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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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rügend kontrvllirbaren Berichte der Unterbehörden oder auf ein leicht ans
schablonenhafte streifendes Abarbeiten der einzelnen Vorlagen angewiesen, bei
welcher letzteren Eventualität dann im Publikum über die unpraktischen Ent¬
scheidungen vom grünen Tische aus geklagt wurde.

Alle diese Mängel würden sich jedoch bei der bekannten Pflichttreue und
Arbeitsenergie der preußischen Verwaltungsbeamten schwerlich besonders fühlbar
gemacht haben, wenn nicht bei der kolossalen Vielseitigkeit der zum Geschäfts¬
kreise der Regierungen gehörigen administrativen Funktionen namentlich in Be¬
zug auf das platte Land die Aufsaugung des gestimmten öffentlichen Lebens
durch dieselben als unvermeidliche Folge hätte eintrete" müssen. Diese Auf¬
saugung war mit einer Verkümmerung gleichbedeutend, weil der Verwaltungs-
körper eines einzelnen Regierungsbezirks viel zu groß ist, um von der einen
Zentralstelle aus stets rechtzeitig und ohne Störungen mit frischem Blutumlauf
versehen zu werden.

Um die lebhafte Agitation für die Verwaltnngsrcform, welche sich bald
der weitesten Kreise bemächtigte, in befriedigender Weise zu erklären, dazu würde
freilich alles bisher Gesagte zusammengenommen nicht ausreichen. In der That
waren es denn auch nicht Rücksichten ans die administrative Technik, sondern
hochpolitische Grüude, welche bei der ganzen Bewegung so sehr die Hauptrolle
gespielt haben, daß fortwährend fast ausschließlich davou die Rede gewesen ist.
Namentlich war es die liberale Partei, welche im Parlament wie in der Presse,
kurz überall und bei jeder Gelegenheit die Dringlichkeit der Reform mit besonderen
Nachdruck betonte, weil der bestehende Verwaltungsorgnnismns, der alte Apparat
des verabscheuten "Polizeistaates" mit dem Geiste der Verfassung im Wider¬
sprach stehe, weil die konsequente Ausbildung des gellende" konstitutionelle"
Systems den Ausbau des "Rechtsstaates" gebieterisch erheische. Noch basirte
die Zusammensetzung der Kreistage auf altständischen Prinzip, noch bestand
vielfach die gutsherrliche Polizei, kam ferner das Institut der Lehnschulzen oder
ein Schulzeuerneuuungsrecht der Gutsherrschnfteu vor. Alle diese "Überreste
aus der Feudalzeit" mußten natürlich dem Liberalismus ein Dorn im Ange
sein. Andrerseits konnte selbst der schroffste Konservative nicht in Abrede stellen,
daß sie in de" Rahme" des konstitutionellen Staates nicht mehr Päßler, und
so konnte auch er gegen die Beseitigung derselben, sofern ein praktischer Ersatz
gesichert war, keine Einwendungen erhebe", obgleich er für das akute Mißbe¬
hagen des Liberalismus über diese Stilwidrigkeit in denn architektonischen Auf¬
bau des preußischen Staates natürlich kein rechtes Verständnis hatte, sinte¬
malen bekanntlich der Konservatismus die liberale Vorliebe, an alte Lebens¬
verhältnisse den Maßstab abstrakter Prinzipien anzulegen und sie darnach zu
beurteilen, ob sie sich dem nach allen Regeln der Kunst schulgerecht konstruirten
System staatsrechtlicher Theorie willig füge" oder nicht, nicht uur nicht teilt,
sondern im Gegenteil ebenso wie die gotische Baukunst gerade umgekehrt an


rügend kontrvllirbaren Berichte der Unterbehörden oder auf ein leicht ans
schablonenhafte streifendes Abarbeiten der einzelnen Vorlagen angewiesen, bei
welcher letzteren Eventualität dann im Publikum über die unpraktischen Ent¬
scheidungen vom grünen Tische aus geklagt wurde.

Alle diese Mängel würden sich jedoch bei der bekannten Pflichttreue und
Arbeitsenergie der preußischen Verwaltungsbeamten schwerlich besonders fühlbar
gemacht haben, wenn nicht bei der kolossalen Vielseitigkeit der zum Geschäfts¬
kreise der Regierungen gehörigen administrativen Funktionen namentlich in Be¬
zug auf das platte Land die Aufsaugung des gestimmten öffentlichen Lebens
durch dieselben als unvermeidliche Folge hätte eintrete» müssen. Diese Auf¬
saugung war mit einer Verkümmerung gleichbedeutend, weil der Verwaltungs-
körper eines einzelnen Regierungsbezirks viel zu groß ist, um von der einen
Zentralstelle aus stets rechtzeitig und ohne Störungen mit frischem Blutumlauf
versehen zu werden.

Um die lebhafte Agitation für die Verwaltnngsrcform, welche sich bald
der weitesten Kreise bemächtigte, in befriedigender Weise zu erklären, dazu würde
freilich alles bisher Gesagte zusammengenommen nicht ausreichen. In der That
waren es denn auch nicht Rücksichten ans die administrative Technik, sondern
hochpolitische Grüude, welche bei der ganzen Bewegung so sehr die Hauptrolle
gespielt haben, daß fortwährend fast ausschließlich davou die Rede gewesen ist.
Namentlich war es die liberale Partei, welche im Parlament wie in der Presse,
kurz überall und bei jeder Gelegenheit die Dringlichkeit der Reform mit besonderen
Nachdruck betonte, weil der bestehende Verwaltungsorgnnismns, der alte Apparat
des verabscheuten „Polizeistaates" mit dem Geiste der Verfassung im Wider¬
sprach stehe, weil die konsequente Ausbildung des gellende» konstitutionelle»
Systems den Ausbau des „Rechtsstaates" gebieterisch erheische. Noch basirte
die Zusammensetzung der Kreistage auf altständischen Prinzip, noch bestand
vielfach die gutsherrliche Polizei, kam ferner das Institut der Lehnschulzen oder
ein Schulzeuerneuuungsrecht der Gutsherrschnfteu vor. Alle diese „Überreste
aus der Feudalzeit" mußten natürlich dem Liberalismus ein Dorn im Ange
sein. Andrerseits konnte selbst der schroffste Konservative nicht in Abrede stellen,
daß sie in de» Rahme» des konstitutionellen Staates nicht mehr Päßler, und
so konnte auch er gegen die Beseitigung derselben, sofern ein praktischer Ersatz
gesichert war, keine Einwendungen erhebe», obgleich er für das akute Mißbe¬
hagen des Liberalismus über diese Stilwidrigkeit in denn architektonischen Auf¬
bau des preußischen Staates natürlich kein rechtes Verständnis hatte, sinte¬
malen bekanntlich der Konservatismus die liberale Vorliebe, an alte Lebens¬
verhältnisse den Maßstab abstrakter Prinzipien anzulegen und sie darnach zu
beurteilen, ob sie sich dem nach allen Regeln der Kunst schulgerecht konstruirten
System staatsrechtlicher Theorie willig füge» oder nicht, nicht uur nicht teilt,
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[0540] rügend kontrvllirbaren Berichte der Unterbehörden oder auf ein leicht ans schablonenhafte streifendes Abarbeiten der einzelnen Vorlagen angewiesen, bei welcher letzteren Eventualität dann im Publikum über die unpraktischen Ent¬ scheidungen vom grünen Tische aus geklagt wurde. Alle diese Mängel würden sich jedoch bei der bekannten Pflichttreue und Arbeitsenergie der preußischen Verwaltungsbeamten schwerlich besonders fühlbar gemacht haben, wenn nicht bei der kolossalen Vielseitigkeit der zum Geschäfts¬ kreise der Regierungen gehörigen administrativen Funktionen namentlich in Be¬ zug auf das platte Land die Aufsaugung des gestimmten öffentlichen Lebens durch dieselben als unvermeidliche Folge hätte eintrete» müssen. Diese Auf¬ saugung war mit einer Verkümmerung gleichbedeutend, weil der Verwaltungs- körper eines einzelnen Regierungsbezirks viel zu groß ist, um von der einen Zentralstelle aus stets rechtzeitig und ohne Störungen mit frischem Blutumlauf versehen zu werden. Um die lebhafte Agitation für die Verwaltnngsrcform, welche sich bald der weitesten Kreise bemächtigte, in befriedigender Weise zu erklären, dazu würde freilich alles bisher Gesagte zusammengenommen nicht ausreichen. In der That waren es denn auch nicht Rücksichten ans die administrative Technik, sondern hochpolitische Grüude, welche bei der ganzen Bewegung so sehr die Hauptrolle gespielt haben, daß fortwährend fast ausschließlich davou die Rede gewesen ist. Namentlich war es die liberale Partei, welche im Parlament wie in der Presse, kurz überall und bei jeder Gelegenheit die Dringlichkeit der Reform mit besonderen Nachdruck betonte, weil der bestehende Verwaltungsorgnnismns, der alte Apparat des verabscheuten „Polizeistaates" mit dem Geiste der Verfassung im Wider¬ sprach stehe, weil die konsequente Ausbildung des gellende» konstitutionelle» Systems den Ausbau des „Rechtsstaates" gebieterisch erheische. Noch basirte die Zusammensetzung der Kreistage auf altständischen Prinzip, noch bestand vielfach die gutsherrliche Polizei, kam ferner das Institut der Lehnschulzen oder ein Schulzeuerneuuungsrecht der Gutsherrschnfteu vor. Alle diese „Überreste aus der Feudalzeit" mußten natürlich dem Liberalismus ein Dorn im Ange sein. Andrerseits konnte selbst der schroffste Konservative nicht in Abrede stellen, daß sie in de» Rahme» des konstitutionellen Staates nicht mehr Päßler, und so konnte auch er gegen die Beseitigung derselben, sofern ein praktischer Ersatz gesichert war, keine Einwendungen erhebe», obgleich er für das akute Mißbe¬ hagen des Liberalismus über diese Stilwidrigkeit in denn architektonischen Auf¬ bau des preußischen Staates natürlich kein rechtes Verständnis hatte, sinte¬ malen bekanntlich der Konservatismus die liberale Vorliebe, an alte Lebens¬ verhältnisse den Maßstab abstrakter Prinzipien anzulegen und sie darnach zu beurteilen, ob sie sich dem nach allen Regeln der Kunst schulgerecht konstruirten System staatsrechtlicher Theorie willig füge» oder nicht, nicht uur nicht teilt, sondern im Gegenteil ebenso wie die gotische Baukunst gerade umgekehrt an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/540>, abgerufen am 26.06.2024.