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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Herrn Meyers Kinder.

Melodie richtig heraus, das Klavier ist ihr Schrecken, obwohl sie seit zehn Jahren
darauf zu spielen unterrichtet wird. Dagegen weiß sie die Nibelungen, den Cid,
die Frithjofssage und manche andere Gedichte von Anfang bis zu Ende aus¬
wendig, und die Sprachen scheinen ihr nur so anzufliegen.

Das vierte und fünfte Kind sind Zwillingsknaben, und wenn man sich
wundern muß über die Verschiedenheit der gleich erzogenen Schwestern, so muß
man noch mehr erstaunen über die Verschiedenheit dieser nicht mir gleich er¬
zogenen, sondern auch zur selben Stunde geborenen Brüder, die einander äußerlich
gleiche" wie ein El dem andern. Der eine ist ein kleiner Roland. Er nimmt
es mit jedem Knaben auf, er ist der Schrecken seiner Klasse und seiner Lehrer.
Er hat so viel Narben an seinem jugendlichen Leibe wie der Balafre Ludwigs XI.,
und die Wissenschaften sind ihm ein Greuel. Sein Bruder aber haßt den Kampf
und liebt die Bücher. Er sitzt eine Klasse über dem Zwillingsbruder und wird
diesem beständig als Muster vorgehalten -- freilich ganz ohne Erfolg. Es
kommt mir so vor, als wäre er nicht ganz aufrichtig, und jedenfalls hat er keinen
Mut. Das habe ich bei mehreren Gelegenheiten deutlich bemerkt. Wenn ein
Hund in der Gasse bellt, durch welche er zur Schule geht, so nimmt er einen
Umweg. Beide Knaben besuchen übrigens die Realschule und sollen Kaufleute
werden, um gemeinschaftlich des Vaters Geschäft zu übernehmen.

Nummer sechs ist wieder ein Knabe. Der Junge gefällt mir von allen
am wenigsten. Er hat ein listiges Auge und ein verstecktes Wesen. Wenn etwas
Wahres an der Seelenwanderung ist, so muß in ihn die Seele eines Fuchses
oder eines Hamsters gefahren sein. Er hat ein merkwürdiges Talent, sich Schatze
zu sammeln. Wenn am Ersten des Monats das Taschengeld verteilt worden ist,
so kann man darauf rechnen, daß er am Zehnten des Monats schon mindestens
die Hälfte vou alledem besitzt, was den Geschwistern gehörte. Er hat Pistolen,
Spazierstöcke, Bälle und alle möglichen Dinge, welche er ans der Schule mit¬
gebracht hat, und seine Brüder erzählen mir, daß er sie den Mitschülern für
wenig Geld ablaufe oder gegen Butterbrot und Kuchen eintausche. Es ist noch
nicht entschieden, was er werden soll; der Vater denkt aber daran, einen
Architekten aus ihm zu machen.

Das siebente Kind ist ein Mädchen, welches sich in nichts besonders aus¬
zeichnet. Es ist ein Durchschuittskind, nicht gut und nichr schlecht in der Schule.
Nur in einer Richtung ist nur das Kind aufgefallen: nnter seinen Händen ge¬
deihen die Blumen, und für Blumen hat es eine große Vorliebe. Sein Eckchen
im Garten ist stets lieblich anzusehen, während die Beete der andern oft ganz
vernachlässigt sind. Und dann hat es ein Benehmen wie eine kleine Prinzessin.
Was es sagt, klingt immer verbindlich, und ihre Kleider und Schuhe halten
doppelt solange als die der Geschwister.

An achter Stelle folgt ein Knabe, der ein ausgesprochenes Talent für
Mechanik zu haben scheint. Schon vierjährig wußte er Häuser aus Papier zu


Herrn Meyers Kinder.

Melodie richtig heraus, das Klavier ist ihr Schrecken, obwohl sie seit zehn Jahren
darauf zu spielen unterrichtet wird. Dagegen weiß sie die Nibelungen, den Cid,
die Frithjofssage und manche andere Gedichte von Anfang bis zu Ende aus¬
wendig, und die Sprachen scheinen ihr nur so anzufliegen.

Das vierte und fünfte Kind sind Zwillingsknaben, und wenn man sich
wundern muß über die Verschiedenheit der gleich erzogenen Schwestern, so muß
man noch mehr erstaunen über die Verschiedenheit dieser nicht mir gleich er¬
zogenen, sondern auch zur selben Stunde geborenen Brüder, die einander äußerlich
gleiche» wie ein El dem andern. Der eine ist ein kleiner Roland. Er nimmt
es mit jedem Knaben auf, er ist der Schrecken seiner Klasse und seiner Lehrer.
Er hat so viel Narben an seinem jugendlichen Leibe wie der Balafre Ludwigs XI.,
und die Wissenschaften sind ihm ein Greuel. Sein Bruder aber haßt den Kampf
und liebt die Bücher. Er sitzt eine Klasse über dem Zwillingsbruder und wird
diesem beständig als Muster vorgehalten — freilich ganz ohne Erfolg. Es
kommt mir so vor, als wäre er nicht ganz aufrichtig, und jedenfalls hat er keinen
Mut. Das habe ich bei mehreren Gelegenheiten deutlich bemerkt. Wenn ein
Hund in der Gasse bellt, durch welche er zur Schule geht, so nimmt er einen
Umweg. Beide Knaben besuchen übrigens die Realschule und sollen Kaufleute
werden, um gemeinschaftlich des Vaters Geschäft zu übernehmen.

Nummer sechs ist wieder ein Knabe. Der Junge gefällt mir von allen
am wenigsten. Er hat ein listiges Auge und ein verstecktes Wesen. Wenn etwas
Wahres an der Seelenwanderung ist, so muß in ihn die Seele eines Fuchses
oder eines Hamsters gefahren sein. Er hat ein merkwürdiges Talent, sich Schatze
zu sammeln. Wenn am Ersten des Monats das Taschengeld verteilt worden ist,
so kann man darauf rechnen, daß er am Zehnten des Monats schon mindestens
die Hälfte vou alledem besitzt, was den Geschwistern gehörte. Er hat Pistolen,
Spazierstöcke, Bälle und alle möglichen Dinge, welche er ans der Schule mit¬
gebracht hat, und seine Brüder erzählen mir, daß er sie den Mitschülern für
wenig Geld ablaufe oder gegen Butterbrot und Kuchen eintausche. Es ist noch
nicht entschieden, was er werden soll; der Vater denkt aber daran, einen
Architekten aus ihm zu machen.

Das siebente Kind ist ein Mädchen, welches sich in nichts besonders aus¬
zeichnet. Es ist ein Durchschuittskind, nicht gut und nichr schlecht in der Schule.
Nur in einer Richtung ist nur das Kind aufgefallen: nnter seinen Händen ge¬
deihen die Blumen, und für Blumen hat es eine große Vorliebe. Sein Eckchen
im Garten ist stets lieblich anzusehen, während die Beete der andern oft ganz
vernachlässigt sind. Und dann hat es ein Benehmen wie eine kleine Prinzessin.
Was es sagt, klingt immer verbindlich, und ihre Kleider und Schuhe halten
doppelt solange als die der Geschwister.

An achter Stelle folgt ein Knabe, der ein ausgesprochenes Talent für
Mechanik zu haben scheint. Schon vierjährig wußte er Häuser aus Papier zu


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[0413] Herrn Meyers Kinder. Melodie richtig heraus, das Klavier ist ihr Schrecken, obwohl sie seit zehn Jahren darauf zu spielen unterrichtet wird. Dagegen weiß sie die Nibelungen, den Cid, die Frithjofssage und manche andere Gedichte von Anfang bis zu Ende aus¬ wendig, und die Sprachen scheinen ihr nur so anzufliegen. Das vierte und fünfte Kind sind Zwillingsknaben, und wenn man sich wundern muß über die Verschiedenheit der gleich erzogenen Schwestern, so muß man noch mehr erstaunen über die Verschiedenheit dieser nicht mir gleich er¬ zogenen, sondern auch zur selben Stunde geborenen Brüder, die einander äußerlich gleiche» wie ein El dem andern. Der eine ist ein kleiner Roland. Er nimmt es mit jedem Knaben auf, er ist der Schrecken seiner Klasse und seiner Lehrer. Er hat so viel Narben an seinem jugendlichen Leibe wie der Balafre Ludwigs XI., und die Wissenschaften sind ihm ein Greuel. Sein Bruder aber haßt den Kampf und liebt die Bücher. Er sitzt eine Klasse über dem Zwillingsbruder und wird diesem beständig als Muster vorgehalten — freilich ganz ohne Erfolg. Es kommt mir so vor, als wäre er nicht ganz aufrichtig, und jedenfalls hat er keinen Mut. Das habe ich bei mehreren Gelegenheiten deutlich bemerkt. Wenn ein Hund in der Gasse bellt, durch welche er zur Schule geht, so nimmt er einen Umweg. Beide Knaben besuchen übrigens die Realschule und sollen Kaufleute werden, um gemeinschaftlich des Vaters Geschäft zu übernehmen. Nummer sechs ist wieder ein Knabe. Der Junge gefällt mir von allen am wenigsten. Er hat ein listiges Auge und ein verstecktes Wesen. Wenn etwas Wahres an der Seelenwanderung ist, so muß in ihn die Seele eines Fuchses oder eines Hamsters gefahren sein. Er hat ein merkwürdiges Talent, sich Schatze zu sammeln. Wenn am Ersten des Monats das Taschengeld verteilt worden ist, so kann man darauf rechnen, daß er am Zehnten des Monats schon mindestens die Hälfte vou alledem besitzt, was den Geschwistern gehörte. Er hat Pistolen, Spazierstöcke, Bälle und alle möglichen Dinge, welche er ans der Schule mit¬ gebracht hat, und seine Brüder erzählen mir, daß er sie den Mitschülern für wenig Geld ablaufe oder gegen Butterbrot und Kuchen eintausche. Es ist noch nicht entschieden, was er werden soll; der Vater denkt aber daran, einen Architekten aus ihm zu machen. Das siebente Kind ist ein Mädchen, welches sich in nichts besonders aus¬ zeichnet. Es ist ein Durchschuittskind, nicht gut und nichr schlecht in der Schule. Nur in einer Richtung ist nur das Kind aufgefallen: nnter seinen Händen ge¬ deihen die Blumen, und für Blumen hat es eine große Vorliebe. Sein Eckchen im Garten ist stets lieblich anzusehen, während die Beete der andern oft ganz vernachlässigt sind. Und dann hat es ein Benehmen wie eine kleine Prinzessin. Was es sagt, klingt immer verbindlich, und ihre Kleider und Schuhe halten doppelt solange als die der Geschwister. An achter Stelle folgt ein Knabe, der ein ausgesprochenes Talent für Mechanik zu haben scheint. Schon vierjährig wußte er Häuser aus Papier zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/413>, abgerufen am 29.06.2024.