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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Zukunft des deutsche" Dreimus.

freilich besitzt Kenntnisse und geistige Schnellkraft genug, um sich in die Welt¬
anschauung vergangener Jahrhunderte mit frischer Empfindung hineinzuversetzen.
Die große Masse aber, welche neun Zehnteilc der Theatcrbevölkerung ausmacht
und an deren Beifall dem Dichter gelegen sei" muß, wenn er nicht die saftlvse
Isus dem schwellenden Lorbeer volkstümlichen Ruhmes vorzieht, die
große Masse will da gepackt sein, wo sie natürlich und ohne das künstliche
Flämmchen rcflcktirender Empfindung denkt und fühlt. Damit soll der modernen
Interesselosigkeit historischen Dichtungsstoffeu gegenüber und der modernen denk¬
faulen Blasirtheit kein Mnntelchen umgethan werden. Aber die Indolenz, mit
der unsre Zeitgenossen auch an bedeutenden dramatischen Dichtungen vorbeizu¬
gehen Pflegen, wenn diese nicht gewisse, durchaus beiläufige und nicht mit Not¬
wendigkeit aus dem Wesen der Dramatik hervorgehende Bedingungen erfüllen,
ist doch uicht ohne weiteres mit jener göttlichen Bedürfnislosigkeit in allem,
was Kunst heißt, zu indeutifiziren. Auch unter den Berufenen schenken nur
wenige Auserwählte den Erzeugnissen moderner Dramatik mehr als flüchtige
Aufmerksamkeit. Dramatiker von bedeutendem Talent leben gegenwärtig unter
uns: weshalb finden sie so selten diejenige Anerkennung, deren Mangel kein
Dichter auf die Dauer ohne Beeinträchtigung seines Schaffens, ohne Nachlaß
der geistigen Spannung, empfindet? Weshalb gelingt es ihnen so selten, uns
ans den starren Grenzen unsers kritischen Sebstbewnßtseins herauszureißen und
uns den einzelnen Fall, den sie schildern, als den Gang des Schicksals, der
Weltgercchtigkeit selbst, bewundern zu lassen? Können wir nicht mehr künst¬
lerisch empfinden, oder gebricht eS jenen Werken trotz aller Vortrefflichkeit
doch an dem letzten, geheimnisvollen und unwiderstehlichen Reiz einer großen
Dichtung?

Ich meine, es ist beides der Fall, und es ist eins vom rudern abhängig.
Soviel Ehrfurcht, wie wir deu Tragödie" Shakespeares und Schillers entgegen¬
bringen, würden wir doch auch jene" weihe", wenn es ihnen gelänge, den indi¬
viduellen Verlauf ihrer Handlung zu einem erschütternden und erhebenden Bilde
der Welt zu erweitern. Daß sie das nicht vermochten, scheint mir weniger an
einem Mangel dramatischen Talents als an einer für den gebildeten Meiischc"
ganz richtigen, für deu Dramatiker aber (der Gegensatz soll nicht kontradik-
tvrisch sein) falschen Auffassung der Geschichte zu liegen. Wir alle sehen heut¬
zutage die Weltbegebenheiten anders an als unsre Urgroßväter; auch unsre
Dichter können sich einer kritisch-nüchternen, viele Illusionen zerstörenden Be¬
urteilung derselben uicht entziehe,,. Der allgemeine Zeitgeist -- diesmal ein
zwar verstandesscharfcr, aber sehr pietätloser Geist -- erschwert uns Hervor-
bringung und Genuß historischer Tragödien. Die Seele des Dramas ist die
Persönlichkeit, die Seele des historischen Dramas ist der geschichtliche Held. Noch
aber liegt die Zeit nicht weit hinter uns, da man unter Geschichte ganz vor¬
zugsweise die Kriege und die Regierungsakte der Fürsten verstand. Das Werden


Die Zukunft des deutsche» Dreimus.

freilich besitzt Kenntnisse und geistige Schnellkraft genug, um sich in die Welt¬
anschauung vergangener Jahrhunderte mit frischer Empfindung hineinzuversetzen.
Die große Masse aber, welche neun Zehnteilc der Theatcrbevölkerung ausmacht
und an deren Beifall dem Dichter gelegen sei» muß, wenn er nicht die saftlvse
Isus dem schwellenden Lorbeer volkstümlichen Ruhmes vorzieht, die
große Masse will da gepackt sein, wo sie natürlich und ohne das künstliche
Flämmchen rcflcktirender Empfindung denkt und fühlt. Damit soll der modernen
Interesselosigkeit historischen Dichtungsstoffeu gegenüber und der modernen denk¬
faulen Blasirtheit kein Mnntelchen umgethan werden. Aber die Indolenz, mit
der unsre Zeitgenossen auch an bedeutenden dramatischen Dichtungen vorbeizu¬
gehen Pflegen, wenn diese nicht gewisse, durchaus beiläufige und nicht mit Not¬
wendigkeit aus dem Wesen der Dramatik hervorgehende Bedingungen erfüllen,
ist doch uicht ohne weiteres mit jener göttlichen Bedürfnislosigkeit in allem,
was Kunst heißt, zu indeutifiziren. Auch unter den Berufenen schenken nur
wenige Auserwählte den Erzeugnissen moderner Dramatik mehr als flüchtige
Aufmerksamkeit. Dramatiker von bedeutendem Talent leben gegenwärtig unter
uns: weshalb finden sie so selten diejenige Anerkennung, deren Mangel kein
Dichter auf die Dauer ohne Beeinträchtigung seines Schaffens, ohne Nachlaß
der geistigen Spannung, empfindet? Weshalb gelingt es ihnen so selten, uns
ans den starren Grenzen unsers kritischen Sebstbewnßtseins herauszureißen und
uns den einzelnen Fall, den sie schildern, als den Gang des Schicksals, der
Weltgercchtigkeit selbst, bewundern zu lassen? Können wir nicht mehr künst¬
lerisch empfinden, oder gebricht eS jenen Werken trotz aller Vortrefflichkeit
doch an dem letzten, geheimnisvollen und unwiderstehlichen Reiz einer großen
Dichtung?

Ich meine, es ist beides der Fall, und es ist eins vom rudern abhängig.
Soviel Ehrfurcht, wie wir deu Tragödie» Shakespeares und Schillers entgegen¬
bringen, würden wir doch auch jene» weihe», wenn es ihnen gelänge, den indi¬
viduellen Verlauf ihrer Handlung zu einem erschütternden und erhebenden Bilde
der Welt zu erweitern. Daß sie das nicht vermochten, scheint mir weniger an
einem Mangel dramatischen Talents als an einer für den gebildeten Meiischc»
ganz richtigen, für deu Dramatiker aber (der Gegensatz soll nicht kontradik-
tvrisch sein) falschen Auffassung der Geschichte zu liegen. Wir alle sehen heut¬
zutage die Weltbegebenheiten anders an als unsre Urgroßväter; auch unsre
Dichter können sich einer kritisch-nüchternen, viele Illusionen zerstörenden Be¬
urteilung derselben uicht entziehe,,. Der allgemeine Zeitgeist — diesmal ein
zwar verstandesscharfcr, aber sehr pietätloser Geist — erschwert uns Hervor-
bringung und Genuß historischer Tragödien. Die Seele des Dramas ist die
Persönlichkeit, die Seele des historischen Dramas ist der geschichtliche Held. Noch
aber liegt die Zeit nicht weit hinter uns, da man unter Geschichte ganz vor¬
zugsweise die Kriege und die Regierungsakte der Fürsten verstand. Das Werden


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[0387] Die Zukunft des deutsche» Dreimus. freilich besitzt Kenntnisse und geistige Schnellkraft genug, um sich in die Welt¬ anschauung vergangener Jahrhunderte mit frischer Empfindung hineinzuversetzen. Die große Masse aber, welche neun Zehnteilc der Theatcrbevölkerung ausmacht und an deren Beifall dem Dichter gelegen sei» muß, wenn er nicht die saftlvse Isus dem schwellenden Lorbeer volkstümlichen Ruhmes vorzieht, die große Masse will da gepackt sein, wo sie natürlich und ohne das künstliche Flämmchen rcflcktirender Empfindung denkt und fühlt. Damit soll der modernen Interesselosigkeit historischen Dichtungsstoffeu gegenüber und der modernen denk¬ faulen Blasirtheit kein Mnntelchen umgethan werden. Aber die Indolenz, mit der unsre Zeitgenossen auch an bedeutenden dramatischen Dichtungen vorbeizu¬ gehen Pflegen, wenn diese nicht gewisse, durchaus beiläufige und nicht mit Not¬ wendigkeit aus dem Wesen der Dramatik hervorgehende Bedingungen erfüllen, ist doch uicht ohne weiteres mit jener göttlichen Bedürfnislosigkeit in allem, was Kunst heißt, zu indeutifiziren. Auch unter den Berufenen schenken nur wenige Auserwählte den Erzeugnissen moderner Dramatik mehr als flüchtige Aufmerksamkeit. Dramatiker von bedeutendem Talent leben gegenwärtig unter uns: weshalb finden sie so selten diejenige Anerkennung, deren Mangel kein Dichter auf die Dauer ohne Beeinträchtigung seines Schaffens, ohne Nachlaß der geistigen Spannung, empfindet? Weshalb gelingt es ihnen so selten, uns ans den starren Grenzen unsers kritischen Sebstbewnßtseins herauszureißen und uns den einzelnen Fall, den sie schildern, als den Gang des Schicksals, der Weltgercchtigkeit selbst, bewundern zu lassen? Können wir nicht mehr künst¬ lerisch empfinden, oder gebricht eS jenen Werken trotz aller Vortrefflichkeit doch an dem letzten, geheimnisvollen und unwiderstehlichen Reiz einer großen Dichtung? Ich meine, es ist beides der Fall, und es ist eins vom rudern abhängig. Soviel Ehrfurcht, wie wir deu Tragödie» Shakespeares und Schillers entgegen¬ bringen, würden wir doch auch jene» weihe», wenn es ihnen gelänge, den indi¬ viduellen Verlauf ihrer Handlung zu einem erschütternden und erhebenden Bilde der Welt zu erweitern. Daß sie das nicht vermochten, scheint mir weniger an einem Mangel dramatischen Talents als an einer für den gebildeten Meiischc» ganz richtigen, für deu Dramatiker aber (der Gegensatz soll nicht kontradik- tvrisch sein) falschen Auffassung der Geschichte zu liegen. Wir alle sehen heut¬ zutage die Weltbegebenheiten anders an als unsre Urgroßväter; auch unsre Dichter können sich einer kritisch-nüchternen, viele Illusionen zerstörenden Be¬ urteilung derselben uicht entziehe,,. Der allgemeine Zeitgeist — diesmal ein zwar verstandesscharfcr, aber sehr pietätloser Geist — erschwert uns Hervor- bringung und Genuß historischer Tragödien. Die Seele des Dramas ist die Persönlichkeit, die Seele des historischen Dramas ist der geschichtliche Held. Noch aber liegt die Zeit nicht weit hinter uns, da man unter Geschichte ganz vor¬ zugsweise die Kriege und die Regierungsakte der Fürsten verstand. Das Werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/387>, abgerufen am 29.06.2024.