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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Gladstone und die parla>ne>ikarische Redefreiheit.

und Unerträgliches leisteten. So erscheint sein Vorgehen auf den ersten Blick ge¬
rechtfertigt. Dennoch hat es seit der Veröffentlichung der betreffenden Resolutionen
unter alleu Parteien des Landes mit Einschluß derjenigen, die jetzt am Ruder
ist, schwere Bedenken und lebhaften Widerspruch wachgerufen, und von den 61 Amen-
dements, welche zu den 14 Resolutionen der neuen Geschäftsordnung eingebracht
worden sind, beziehen sich nicht weniger als 12 auf die erste derselben, welche
eben die Einführung der (lloturö oder, wie die konservativen Blätter sich aus¬
drücken, des "Knebelsystems," des "Maulkorbgcsetzes" bezweckt. Die allgemeine
Aufregung über das Gladstouesche Unternehmen ist aber begreiflich; denn falls
die Beschränkung der Redefreiheit des Unterhauses in der Gestalt, auf welcher
der Premier besteht, durchgehen sollte, würden der Charakter und die Geschichte
der englischen Volksvertretung wesentlich geändert werden, und man übertreibt
nicht, wenn man einen solchen Beschluß, welcher einer einfachen Mehrheit die
Befugnis beilegen würde, der Minderheit plötzlich Schweigen zu gebieten, als
eine parlamentarische Revolution bezeichnet.

Unter der bisherigen Geschäftsordnung gab es eine doppelte Art, das
Zustandekommen von Gesetzen zu hemmen, eine loyale und eine illoyale. Die
erstere ist von alle" hervorragenden Mitgliedern der Regierung und der Oppo¬
sition oft und zuweilen mit großem Vorteil für das Stantsinteressc angewendet
worden; immer aber gab man, an einem bestimmten Punkte angelangt, den
Widerspruch auf, weil er, weiter fortgesetzt, geschadet haben würde. Die letztere
Art ist hauptsächlich modernen und irischen Ursprungs und die alleinige Ursache
der weitverbreiteten verdrießlichen Ungeduld, welche zu der jetzigen Vorlage be¬
wogen hat. Diese würde aber, wie ihre Gegner nicht ohne Grund behaupten,
die berechtigte" Verzögerungen von Beschlüssen härter treffen als die unberechtigten;
denn die Redefreiheit kann unter der Furcht vor dein französischen Mnudvcr-
schluß nicht fortbestehen, während die fattiöse Verschleppung oft Gelegenheit finden
würde, aus der Verwirrung und den arithmetischen Manövern, zu denen die
(Moro Anhalt bietet, Nutzen zu ziehen.

Bisher besaß die Mehrheit im britischen Unterhause alle möglichen Rechte,
nur das nicht, die Minderheit zum Schweigen zu verurteilen. Jetzt soll ihre
Macht auch durch dieses Privilegium verstärkt werde", und die Geduld, welche
die Viele" den Wenigen gegenüber Jahrhunderte hindurch zu beobachten pflegten,
wird dann entweder verschwinden oder davon abhängen, ob man im Hause gerade
großmütig gestimmt ist. Die (Mors hat, wie nicht zu verkennen, auch ihre
lichte Seite. Sie hat in Frankreich nicht selten langweiligen und zwecklosen
Debatten rasch ein Ende gemacht. Man kann ferner annehmen, man werde sich
der mit ihr erlangten Befugnis in England zuerst mit Schonung und nnr in
besonders wichtigen Fällen bedienen; denn schon die Persönlichkeit des gegen¬
wärtigen Sprechers scheint dafür zu bürgen. Später aber würde die Neuerung
aller Erfahrung zufolge ohne Zweifel ein von den wechselnden Majoritäten mehr


Gladstone und die parla>ne>ikarische Redefreiheit.

und Unerträgliches leisteten. So erscheint sein Vorgehen auf den ersten Blick ge¬
rechtfertigt. Dennoch hat es seit der Veröffentlichung der betreffenden Resolutionen
unter alleu Parteien des Landes mit Einschluß derjenigen, die jetzt am Ruder
ist, schwere Bedenken und lebhaften Widerspruch wachgerufen, und von den 61 Amen-
dements, welche zu den 14 Resolutionen der neuen Geschäftsordnung eingebracht
worden sind, beziehen sich nicht weniger als 12 auf die erste derselben, welche
eben die Einführung der (lloturö oder, wie die konservativen Blätter sich aus¬
drücken, des „Knebelsystems," des „Maulkorbgcsetzes" bezweckt. Die allgemeine
Aufregung über das Gladstouesche Unternehmen ist aber begreiflich; denn falls
die Beschränkung der Redefreiheit des Unterhauses in der Gestalt, auf welcher
der Premier besteht, durchgehen sollte, würden der Charakter und die Geschichte
der englischen Volksvertretung wesentlich geändert werden, und man übertreibt
nicht, wenn man einen solchen Beschluß, welcher einer einfachen Mehrheit die
Befugnis beilegen würde, der Minderheit plötzlich Schweigen zu gebieten, als
eine parlamentarische Revolution bezeichnet.

Unter der bisherigen Geschäftsordnung gab es eine doppelte Art, das
Zustandekommen von Gesetzen zu hemmen, eine loyale und eine illoyale. Die
erstere ist von alle» hervorragenden Mitgliedern der Regierung und der Oppo¬
sition oft und zuweilen mit großem Vorteil für das Stantsinteressc angewendet
worden; immer aber gab man, an einem bestimmten Punkte angelangt, den
Widerspruch auf, weil er, weiter fortgesetzt, geschadet haben würde. Die letztere
Art ist hauptsächlich modernen und irischen Ursprungs und die alleinige Ursache
der weitverbreiteten verdrießlichen Ungeduld, welche zu der jetzigen Vorlage be¬
wogen hat. Diese würde aber, wie ihre Gegner nicht ohne Grund behaupten,
die berechtigte» Verzögerungen von Beschlüssen härter treffen als die unberechtigten;
denn die Redefreiheit kann unter der Furcht vor dein französischen Mnudvcr-
schluß nicht fortbestehen, während die fattiöse Verschleppung oft Gelegenheit finden
würde, aus der Verwirrung und den arithmetischen Manövern, zu denen die
(Moro Anhalt bietet, Nutzen zu ziehen.

Bisher besaß die Mehrheit im britischen Unterhause alle möglichen Rechte,
nur das nicht, die Minderheit zum Schweigen zu verurteilen. Jetzt soll ihre
Macht auch durch dieses Privilegium verstärkt werde», und die Geduld, welche
die Viele» den Wenigen gegenüber Jahrhunderte hindurch zu beobachten pflegten,
wird dann entweder verschwinden oder davon abhängen, ob man im Hause gerade
großmütig gestimmt ist. Die (Mors hat, wie nicht zu verkennen, auch ihre
lichte Seite. Sie hat in Frankreich nicht selten langweiligen und zwecklosen
Debatten rasch ein Ende gemacht. Man kann ferner annehmen, man werde sich
der mit ihr erlangten Befugnis in England zuerst mit Schonung und nnr in
besonders wichtigen Fällen bedienen; denn schon die Persönlichkeit des gegen¬
wärtigen Sprechers scheint dafür zu bürgen. Später aber würde die Neuerung
aller Erfahrung zufolge ohne Zweifel ein von den wechselnden Majoritäten mehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/490>, abgerufen am 22.07.2024.