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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform des englischen Parlaments.

lischen Gesellschaft. Eine Zeitung fragte sich vor einigen Wochen, warm" die
"ehrenwertesten" Abgeordneten sich nicht scheuten, in Volksversammlungen dema¬
gogische Künste der niedersten Art zu gebrauchen, deren sie sich zweifellos im
Unterhaus? schämen würden. Das Blatt gelangte zu folgender Antwort. Es
faßte Wahlkreis und Abgeordneten als eine Persönlichkeit auf. Der Abgeordnete
stellt den Verstand vor, der Wahlreis das Gefühlsvermögen und die Physische
Kraft. Wenn nun die Köpfe im Parlament einander nicht überzeugen können,
so reist der eine oder der andere Kopf in seinen Wahlkreis und regt die Ge¬
fühlsseite und das Triebleben a" und auf. Gelingt ihm dies in kräftiger Weise,
so geraten die andern Köpfe im Parlamente in Furcht und lassen sich nun leicht
überzeugen. Ein derartiger Prozeß ist die Bethätigung der Volkssouveränetät.
David Syene, der vor kurzer Zeit ein Buch über die Schwächen des Parla¬
mentarismus drücke" ließ, verlangt, daß die Abgeordneten aus der usurpirter
Stellung unabhängiger Gesetzgeber in diejenige verantwortlicher Vertreter zurück¬
treten sollen. Die radikale 'Wsstininswr Rvvisv billigt diesen Vorschlag aus
dem Grunde nicht, weil das Parlamentsmitglied viel klüger als sein Wahlkreis
sei. Sie glaubt folglich an eine Parlamentssouveräuetät. In der That ist die
Sache so, daß in England eine Parlamentsmajoritätssonvcränetät herrscht. Sie
ist in der Hand einiger hundert reicher Männer, welche mit Geld und guten
Worten am energischsten zur Gefühlsseite der Wahlkreispersönlichkeiten sprechen.
Die Millionen Wähler schieben und werden geschoben.

Eine Frage möchten wir zum Schlüsse noch erheben. Wie ist es möglich,
daß die Zahl der Radikalen so beträchlich sein kann, wenn man die kostspieligen
Wahlen in Betracht zieht? Es ist schade, daß niemals ein Romanschriftsteller
oder ein Dramatiker mit einer Beobachtungsgabe wie Balzac sie besaß, die ver¬
schiedenen Typen des Radikalismus gezeichnet hat, daß die Aufgabe, welche sich
Turgenicff in "Neuland" stellte, nicht in größerem Maßstabe gelöst worden ist.
Er würde die furchtbarsten Kontraste, das hellste Licht und deu düstersten
Schatten in einem Gemälde zu vereinigen haben: den Schwung, das Feuer der
Jugend und die Ernüchterung, die Kälte des Alters, ein volles, ideales Gemüt
und grimmige Verbissenheit und tiefste Verbitterung, reinste Menschenliebe und
giftigen Haß lind Neid, höchste Intelligenz und geistige Beschränkung, eine
Schwelgerei in abstrakten Prinzipien und genaueste Bekanntschaft mit der wirk¬
lichen Welt, feinste, ästhetische Bildung neben einem Gefallen an einer öden
Einfachheit und Gleichheit. Eine einzige Gestalt würde nur ausnahmsweise auf
seinem Gemäldefi guriren: der reiche, alte Herr. Mit Recht machte Schmoller
in seiner Schrift: "Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirt¬
schaft" darauf aufmerksam, daß die gewaltigen, reformirenden Geister an den
beiden Enden der sozialen Leiter stehen.

Man sollte erwarten, daß in einer Darstellung der Ncformprvjekte auch
der Ausdehnung des Stimmrechts ans die Frauen und der Umbildung oder Ab-


Die Reform des englischen Parlaments.

lischen Gesellschaft. Eine Zeitung fragte sich vor einigen Wochen, warm» die
„ehrenwertesten" Abgeordneten sich nicht scheuten, in Volksversammlungen dema¬
gogische Künste der niedersten Art zu gebrauchen, deren sie sich zweifellos im
Unterhaus? schämen würden. Das Blatt gelangte zu folgender Antwort. Es
faßte Wahlkreis und Abgeordneten als eine Persönlichkeit auf. Der Abgeordnete
stellt den Verstand vor, der Wahlreis das Gefühlsvermögen und die Physische
Kraft. Wenn nun die Köpfe im Parlament einander nicht überzeugen können,
so reist der eine oder der andere Kopf in seinen Wahlkreis und regt die Ge¬
fühlsseite und das Triebleben a» und auf. Gelingt ihm dies in kräftiger Weise,
so geraten die andern Köpfe im Parlamente in Furcht und lassen sich nun leicht
überzeugen. Ein derartiger Prozeß ist die Bethätigung der Volkssouveränetät.
David Syene, der vor kurzer Zeit ein Buch über die Schwächen des Parla¬
mentarismus drücke» ließ, verlangt, daß die Abgeordneten aus der usurpirter
Stellung unabhängiger Gesetzgeber in diejenige verantwortlicher Vertreter zurück¬
treten sollen. Die radikale 'Wsstininswr Rvvisv billigt diesen Vorschlag aus
dem Grunde nicht, weil das Parlamentsmitglied viel klüger als sein Wahlkreis
sei. Sie glaubt folglich an eine Parlamentssouveräuetät. In der That ist die
Sache so, daß in England eine Parlamentsmajoritätssonvcränetät herrscht. Sie
ist in der Hand einiger hundert reicher Männer, welche mit Geld und guten
Worten am energischsten zur Gefühlsseite der Wahlkreispersönlichkeiten sprechen.
Die Millionen Wähler schieben und werden geschoben.

Eine Frage möchten wir zum Schlüsse noch erheben. Wie ist es möglich,
daß die Zahl der Radikalen so beträchlich sein kann, wenn man die kostspieligen
Wahlen in Betracht zieht? Es ist schade, daß niemals ein Romanschriftsteller
oder ein Dramatiker mit einer Beobachtungsgabe wie Balzac sie besaß, die ver¬
schiedenen Typen des Radikalismus gezeichnet hat, daß die Aufgabe, welche sich
Turgenicff in „Neuland" stellte, nicht in größerem Maßstabe gelöst worden ist.
Er würde die furchtbarsten Kontraste, das hellste Licht und deu düstersten
Schatten in einem Gemälde zu vereinigen haben: den Schwung, das Feuer der
Jugend und die Ernüchterung, die Kälte des Alters, ein volles, ideales Gemüt
und grimmige Verbissenheit und tiefste Verbitterung, reinste Menschenliebe und
giftigen Haß lind Neid, höchste Intelligenz und geistige Beschränkung, eine
Schwelgerei in abstrakten Prinzipien und genaueste Bekanntschaft mit der wirk¬
lichen Welt, feinste, ästhetische Bildung neben einem Gefallen an einer öden
Einfachheit und Gleichheit. Eine einzige Gestalt würde nur ausnahmsweise auf
seinem Gemäldefi guriren: der reiche, alte Herr. Mit Recht machte Schmoller
in seiner Schrift: „Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirt¬
schaft" darauf aufmerksam, daß die gewaltigen, reformirenden Geister an den
beiden Enden der sozialen Leiter stehen.

Man sollte erwarten, daß in einer Darstellung der Ncformprvjekte auch
der Ausdehnung des Stimmrechts ans die Frauen und der Umbildung oder Ab-


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[0226] Die Reform des englischen Parlaments. lischen Gesellschaft. Eine Zeitung fragte sich vor einigen Wochen, warm» die „ehrenwertesten" Abgeordneten sich nicht scheuten, in Volksversammlungen dema¬ gogische Künste der niedersten Art zu gebrauchen, deren sie sich zweifellos im Unterhaus? schämen würden. Das Blatt gelangte zu folgender Antwort. Es faßte Wahlkreis und Abgeordneten als eine Persönlichkeit auf. Der Abgeordnete stellt den Verstand vor, der Wahlreis das Gefühlsvermögen und die Physische Kraft. Wenn nun die Köpfe im Parlament einander nicht überzeugen können, so reist der eine oder der andere Kopf in seinen Wahlkreis und regt die Ge¬ fühlsseite und das Triebleben a» und auf. Gelingt ihm dies in kräftiger Weise, so geraten die andern Köpfe im Parlamente in Furcht und lassen sich nun leicht überzeugen. Ein derartiger Prozeß ist die Bethätigung der Volkssouveränetät. David Syene, der vor kurzer Zeit ein Buch über die Schwächen des Parla¬ mentarismus drücke» ließ, verlangt, daß die Abgeordneten aus der usurpirter Stellung unabhängiger Gesetzgeber in diejenige verantwortlicher Vertreter zurück¬ treten sollen. Die radikale 'Wsstininswr Rvvisv billigt diesen Vorschlag aus dem Grunde nicht, weil das Parlamentsmitglied viel klüger als sein Wahlkreis sei. Sie glaubt folglich an eine Parlamentssouveräuetät. In der That ist die Sache so, daß in England eine Parlamentsmajoritätssonvcränetät herrscht. Sie ist in der Hand einiger hundert reicher Männer, welche mit Geld und guten Worten am energischsten zur Gefühlsseite der Wahlkreispersönlichkeiten sprechen. Die Millionen Wähler schieben und werden geschoben. Eine Frage möchten wir zum Schlüsse noch erheben. Wie ist es möglich, daß die Zahl der Radikalen so beträchlich sein kann, wenn man die kostspieligen Wahlen in Betracht zieht? Es ist schade, daß niemals ein Romanschriftsteller oder ein Dramatiker mit einer Beobachtungsgabe wie Balzac sie besaß, die ver¬ schiedenen Typen des Radikalismus gezeichnet hat, daß die Aufgabe, welche sich Turgenicff in „Neuland" stellte, nicht in größerem Maßstabe gelöst worden ist. Er würde die furchtbarsten Kontraste, das hellste Licht und deu düstersten Schatten in einem Gemälde zu vereinigen haben: den Schwung, das Feuer der Jugend und die Ernüchterung, die Kälte des Alters, ein volles, ideales Gemüt und grimmige Verbissenheit und tiefste Verbitterung, reinste Menschenliebe und giftigen Haß lind Neid, höchste Intelligenz und geistige Beschränkung, eine Schwelgerei in abstrakten Prinzipien und genaueste Bekanntschaft mit der wirk¬ lichen Welt, feinste, ästhetische Bildung neben einem Gefallen an einer öden Einfachheit und Gleichheit. Eine einzige Gestalt würde nur ausnahmsweise auf seinem Gemäldefi guriren: der reiche, alte Herr. Mit Recht machte Schmoller in seiner Schrift: „Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirt¬ schaft" darauf aufmerksam, daß die gewaltigen, reformirenden Geister an den beiden Enden der sozialen Leiter stehen. Man sollte erwarten, daß in einer Darstellung der Ncformprvjekte auch der Ausdehnung des Stimmrechts ans die Frauen und der Umbildung oder Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/226>, abgerufen am 01.07.2024.