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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.

zum erstenmale erscheint, wie Don Juan undLeporello in ihre Nähe kommen, noch
immer wird das munderbare Sextett des zweiten Aktes in irgend einem un-
definirbarcn Zimmer gesungen, noch immer fehlen im Finale des ersten Aktes
die so leicht, so wohlfeil zu beschaffender drei kleinen Orchester, dnrch deren
Mitwirkung die Musik und die Scene erst verständlich wird. Und doch fehlt
es nicht an sorgfältigen Textbearbeitungen und Essays über die Oper (von
Wolzogen, Gnglcr, Grandauer u. a.), die für den scenischen Coiinex die besten
Vorschläge machen, welche denn anch wenigstens von einigen unsrer großen
Theater cieceptirt sind. Unglaublich viel bleibt überall noch zu thun. Susanne setzt
dem Pagen im "Figaro" ein Häubchen auf. Der Graf erscheint, der Page
flüchtet ius Nebenzimmer, die geängstete Gräfin gesteht nach längerem Zögern
die Verkleidung des Page" ein, der "bloße Arme, offene Haare trage und aus
Scherz in Weiberkleidern stecke." Und dies alles um des Häubchens willen,
das der kecke Knabe sicherlich längst beseitigt haben würde, wenn er nicht schon
den Sprung zum Fenster hinaus ans des Gärtners Blumentöpfe gethan hätte?
Es ist eben Tradition, und so ist es noch manches andre, was endlich fallen
muß, wenn die Oper mit dem Schauspiel, dem sie in mancher Beziehung und
jedenfalls in der Gunst des Publikums überlegen ist, gleichen Schritt halten
null. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Geister des "Hans Helling" unge¬
straft vor den Lampen stehen und in das Publikum hinaussiugcn durften:
"Rüstig geschafft mit stetiger Kraft," ohne während dessen auch nur eine Hand
zu rühren. Man erträgt es nicht mehr geduldig, die Wache im "Fidclio"
Pizarros Arie starr und steif in gerader Linie unter dem Gewehr mit der Stelle:
"Er spricht von Tod und Wunde" accompagniren zu hören -- Worte, die darauf
hinweisen, daß die Soldaten die Köpfe zusammenstecken und in Gruppen, flüsternd,
dem musikalische" Monolog ihres Gouverneurs folgen. Mau verlangt wie im
Schauspiel so auch in der Oper Wahrheit der Vorgänge, nicht die platte
Kopie der Alltäglichkeit, sondern stilisirte Wirklichkeit, die Wahrheit der Kunst,
die aus dem bunten Schwall der Begebenheiten nur das Wesentliche heraus¬
hebt und dies nach den Gesetzen der Schönheit sich vollziehen läßt. Die Be¬
rufenen mögen sich regen. Hier gilt es nicht ein verlorenes Eldorado wieder
zu gewinnen, hier handelt sichs um ganz neue Ziele der Kunst, deren Erreichung
der Bühne einen Gewinn bringen wird, welchen die "gute alte Zeit" zuverlässig
noch nicht kannte.


Heinrich Bulthaupt.


Die deutsche Bühne der Gegenwart.

zum erstenmale erscheint, wie Don Juan undLeporello in ihre Nähe kommen, noch
immer wird das munderbare Sextett des zweiten Aktes in irgend einem un-
definirbarcn Zimmer gesungen, noch immer fehlen im Finale des ersten Aktes
die so leicht, so wohlfeil zu beschaffender drei kleinen Orchester, dnrch deren
Mitwirkung die Musik und die Scene erst verständlich wird. Und doch fehlt
es nicht an sorgfältigen Textbearbeitungen und Essays über die Oper (von
Wolzogen, Gnglcr, Grandauer u. a.), die für den scenischen Coiinex die besten
Vorschläge machen, welche denn anch wenigstens von einigen unsrer großen
Theater cieceptirt sind. Unglaublich viel bleibt überall noch zu thun. Susanne setzt
dem Pagen im „Figaro" ein Häubchen auf. Der Graf erscheint, der Page
flüchtet ius Nebenzimmer, die geängstete Gräfin gesteht nach längerem Zögern
die Verkleidung des Page» ein, der „bloße Arme, offene Haare trage und aus
Scherz in Weiberkleidern stecke." Und dies alles um des Häubchens willen,
das der kecke Knabe sicherlich längst beseitigt haben würde, wenn er nicht schon
den Sprung zum Fenster hinaus ans des Gärtners Blumentöpfe gethan hätte?
Es ist eben Tradition, und so ist es noch manches andre, was endlich fallen
muß, wenn die Oper mit dem Schauspiel, dem sie in mancher Beziehung und
jedenfalls in der Gunst des Publikums überlegen ist, gleichen Schritt halten
null. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Geister des „Hans Helling" unge¬
straft vor den Lampen stehen und in das Publikum hinaussiugcn durften:
„Rüstig geschafft mit stetiger Kraft," ohne während dessen auch nur eine Hand
zu rühren. Man erträgt es nicht mehr geduldig, die Wache im „Fidclio"
Pizarros Arie starr und steif in gerader Linie unter dem Gewehr mit der Stelle:
„Er spricht von Tod und Wunde" accompagniren zu hören — Worte, die darauf
hinweisen, daß die Soldaten die Köpfe zusammenstecken und in Gruppen, flüsternd,
dem musikalische» Monolog ihres Gouverneurs folgen. Mau verlangt wie im
Schauspiel so auch in der Oper Wahrheit der Vorgänge, nicht die platte
Kopie der Alltäglichkeit, sondern stilisirte Wirklichkeit, die Wahrheit der Kunst,
die aus dem bunten Schwall der Begebenheiten nur das Wesentliche heraus¬
hebt und dies nach den Gesetzen der Schönheit sich vollziehen läßt. Die Be¬
rufenen mögen sich regen. Hier gilt es nicht ein verlorenes Eldorado wieder
zu gewinnen, hier handelt sichs um ganz neue Ziele der Kunst, deren Erreichung
der Bühne einen Gewinn bringen wird, welchen die „gute alte Zeit" zuverlässig
noch nicht kannte.


Heinrich Bulthaupt.


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[0042] Die deutsche Bühne der Gegenwart. zum erstenmale erscheint, wie Don Juan undLeporello in ihre Nähe kommen, noch immer wird das munderbare Sextett des zweiten Aktes in irgend einem un- definirbarcn Zimmer gesungen, noch immer fehlen im Finale des ersten Aktes die so leicht, so wohlfeil zu beschaffender drei kleinen Orchester, dnrch deren Mitwirkung die Musik und die Scene erst verständlich wird. Und doch fehlt es nicht an sorgfältigen Textbearbeitungen und Essays über die Oper (von Wolzogen, Gnglcr, Grandauer u. a.), die für den scenischen Coiinex die besten Vorschläge machen, welche denn anch wenigstens von einigen unsrer großen Theater cieceptirt sind. Unglaublich viel bleibt überall noch zu thun. Susanne setzt dem Pagen im „Figaro" ein Häubchen auf. Der Graf erscheint, der Page flüchtet ius Nebenzimmer, die geängstete Gräfin gesteht nach längerem Zögern die Verkleidung des Page» ein, der „bloße Arme, offene Haare trage und aus Scherz in Weiberkleidern stecke." Und dies alles um des Häubchens willen, das der kecke Knabe sicherlich längst beseitigt haben würde, wenn er nicht schon den Sprung zum Fenster hinaus ans des Gärtners Blumentöpfe gethan hätte? Es ist eben Tradition, und so ist es noch manches andre, was endlich fallen muß, wenn die Oper mit dem Schauspiel, dem sie in mancher Beziehung und jedenfalls in der Gunst des Publikums überlegen ist, gleichen Schritt halten null. Die Zeiten sind vorbei, in denen die Geister des „Hans Helling" unge¬ straft vor den Lampen stehen und in das Publikum hinaussiugcn durften: „Rüstig geschafft mit stetiger Kraft," ohne während dessen auch nur eine Hand zu rühren. Man erträgt es nicht mehr geduldig, die Wache im „Fidclio" Pizarros Arie starr und steif in gerader Linie unter dem Gewehr mit der Stelle: „Er spricht von Tod und Wunde" accompagniren zu hören — Worte, die darauf hinweisen, daß die Soldaten die Köpfe zusammenstecken und in Gruppen, flüsternd, dem musikalische» Monolog ihres Gouverneurs folgen. Mau verlangt wie im Schauspiel so auch in der Oper Wahrheit der Vorgänge, nicht die platte Kopie der Alltäglichkeit, sondern stilisirte Wirklichkeit, die Wahrheit der Kunst, die aus dem bunten Schwall der Begebenheiten nur das Wesentliche heraus¬ hebt und dies nach den Gesetzen der Schönheit sich vollziehen läßt. Die Be¬ rufenen mögen sich regen. Hier gilt es nicht ein verlorenes Eldorado wieder zu gewinnen, hier handelt sichs um ganz neue Ziele der Kunst, deren Erreichung der Bühne einen Gewinn bringen wird, welchen die „gute alte Zeit" zuverlässig noch nicht kannte. Heinrich Bulthaupt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/42>, abgerufen am 26.06.2024.