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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Fortschritte in der antiken Kunstgeschichte während des letzten Jahrzehnts.

Wenn demnach die Archäologie in der traurigen Lage ist, absolut kein
brauchbares Handbuch zu besitzen, ein Fall, der wohl nur bei außerordentlich
wenigen Wissenschaften in unsrer schreiblustigen Zeit vorkommen dürfte, und wenn
daher für jeden neuen Jünger dieser Wissenschaft die Orientirung in dem mit
jedem Jahre gewaltiger anschwellenden Strome von Denkmälern und Schriften
immer schwerer und mühseliger wird, so darf man doch auch andrerseits nicht
verkennen, daß gerade der gegenwärtige Zeitpunkt zur Schaffung eines solchen
Werkes, trotz des dringenden Bedürfnisses desselben, so ungeeignet wie nur
möglich ist. Es ist nämlich der Archäologie in den letzten Jahren ähnlich er¬
gangen wie der vergleichenden Sprachwissenschaft. Lange geglaubte Sätze, welche
man als selbstbcgründete Thatsachen betrachtete, sind erschüttert oder gar umge¬
stürzt worden; Quellen, aus denen man früher nur die lauterste Wahrheit zu
schöpfen vermeinte, haben sich als trübe und trügerisch erwiesen; Gebiete, welche
bisher fast in unergründlichen Dunkel lagen, sind mit einemmale vor unsern
verwunderten Blicken erhellt worden; reiche Adern des edelsten Metalles haben
sich nufgethan und versprechen dem weiter schürfenden lohnenden Ertrag. Aber
alles das ist im Fluß, ist erst im Werden, und es wird langer Zeit bedürfen,
bis all das neue, das in so reicher Fülle in den letzten Decennien ans uns
eingedrungen ist, richtig gewürdigt worden ist und wohlgesichtet mit Ruhe ver¬
arbeitet werden kaun. Ein solcher Zeitpunkt ist gewiß nicht dazu geeignet, die
Summe unsres Wissens zu ziehen, und so wollen wird denn getrost die Zeit
abwarten, da uns ein kundiger Meister das rechte wohnliche Dach für unsre
Wissenschaft bereiten wird, bei dem wir nicht mehr, wie jetzt, noch alle Augen¬
blicke genötigt sein werden, hier einen Seitenflügel einzureißen, dort einen kleinen
Anbau zu machen, oder gar die schon schadhaft gewordenen Fundamente aus¬
zubessern.

Einstweilen aber gilt es, das Baumaterial herbeizuschaffen, es kunstgemäß
herzurichten, einem jeden Stück seinen richtigen Platz anzuweisen, hier und da
wohl auch einen oder den andern Teil des umfangreichen Baues im Grundriß
zu entwerfen. Und in dieser vorbereitenden Thätigkeit herrscht denn in der That
ein so reges Leben, daß es sast schwer ist, all die einzelnen Arbeiten im Auge
zu behalten oder bei jeder einzelnen ihren Anteil am großen Ganzen richtig zu
würdigen. Indessen wenn man auch hier und da durch scheinbar fernabliegende
oder gar einander widerstreitende Bestrebungen verwirrt zu werden droht,
schließlich bricht sich doch immer wieder die Erkenntnis Bahn, daß "alles sich
zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt," und wenn es auch nicht
überall gerade "goldne Eimer" sind, welche die Arbeiter sich reichen, so wollen
wir uns doch dieses frischen Lebens freuen, und dabei nicht zum wenigste" anch
der Thatsache, daß bei demselben nicht nur die deutsche Forschung wie früher
einen der ersten Plätze -- vielleicht können wir sogar ohne Überhebung sagen:
den ersten Platz -- behauptet, sondern daß nun auch das neue Deutsche Reich


Die Fortschritte in der antiken Kunstgeschichte während des letzten Jahrzehnts.

Wenn demnach die Archäologie in der traurigen Lage ist, absolut kein
brauchbares Handbuch zu besitzen, ein Fall, der wohl nur bei außerordentlich
wenigen Wissenschaften in unsrer schreiblustigen Zeit vorkommen dürfte, und wenn
daher für jeden neuen Jünger dieser Wissenschaft die Orientirung in dem mit
jedem Jahre gewaltiger anschwellenden Strome von Denkmälern und Schriften
immer schwerer und mühseliger wird, so darf man doch auch andrerseits nicht
verkennen, daß gerade der gegenwärtige Zeitpunkt zur Schaffung eines solchen
Werkes, trotz des dringenden Bedürfnisses desselben, so ungeeignet wie nur
möglich ist. Es ist nämlich der Archäologie in den letzten Jahren ähnlich er¬
gangen wie der vergleichenden Sprachwissenschaft. Lange geglaubte Sätze, welche
man als selbstbcgründete Thatsachen betrachtete, sind erschüttert oder gar umge¬
stürzt worden; Quellen, aus denen man früher nur die lauterste Wahrheit zu
schöpfen vermeinte, haben sich als trübe und trügerisch erwiesen; Gebiete, welche
bisher fast in unergründlichen Dunkel lagen, sind mit einemmale vor unsern
verwunderten Blicken erhellt worden; reiche Adern des edelsten Metalles haben
sich nufgethan und versprechen dem weiter schürfenden lohnenden Ertrag. Aber
alles das ist im Fluß, ist erst im Werden, und es wird langer Zeit bedürfen,
bis all das neue, das in so reicher Fülle in den letzten Decennien ans uns
eingedrungen ist, richtig gewürdigt worden ist und wohlgesichtet mit Ruhe ver¬
arbeitet werden kaun. Ein solcher Zeitpunkt ist gewiß nicht dazu geeignet, die
Summe unsres Wissens zu ziehen, und so wollen wird denn getrost die Zeit
abwarten, da uns ein kundiger Meister das rechte wohnliche Dach für unsre
Wissenschaft bereiten wird, bei dem wir nicht mehr, wie jetzt, noch alle Augen¬
blicke genötigt sein werden, hier einen Seitenflügel einzureißen, dort einen kleinen
Anbau zu machen, oder gar die schon schadhaft gewordenen Fundamente aus¬
zubessern.

Einstweilen aber gilt es, das Baumaterial herbeizuschaffen, es kunstgemäß
herzurichten, einem jeden Stück seinen richtigen Platz anzuweisen, hier und da
wohl auch einen oder den andern Teil des umfangreichen Baues im Grundriß
zu entwerfen. Und in dieser vorbereitenden Thätigkeit herrscht denn in der That
ein so reges Leben, daß es sast schwer ist, all die einzelnen Arbeiten im Auge
zu behalten oder bei jeder einzelnen ihren Anteil am großen Ganzen richtig zu
würdigen. Indessen wenn man auch hier und da durch scheinbar fernabliegende
oder gar einander widerstreitende Bestrebungen verwirrt zu werden droht,
schließlich bricht sich doch immer wieder die Erkenntnis Bahn, daß „alles sich
zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt," und wenn es auch nicht
überall gerade „goldne Eimer" sind, welche die Arbeiter sich reichen, so wollen
wir uns doch dieses frischen Lebens freuen, und dabei nicht zum wenigste» anch
der Thatsache, daß bei demselben nicht nur die deutsche Forschung wie früher
einen der ersten Plätze — vielleicht können wir sogar ohne Überhebung sagen:
den ersten Platz — behauptet, sondern daß nun auch das neue Deutsche Reich


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[0339] Die Fortschritte in der antiken Kunstgeschichte während des letzten Jahrzehnts. Wenn demnach die Archäologie in der traurigen Lage ist, absolut kein brauchbares Handbuch zu besitzen, ein Fall, der wohl nur bei außerordentlich wenigen Wissenschaften in unsrer schreiblustigen Zeit vorkommen dürfte, und wenn daher für jeden neuen Jünger dieser Wissenschaft die Orientirung in dem mit jedem Jahre gewaltiger anschwellenden Strome von Denkmälern und Schriften immer schwerer und mühseliger wird, so darf man doch auch andrerseits nicht verkennen, daß gerade der gegenwärtige Zeitpunkt zur Schaffung eines solchen Werkes, trotz des dringenden Bedürfnisses desselben, so ungeeignet wie nur möglich ist. Es ist nämlich der Archäologie in den letzten Jahren ähnlich er¬ gangen wie der vergleichenden Sprachwissenschaft. Lange geglaubte Sätze, welche man als selbstbcgründete Thatsachen betrachtete, sind erschüttert oder gar umge¬ stürzt worden; Quellen, aus denen man früher nur die lauterste Wahrheit zu schöpfen vermeinte, haben sich als trübe und trügerisch erwiesen; Gebiete, welche bisher fast in unergründlichen Dunkel lagen, sind mit einemmale vor unsern verwunderten Blicken erhellt worden; reiche Adern des edelsten Metalles haben sich nufgethan und versprechen dem weiter schürfenden lohnenden Ertrag. Aber alles das ist im Fluß, ist erst im Werden, und es wird langer Zeit bedürfen, bis all das neue, das in so reicher Fülle in den letzten Decennien ans uns eingedrungen ist, richtig gewürdigt worden ist und wohlgesichtet mit Ruhe ver¬ arbeitet werden kaun. Ein solcher Zeitpunkt ist gewiß nicht dazu geeignet, die Summe unsres Wissens zu ziehen, und so wollen wird denn getrost die Zeit abwarten, da uns ein kundiger Meister das rechte wohnliche Dach für unsre Wissenschaft bereiten wird, bei dem wir nicht mehr, wie jetzt, noch alle Augen¬ blicke genötigt sein werden, hier einen Seitenflügel einzureißen, dort einen kleinen Anbau zu machen, oder gar die schon schadhaft gewordenen Fundamente aus¬ zubessern. Einstweilen aber gilt es, das Baumaterial herbeizuschaffen, es kunstgemäß herzurichten, einem jeden Stück seinen richtigen Platz anzuweisen, hier und da wohl auch einen oder den andern Teil des umfangreichen Baues im Grundriß zu entwerfen. Und in dieser vorbereitenden Thätigkeit herrscht denn in der That ein so reges Leben, daß es sast schwer ist, all die einzelnen Arbeiten im Auge zu behalten oder bei jeder einzelnen ihren Anteil am großen Ganzen richtig zu würdigen. Indessen wenn man auch hier und da durch scheinbar fernabliegende oder gar einander widerstreitende Bestrebungen verwirrt zu werden droht, schließlich bricht sich doch immer wieder die Erkenntnis Bahn, daß „alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt," und wenn es auch nicht überall gerade „goldne Eimer" sind, welche die Arbeiter sich reichen, so wollen wir uns doch dieses frischen Lebens freuen, und dabei nicht zum wenigste» anch der Thatsache, daß bei demselben nicht nur die deutsche Forschung wie früher einen der ersten Plätze — vielleicht können wir sogar ohne Überhebung sagen: den ersten Platz — behauptet, sondern daß nun auch das neue Deutsche Reich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/339>, abgerufen am 29.06.2024.