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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform des englische" Parlaments,

mit einiger Energie bei der langen Wahldcmcr mich zur Geltung bringen.
Dieser Umstand aber macht dem Kandidaten große Kosten, da mancher nicht
ansässige Wahlmann für seine Reise und seine Mühe bezahlt werden will.
Nun hält sich derselbe aber oft im Auslande, z. B. in Madrid, Rom oder
Wiesbaden ans, und der Kandidat muß seinem Wähler, wenn er ihn an der
Wahlurne sehen will, die Reisekosten vergüten.

Man ist auch zu der Einsicht gekommen, daß Bestechungen und Be¬
stechungsversuche anders bestraft werden müssen. Nach einem Gesetze kann
einem Wahlkreise wegen dieses Vergehens das Wahlrecht entzogen werden. Das
heißt den Schuldigen mit dem Unschuldige" bestrafen und widerstreitet dem Geiste
des konstitutionellen Staates. Gerecht dagegen würde es sein, denjenigen das
Wahlrecht zu entziehen, welche es mißbrauchen, und dnrch Auferlegung harter
Strafen dem öffentlichen Bewußtsein die Erkenntniß der Unchrenhaftigkeit eines
solchen Verfahrens einzuprägen. So lange aber die Bürgermeister und die
Stadträte eines dorongli sich teilweise mit hohen Summen bestechen lassen, wie
es vor zwei Jahren noch geschah, muß die öffentliche Meinung verwirrt werden.

Das Problem, gesunde Beziehungen zwischen dem Wahlkreise und seinem
Abgeordneten herzustellen, bietet mannichfnche Schwierigkeiten. Es wird einer
langen sittlichen Erziehung durch Wort und Schrift, ja sogar durch den Zwang
des Gesetzes bedürfen, ehe die große Masse des englischen Volkes für seine
Auffassung ein höheres Bild als das der Amme und des Säuglings findet.
Der Wahlkreis meill den Kandidaten, und der Kandidat verpflegt den Wahl¬
kreis (t,o milt elle os.näiäa.w -- de> uurss tus borou^ki) -- das ist die landes¬
übliche Anschauung. Vor kurzer Zeit erging an, einen jungen Mann, der sich
dadurch in den weitesten Kreisen bekannt gemacht hat, aber auch nur dadurch,
daß er eine außerordentlich reiche und alte Dame heiratete, die Anfrage, ob er
geneigt sei, eiuen Wahlkreis zu vertreten. Der junge Mann erwiederte, daß
ihm bereits -- zwölf Mandate angetragen worden seien. Dazu bemerkte das
radikale "Echo," der Wahlkreis dächte wahrscheinlich, man könnte diesen Kan¬
didaten -- mehr als einmal ähnelten. Als vor einigen Monaten mehrere Leute
wegen Wahlbcstechungen bestraft wurden, ging ein Schrei der Entrüstung dnrch
das ganze Land. Man habe so lange bestochen, hieß es, daß das öffentliche
Rechtsbewußtsein nicht im mindesten dadurch verletzt werde. Es wurden Petitionen
um Straferlaß in Umlauf gesetzt, und ein Geschworener war einfältig genng, in
einem an eine Zeitung gerichteten Schreiben zu gestehen, daß er sein "Schuldig"
nicht ausgesprochen haben würde, wenn er- hätte voraussehen können, daß es zu
einer Verurteilung käme. Derartige Vorgänge vermutet man gewöhnlich nur in den
Ländern der Kelten, Irland oder Frankreich. Sie müssen tief auf eine Verrückung
des natürlichen Verhältnisses zwischen Vertreter und Vertretene" einwirken.

Die Anschauung, daß der Wahlkreis Mandant, der Abgeordnete Mandatar
ist. hat nur schwache Wurzeln in den mittleren und unteren Schichten der cng-


Grcuzlwten I. 1382 28
Die Reform des englische» Parlaments,

mit einiger Energie bei der langen Wahldcmcr mich zur Geltung bringen.
Dieser Umstand aber macht dem Kandidaten große Kosten, da mancher nicht
ansässige Wahlmann für seine Reise und seine Mühe bezahlt werden will.
Nun hält sich derselbe aber oft im Auslande, z. B. in Madrid, Rom oder
Wiesbaden ans, und der Kandidat muß seinem Wähler, wenn er ihn an der
Wahlurne sehen will, die Reisekosten vergüten.

Man ist auch zu der Einsicht gekommen, daß Bestechungen und Be¬
stechungsversuche anders bestraft werden müssen. Nach einem Gesetze kann
einem Wahlkreise wegen dieses Vergehens das Wahlrecht entzogen werden. Das
heißt den Schuldigen mit dem Unschuldige» bestrafen und widerstreitet dem Geiste
des konstitutionellen Staates. Gerecht dagegen würde es sein, denjenigen das
Wahlrecht zu entziehen, welche es mißbrauchen, und dnrch Auferlegung harter
Strafen dem öffentlichen Bewußtsein die Erkenntniß der Unchrenhaftigkeit eines
solchen Verfahrens einzuprägen. So lange aber die Bürgermeister und die
Stadträte eines dorongli sich teilweise mit hohen Summen bestechen lassen, wie
es vor zwei Jahren noch geschah, muß die öffentliche Meinung verwirrt werden.

Das Problem, gesunde Beziehungen zwischen dem Wahlkreise und seinem
Abgeordneten herzustellen, bietet mannichfnche Schwierigkeiten. Es wird einer
langen sittlichen Erziehung durch Wort und Schrift, ja sogar durch den Zwang
des Gesetzes bedürfen, ehe die große Masse des englischen Volkes für seine
Auffassung ein höheres Bild als das der Amme und des Säuglings findet.
Der Wahlkreis meill den Kandidaten, und der Kandidat verpflegt den Wahl¬
kreis (t,o milt elle os.näiäa.w — de> uurss tus borou^ki) — das ist die landes¬
übliche Anschauung. Vor kurzer Zeit erging an, einen jungen Mann, der sich
dadurch in den weitesten Kreisen bekannt gemacht hat, aber auch nur dadurch,
daß er eine außerordentlich reiche und alte Dame heiratete, die Anfrage, ob er
geneigt sei, eiuen Wahlkreis zu vertreten. Der junge Mann erwiederte, daß
ihm bereits — zwölf Mandate angetragen worden seien. Dazu bemerkte das
radikale „Echo," der Wahlkreis dächte wahrscheinlich, man könnte diesen Kan¬
didaten — mehr als einmal ähnelten. Als vor einigen Monaten mehrere Leute
wegen Wahlbcstechungen bestraft wurden, ging ein Schrei der Entrüstung dnrch
das ganze Land. Man habe so lange bestochen, hieß es, daß das öffentliche
Rechtsbewußtsein nicht im mindesten dadurch verletzt werde. Es wurden Petitionen
um Straferlaß in Umlauf gesetzt, und ein Geschworener war einfältig genng, in
einem an eine Zeitung gerichteten Schreiben zu gestehen, daß er sein „Schuldig"
nicht ausgesprochen haben würde, wenn er- hätte voraussehen können, daß es zu
einer Verurteilung käme. Derartige Vorgänge vermutet man gewöhnlich nur in den
Ländern der Kelten, Irland oder Frankreich. Sie müssen tief auf eine Verrückung
des natürlichen Verhältnisses zwischen Vertreter und Vertretene» einwirken.

Die Anschauung, daß der Wahlkreis Mandant, der Abgeordnete Mandatar
ist. hat nur schwache Wurzeln in den mittleren und unteren Schichten der cng-


Grcuzlwten I. 1382 28
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[0225] Die Reform des englische» Parlaments, mit einiger Energie bei der langen Wahldcmcr mich zur Geltung bringen. Dieser Umstand aber macht dem Kandidaten große Kosten, da mancher nicht ansässige Wahlmann für seine Reise und seine Mühe bezahlt werden will. Nun hält sich derselbe aber oft im Auslande, z. B. in Madrid, Rom oder Wiesbaden ans, und der Kandidat muß seinem Wähler, wenn er ihn an der Wahlurne sehen will, die Reisekosten vergüten. Man ist auch zu der Einsicht gekommen, daß Bestechungen und Be¬ stechungsversuche anders bestraft werden müssen. Nach einem Gesetze kann einem Wahlkreise wegen dieses Vergehens das Wahlrecht entzogen werden. Das heißt den Schuldigen mit dem Unschuldige» bestrafen und widerstreitet dem Geiste des konstitutionellen Staates. Gerecht dagegen würde es sein, denjenigen das Wahlrecht zu entziehen, welche es mißbrauchen, und dnrch Auferlegung harter Strafen dem öffentlichen Bewußtsein die Erkenntniß der Unchrenhaftigkeit eines solchen Verfahrens einzuprägen. So lange aber die Bürgermeister und die Stadträte eines dorongli sich teilweise mit hohen Summen bestechen lassen, wie es vor zwei Jahren noch geschah, muß die öffentliche Meinung verwirrt werden. Das Problem, gesunde Beziehungen zwischen dem Wahlkreise und seinem Abgeordneten herzustellen, bietet mannichfnche Schwierigkeiten. Es wird einer langen sittlichen Erziehung durch Wort und Schrift, ja sogar durch den Zwang des Gesetzes bedürfen, ehe die große Masse des englischen Volkes für seine Auffassung ein höheres Bild als das der Amme und des Säuglings findet. Der Wahlkreis meill den Kandidaten, und der Kandidat verpflegt den Wahl¬ kreis (t,o milt elle os.näiäa.w — de> uurss tus borou^ki) — das ist die landes¬ übliche Anschauung. Vor kurzer Zeit erging an, einen jungen Mann, der sich dadurch in den weitesten Kreisen bekannt gemacht hat, aber auch nur dadurch, daß er eine außerordentlich reiche und alte Dame heiratete, die Anfrage, ob er geneigt sei, eiuen Wahlkreis zu vertreten. Der junge Mann erwiederte, daß ihm bereits — zwölf Mandate angetragen worden seien. Dazu bemerkte das radikale „Echo," der Wahlkreis dächte wahrscheinlich, man könnte diesen Kan¬ didaten — mehr als einmal ähnelten. Als vor einigen Monaten mehrere Leute wegen Wahlbcstechungen bestraft wurden, ging ein Schrei der Entrüstung dnrch das ganze Land. Man habe so lange bestochen, hieß es, daß das öffentliche Rechtsbewußtsein nicht im mindesten dadurch verletzt werde. Es wurden Petitionen um Straferlaß in Umlauf gesetzt, und ein Geschworener war einfältig genng, in einem an eine Zeitung gerichteten Schreiben zu gestehen, daß er sein „Schuldig" nicht ausgesprochen haben würde, wenn er- hätte voraussehen können, daß es zu einer Verurteilung käme. Derartige Vorgänge vermutet man gewöhnlich nur in den Ländern der Kelten, Irland oder Frankreich. Sie müssen tief auf eine Verrückung des natürlichen Verhältnisses zwischen Vertreter und Vertretene» einwirken. Die Anschauung, daß der Wahlkreis Mandant, der Abgeordnete Mandatar ist. hat nur schwache Wurzeln in den mittleren und unteren Schichten der cng- Grcuzlwten I. 1382 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/225>, abgerufen am 22.07.2024.