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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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ordneten, welche Verlust ihrer Mandate fürchteten, und erfüllte auch viele andre
mit schweren Bedenken.

Die feindliche Demonstrativ" vom 20. Januar war keineswegs ohne Vor¬
zeichen gewesen. Als der Reformvorschlag mit dem neuen Wahlverfahren zuerst
an die Deputirtenkammer gelangt, war er mit eisigem Schweigen empfangen
worden, und das darauffolgende eifrige Treiben in den Bureaus, wo die lau¬
testen Gegner des Listenskrutiniums die meisten Stimmen auf sich vereinigten,
mußte gleichermaßen zu denken geben. Es lag auf der Hand: Gelang es der
Beredsamkeit des Premiers nicht, eine Menge von sehr entschiedenen Widersachern
seines Projekts zu andrer Meinung zu bekehren, so mußte er in dem Streite,
den er selbst hervorgerufen hatte, unterliegen. Nur ein Ausweg, so schien es,
war ihm offen: er hätte, um seine Position zu halten und seine in verschiedne
Farben gekleideten Gegner zu entwaffnen, sich entschließen können, einzugestehen,
daß er sich in seiner Abschätzung der Stimmung in der Kammer geirrt. Dann
wäre er in der Lage gewesen, den Nutrag auf Streichung des Paragraphen
seiner Vorschläge zu stellen, welcher seine bisherigen Anhänger am meisten schied.
Eine gewisse Hartnäckigkeit des Charakters und die Furcht vor dem in Frank¬
reich üblichen Urteil über Minister, welche zurückweichen oder Kompromisse
schließen, mögen ihn davon zurückgehalten haben. Er hatte ferner bisher viel
erreicht, und Selbstvertrauen wird ihm Hoffnung gemacht haben, er werde auch
dieses Hindernis mit seinen Gaben überwinden. Endlich wird er das Listcn-
strutinium deswegen so beharrlich erstrebt haben, weil er überzeugt war, es
werde Dauer der gegenwärtige" Majorität zur Folge haben. Das kann richtig
sein, aber immerhin war es Maugel an kluger Voraussicht, von einer nenge-
wnhlten Volksvertretung zu verlangen, daß sie ihre Wählerschaften und deren
Mandatare, also sich selbst, verurteile.

Für uns Deutsche ist der Fall GambettaS nicht von großer Bedeutung.
Wir hatten ihn für die nächste Zeit nicht zu fürchten, und wir hätte" ihn auch
später nicht sehr gefürchtet. Indeß trägt sein Rücktritt immerhin dazu bei,
die Hoffnung, daß dieses und wohl "och manches Jahr der Friede ungestört
bleiben werde, einigermaßen zu verstärken. Daß Gambetta mit seinem Rücktritte
der Macht, die er erstrebt nud zuletzt besessen, für immer Lebewohl gesagt habe, ist
dabei nicht vorausgesetzt. Im Gegenteil, wir erwarten ihn zunächst an der
Spitze einer starken Opposition das alte Spiel gegenüber dem Präsideilte" und
seinen Ministern wiederholen zu sehen, und wir halten ein zweites Ministerium
Gambetta nicht blos für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich.




ordneten, welche Verlust ihrer Mandate fürchteten, und erfüllte auch viele andre
mit schweren Bedenken.

Die feindliche Demonstrativ» vom 20. Januar war keineswegs ohne Vor¬
zeichen gewesen. Als der Reformvorschlag mit dem neuen Wahlverfahren zuerst
an die Deputirtenkammer gelangt, war er mit eisigem Schweigen empfangen
worden, und das darauffolgende eifrige Treiben in den Bureaus, wo die lau¬
testen Gegner des Listenskrutiniums die meisten Stimmen auf sich vereinigten,
mußte gleichermaßen zu denken geben. Es lag auf der Hand: Gelang es der
Beredsamkeit des Premiers nicht, eine Menge von sehr entschiedenen Widersachern
seines Projekts zu andrer Meinung zu bekehren, so mußte er in dem Streite,
den er selbst hervorgerufen hatte, unterliegen. Nur ein Ausweg, so schien es,
war ihm offen: er hätte, um seine Position zu halten und seine in verschiedne
Farben gekleideten Gegner zu entwaffnen, sich entschließen können, einzugestehen,
daß er sich in seiner Abschätzung der Stimmung in der Kammer geirrt. Dann
wäre er in der Lage gewesen, den Nutrag auf Streichung des Paragraphen
seiner Vorschläge zu stellen, welcher seine bisherigen Anhänger am meisten schied.
Eine gewisse Hartnäckigkeit des Charakters und die Furcht vor dem in Frank¬
reich üblichen Urteil über Minister, welche zurückweichen oder Kompromisse
schließen, mögen ihn davon zurückgehalten haben. Er hatte ferner bisher viel
erreicht, und Selbstvertrauen wird ihm Hoffnung gemacht haben, er werde auch
dieses Hindernis mit seinen Gaben überwinden. Endlich wird er das Listcn-
strutinium deswegen so beharrlich erstrebt haben, weil er überzeugt war, es
werde Dauer der gegenwärtige» Majorität zur Folge haben. Das kann richtig
sein, aber immerhin war es Maugel an kluger Voraussicht, von einer nenge-
wnhlten Volksvertretung zu verlangen, daß sie ihre Wählerschaften und deren
Mandatare, also sich selbst, verurteile.

Für uns Deutsche ist der Fall GambettaS nicht von großer Bedeutung.
Wir hatten ihn für die nächste Zeit nicht zu fürchten, und wir hätte» ihn auch
später nicht sehr gefürchtet. Indeß trägt sein Rücktritt immerhin dazu bei,
die Hoffnung, daß dieses und wohl »och manches Jahr der Friede ungestört
bleiben werde, einigermaßen zu verstärken. Daß Gambetta mit seinem Rücktritte
der Macht, die er erstrebt nud zuletzt besessen, für immer Lebewohl gesagt habe, ist
dabei nicht vorausgesetzt. Im Gegenteil, wir erwarten ihn zunächst an der
Spitze einer starken Opposition das alte Spiel gegenüber dem Präsideilte» und
seinen Ministern wiederholen zu sehen, und wir halten ein zweites Ministerium
Gambetta nicht blos für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich.




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[0309] ordneten, welche Verlust ihrer Mandate fürchteten, und erfüllte auch viele andre mit schweren Bedenken. Die feindliche Demonstrativ» vom 20. Januar war keineswegs ohne Vor¬ zeichen gewesen. Als der Reformvorschlag mit dem neuen Wahlverfahren zuerst an die Deputirtenkammer gelangt, war er mit eisigem Schweigen empfangen worden, und das darauffolgende eifrige Treiben in den Bureaus, wo die lau¬ testen Gegner des Listenskrutiniums die meisten Stimmen auf sich vereinigten, mußte gleichermaßen zu denken geben. Es lag auf der Hand: Gelang es der Beredsamkeit des Premiers nicht, eine Menge von sehr entschiedenen Widersachern seines Projekts zu andrer Meinung zu bekehren, so mußte er in dem Streite, den er selbst hervorgerufen hatte, unterliegen. Nur ein Ausweg, so schien es, war ihm offen: er hätte, um seine Position zu halten und seine in verschiedne Farben gekleideten Gegner zu entwaffnen, sich entschließen können, einzugestehen, daß er sich in seiner Abschätzung der Stimmung in der Kammer geirrt. Dann wäre er in der Lage gewesen, den Nutrag auf Streichung des Paragraphen seiner Vorschläge zu stellen, welcher seine bisherigen Anhänger am meisten schied. Eine gewisse Hartnäckigkeit des Charakters und die Furcht vor dem in Frank¬ reich üblichen Urteil über Minister, welche zurückweichen oder Kompromisse schließen, mögen ihn davon zurückgehalten haben. Er hatte ferner bisher viel erreicht, und Selbstvertrauen wird ihm Hoffnung gemacht haben, er werde auch dieses Hindernis mit seinen Gaben überwinden. Endlich wird er das Listcn- strutinium deswegen so beharrlich erstrebt haben, weil er überzeugt war, es werde Dauer der gegenwärtige» Majorität zur Folge haben. Das kann richtig sein, aber immerhin war es Maugel an kluger Voraussicht, von einer nenge- wnhlten Volksvertretung zu verlangen, daß sie ihre Wählerschaften und deren Mandatare, also sich selbst, verurteile. Für uns Deutsche ist der Fall GambettaS nicht von großer Bedeutung. Wir hatten ihn für die nächste Zeit nicht zu fürchten, und wir hätte» ihn auch später nicht sehr gefürchtet. Indeß trägt sein Rücktritt immerhin dazu bei, die Hoffnung, daß dieses und wohl »och manches Jahr der Friede ungestört bleiben werde, einigermaßen zu verstärken. Daß Gambetta mit seinem Rücktritte der Macht, die er erstrebt nud zuletzt besessen, für immer Lebewohl gesagt habe, ist dabei nicht vorausgesetzt. Im Gegenteil, wir erwarten ihn zunächst an der Spitze einer starken Opposition das alte Spiel gegenüber dem Präsideilte» und seinen Ministern wiederholen zu sehen, und wir halten ein zweites Ministerium Gambetta nicht blos für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/309>, abgerufen am 28.09.2024.