Politiker jn selbst von den Anatomen niemals ernst
genommen worden ist; unpolitisch, weil man ein sutant terridl" der Gegenpartei
nicht verschüchtern soll. Die letzte Schutzrede für seine Ausflüge auf das Gebiet
der auswärtigen Politik war ja wieder unbezahlbar. Wäre die Fabel vom Heu¬
pferde, welches durch sein Ausstiege" den Pferden das Fortschaffen des Last¬
wagens ermöglicht zu haben meinte, nicht schon geschrieben, so müßte man sie
ja ausdrücklich für Virchow, der die deutsche Frage löst, erfinden.

Übrigens gewinnt es doch den Anschein, als wollte der gesunde Menschen¬
verstand sich langsam von der Herrschaft der Phrasendrescher emanzipiren. Es
gehört ein gewisser Mut dazu, das ist nicht zu verkenne"; man muß die falsche
Scham ablegen, sich aus dem Vcrketzertwerdcn nichts machen. Wird der deutsche
Bürger, der sich sagen muß, daß es klüger sei, zu sozialen Reformen selbst die
Hand zu bieten, als sie sich abtrotzen zu lassen, wird der Arbeiter, dem zum
erstenmal von oben her die hilfreiche Hand geboten wird, dieses Maß von
Energie aufbringen?




Glossen eines Deutschen im Auslande,

Man redet jetzt so viel von Überbürdung der Schuljugend, Ein Gegen¬
stand, der sofort vom Unterrichtsprogramm gestrichen werden könnte, ist die Ge¬
schichte, Ans derselben lernt ja doch fast niemand etwas — und daraus soll
man keinem einen Vorwurf machen, da selbst mancher Professor der Geschichte
so wenig von seinem Studium profitirt hat! — und zum Zeitvertreib sind ja
historische Romane viel geeigneter. Nicht einmal die Tagesgeschichte macht ans
die freiwilligen Staatsmänner den mindesten Eindruck, Diese Debatten über
die Stellung der Beamte» zu den Wahlen und über die Regiernngspressc!
Preußen hat keine Parteiregierung und wird hoffentlich vor einer solchen be¬
wahrt werden; es ist also ein unfaßbarer Nonsens, daß die Behörden zu all
den Verdrehungen, Erfindungen und Verleumdungen, welche für 238 720 Mark
in die Wahlbewegung geworfen werden, schweigen, und es gar noch ruhig mit
ansehen sollen, wenn Verwaltungsbeamte gegen ihre Vorgesetzten agitiren. Aber
es giebt Staaten, in welchen in der That die Regierung aus der jeweiligen
Majorität zusammengesetzt wird, Ist nnn ein Ministerium glücklich gestürzt,
hat die Tyrannei und Korruption ein Ende, beginnt das ehrliche, verfassungs¬
mäßige Regiment, so erfährt man regelmäßig, diese Regierung, getragen von
der öffentlichen Meinung, bedürfe keine Mittel, dieselbe zu beeinflussen, es gebe
keine offiziöse Presse mehr. Einen Monat pflegt die tugendhafte Stimmung
vorzuhalten, dann melden sich die unabhängigen Gesinnungsgenossen um den
Lohn für ihre uneigennützige Unterstützung, und das abgelvhnte Preßbureau
wird in aller Stille wieder eingesetzt. Aber davon haben die Volksmänner in
Berlin nie etwas gehört. Beiläufig bemerkt: dem armen Virchow immer
wieder seine geflügelten Worte vorzurücken, ist ebenso unpolitisch wie grausam.
Grausam, weil der berühmte Anatom, den seit seinein glorreichen Votum in der
trojanischen Frage einige von seinen politischen Freunden auch für einen Archäo¬
logen halten sollen, als Politiker jn selbst von den Anatomen niemals ernst
genommen worden ist; unpolitisch, weil man ein sutant terridl« der Gegenpartei
nicht verschüchtern soll. Die letzte Schutzrede für seine Ausflüge auf das Gebiet
der auswärtigen Politik war ja wieder unbezahlbar. Wäre die Fabel vom Heu¬
pferde, welches durch sein Ausstiege» den Pferden das Fortschaffen des Last¬
wagens ermöglicht zu haben meinte, nicht schon geschrieben, so müßte man sie
ja ausdrücklich für Virchow, der die deutsche Frage löst, erfinden.

Übrigens gewinnt es doch den Anschein, als wollte der gesunde Menschen¬
verstand sich langsam von der Herrschaft der Phrasendrescher emanzipiren. Es
gehört ein gewisser Mut dazu, das ist nicht zu verkenne»; man muß die falsche
Scham ablegen, sich aus dem Vcrketzertwerdcn nichts machen. Wird der deutsche
Bürger, der sich sagen muß, daß es klüger sei, zu sozialen Reformen selbst die
Hand zu bieten, als sie sich abtrotzen zu lassen, wird der Arbeiter, dem zum
erstenmal von oben her die hilfreiche Hand geboten wird, dieses Maß von
Energie aufbringen?




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[0624] Glossen eines Deutschen im Auslande, Man redet jetzt so viel von Überbürdung der Schuljugend, Ein Gegen¬ stand, der sofort vom Unterrichtsprogramm gestrichen werden könnte, ist die Ge¬ schichte, Ans derselben lernt ja doch fast niemand etwas — und daraus soll man keinem einen Vorwurf machen, da selbst mancher Professor der Geschichte so wenig von seinem Studium profitirt hat! — und zum Zeitvertreib sind ja historische Romane viel geeigneter. Nicht einmal die Tagesgeschichte macht ans die freiwilligen Staatsmänner den mindesten Eindruck, Diese Debatten über die Stellung der Beamte» zu den Wahlen und über die Regiernngspressc! Preußen hat keine Parteiregierung und wird hoffentlich vor einer solchen be¬ wahrt werden; es ist also ein unfaßbarer Nonsens, daß die Behörden zu all den Verdrehungen, Erfindungen und Verleumdungen, welche für 238 720 Mark in die Wahlbewegung geworfen werden, schweigen, und es gar noch ruhig mit ansehen sollen, wenn Verwaltungsbeamte gegen ihre Vorgesetzten agitiren. Aber es giebt Staaten, in welchen in der That die Regierung aus der jeweiligen Majorität zusammengesetzt wird, Ist nnn ein Ministerium glücklich gestürzt, hat die Tyrannei und Korruption ein Ende, beginnt das ehrliche, verfassungs¬ mäßige Regiment, so erfährt man regelmäßig, diese Regierung, getragen von der öffentlichen Meinung, bedürfe keine Mittel, dieselbe zu beeinflussen, es gebe keine offiziöse Presse mehr. Einen Monat pflegt die tugendhafte Stimmung vorzuhalten, dann melden sich die unabhängigen Gesinnungsgenossen um den Lohn für ihre uneigennützige Unterstützung, und das abgelvhnte Preßbureau wird in aller Stille wieder eingesetzt. Aber davon haben die Volksmänner in Berlin nie etwas gehört. Beiläufig bemerkt: dem armen Virchow immer wieder seine geflügelten Worte vorzurücken, ist ebenso unpolitisch wie grausam. Grausam, weil der berühmte Anatom, den seit seinein glorreichen Votum in der trojanischen Frage einige von seinen politischen Freunden auch für einen Archäo¬ logen halten sollen, als Politiker jn selbst von den Anatomen niemals ernst genommen worden ist; unpolitisch, weil man ein sutant terridl« der Gegenpartei nicht verschüchtern soll. Die letzte Schutzrede für seine Ausflüge auf das Gebiet der auswärtigen Politik war ja wieder unbezahlbar. Wäre die Fabel vom Heu¬ pferde, welches durch sein Ausstiege» den Pferden das Fortschaffen des Last¬ wagens ermöglicht zu haben meinte, nicht schon geschrieben, so müßte man sie ja ausdrücklich für Virchow, der die deutsche Frage löst, erfinden. Übrigens gewinnt es doch den Anschein, als wollte der gesunde Menschen¬ verstand sich langsam von der Herrschaft der Phrasendrescher emanzipiren. Es gehört ein gewisser Mut dazu, das ist nicht zu verkenne»; man muß die falsche Scham ablegen, sich aus dem Vcrketzertwerdcn nichts machen. Wird der deutsche Bürger, der sich sagen muß, daß es klüger sei, zu sozialen Reformen selbst die Hand zu bieten, als sie sich abtrotzen zu lassen, wird der Arbeiter, dem zum erstenmal von oben her die hilfreiche Hand geboten wird, dieses Maß von Energie aufbringen?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/624>, abgerufen am 26.06.2024.