Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reform des englische" Parlaments.

Haus ist der Sklave des Adelshauses, rief man damals, die Abgeordneten beginnen
ihre politische Laufbahn nicht auf der Wahlbühne, sondern in den Speisesälen
und Studirzimmern des Mnnors. Das freie Albion wird von einer Kaste re¬
giert! Ul^d jetzt blickt man mit einem schmerzlichen Gefühle der Hochachtung
auf dasselbe Parlament, dessen Mitglieder zum größten Teil nur formell er¬
wählt, in der That aber in den Edelsitzen des Landes ernannt wurde". Denn
der Adel hatte ein Interesse daran, talentvolle Männer uach Westminster zu
senden; die talentvollen Männer waren oft jung und hatte" nicht selten eine
große, sichere und vielseitige Erfahrung, wen" gewöhnlich der politische Mensch
sich zum erstenmal zu häute" beginnt und eine unpraktische Thorheit ablegt.
Der letzte der größern Zeiten, Gladstone, gelaugte unter der Ägide des Herzogs
vo" Newcastle ins Parlament, nachdem er in Oxford sein äoul>lo-ur8t bestanden
hatte. Er sprach vor nicht langer Zeit die Überzeugung aus, daß die Kcitho-
likeuemanzipativu nicht so rasch durchgeführt worden wäre, wenn mau sie nach
dein Nefvrmgesetz eingebracht hätte, und daß der Kornzvll früher gefallen wäre,
wenn das Parlament seinen Charakter bewahrt hätte.

Wenn man alle diese Umstände und Einflüsse in ihrer Koexistenz und
ihrem Einwirken auf einander erwägt, kann man sich nicht darüber wundern,
daß Disraeli vor fast 40 Jahren die Frage stellte, ob sich nicht unter den
demokratischen Tendenzen des Zeitalters eine allmähliche Erstarkung der könig¬
lichen Gewalt verberge. Die "Provinzialkorrespondenz" sprach vor einigen Jahren
die Überzeugung aus, daß sie sich in Deutschland befestige. Bluntschli bezeichnet
in seiner "Geschichte des allgemeinen Staatsrechtes und der Politik" als das Be¬
streben unsres Zeitalters "zwei scheinbar entgegengesetzte Tendenzen, die aus¬
gebreitete und gesicherte Volksfreiheit, und die energische Centralgewalt, oder
wenn man will, die Demokratie und die Monarchie politisch zu verbinden."
Darüber kann kein Zweifel sein, daß der letzte Cäsar weder gestorben noch ge¬
boren ist und daß Beaeousfields Versöhnung von Toryismus und Radikalismus
in nnserm Jahrhundert kaum originell genannt werden kann. Aber Bestre¬
bungen und Tendenzen sind keine Thaten. Der Cäsar muß geboren werden,
der sein Schiff von dem Strome des Zeitalters forttragen läßt und mit kräf¬
tiger Faust das Steuer zu seinen Zielen lenkt. Und wenn in dem günstigen
Augenblicke England auf seinem Throne einen Phantasten, einen Schweiger
oder einen Hamlet findet?

Es ist eine trostlose Sache ums Prophezeien, meinte Hume vor hundert
und einigen dreißig Jahren in seinem Essay: V^llcitllör eilf Lritisll 6ovsrn-
mvnt inoliuvs mors to adsoluts mcmaron^ or to g, rvpnvliv? und führt Har-
riugton an, der von dem Grundsätze ausgehend, daß die Machtbilcmz von der
Eigcntumsbilanz abhänge, zu dem Schlüsse gelangte, das Königtum könne
in England nicht wiederhergestellt werden. Kaum sei das Buch veröffent¬
licht worden, als Karl H. seinen Einzug in London gehalten habe. DaS


Die Reform des englische» Parlaments.

Haus ist der Sklave des Adelshauses, rief man damals, die Abgeordneten beginnen
ihre politische Laufbahn nicht auf der Wahlbühne, sondern in den Speisesälen
und Studirzimmern des Mnnors. Das freie Albion wird von einer Kaste re¬
giert! Ul^d jetzt blickt man mit einem schmerzlichen Gefühle der Hochachtung
auf dasselbe Parlament, dessen Mitglieder zum größten Teil nur formell er¬
wählt, in der That aber in den Edelsitzen des Landes ernannt wurde». Denn
der Adel hatte ein Interesse daran, talentvolle Männer uach Westminster zu
senden; die talentvollen Männer waren oft jung und hatte» nicht selten eine
große, sichere und vielseitige Erfahrung, wen» gewöhnlich der politische Mensch
sich zum erstenmal zu häute» beginnt und eine unpraktische Thorheit ablegt.
Der letzte der größern Zeiten, Gladstone, gelaugte unter der Ägide des Herzogs
vo» Newcastle ins Parlament, nachdem er in Oxford sein äoul>lo-ur8t bestanden
hatte. Er sprach vor nicht langer Zeit die Überzeugung aus, daß die Kcitho-
likeuemanzipativu nicht so rasch durchgeführt worden wäre, wenn mau sie nach
dein Nefvrmgesetz eingebracht hätte, und daß der Kornzvll früher gefallen wäre,
wenn das Parlament seinen Charakter bewahrt hätte.

Wenn man alle diese Umstände und Einflüsse in ihrer Koexistenz und
ihrem Einwirken auf einander erwägt, kann man sich nicht darüber wundern,
daß Disraeli vor fast 40 Jahren die Frage stellte, ob sich nicht unter den
demokratischen Tendenzen des Zeitalters eine allmähliche Erstarkung der könig¬
lichen Gewalt verberge. Die „Provinzialkorrespondenz" sprach vor einigen Jahren
die Überzeugung aus, daß sie sich in Deutschland befestige. Bluntschli bezeichnet
in seiner „Geschichte des allgemeinen Staatsrechtes und der Politik" als das Be¬
streben unsres Zeitalters „zwei scheinbar entgegengesetzte Tendenzen, die aus¬
gebreitete und gesicherte Volksfreiheit, und die energische Centralgewalt, oder
wenn man will, die Demokratie und die Monarchie politisch zu verbinden."
Darüber kann kein Zweifel sein, daß der letzte Cäsar weder gestorben noch ge¬
boren ist und daß Beaeousfields Versöhnung von Toryismus und Radikalismus
in nnserm Jahrhundert kaum originell genannt werden kann. Aber Bestre¬
bungen und Tendenzen sind keine Thaten. Der Cäsar muß geboren werden,
der sein Schiff von dem Strome des Zeitalters forttragen läßt und mit kräf¬
tiger Faust das Steuer zu seinen Zielen lenkt. Und wenn in dem günstigen
Augenblicke England auf seinem Throne einen Phantasten, einen Schweiger
oder einen Hamlet findet?

Es ist eine trostlose Sache ums Prophezeien, meinte Hume vor hundert
und einigen dreißig Jahren in seinem Essay: V^llcitllör eilf Lritisll 6ovsrn-
mvnt inoliuvs mors to adsoluts mcmaron^ or to g, rvpnvliv? und führt Har-
riugton an, der von dem Grundsätze ausgehend, daß die Machtbilcmz von der
Eigcntumsbilanz abhänge, zu dem Schlüsse gelangte, das Königtum könne
in England nicht wiederhergestellt werden. Kaum sei das Buch veröffent¬
licht worden, als Karl H. seinen Einzug in London gehalten habe. DaS


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86344"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reform des englische» Parlaments.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_919" prev="#ID_918"> Haus ist der Sklave des Adelshauses, rief man damals, die Abgeordneten beginnen<lb/>
ihre politische Laufbahn nicht auf der Wahlbühne, sondern in den Speisesälen<lb/>
und Studirzimmern des Mnnors. Das freie Albion wird von einer Kaste re¬<lb/>
giert! Ul^d jetzt blickt man mit einem schmerzlichen Gefühle der Hochachtung<lb/>
auf dasselbe Parlament, dessen Mitglieder zum größten Teil nur formell er¬<lb/>
wählt, in der That aber in den Edelsitzen des Landes ernannt wurde». Denn<lb/>
der Adel hatte ein Interesse daran, talentvolle Männer uach Westminster zu<lb/>
senden; die talentvollen Männer waren oft jung und hatte» nicht selten eine<lb/>
große, sichere und vielseitige Erfahrung, wen» gewöhnlich der politische Mensch<lb/>
sich zum erstenmal zu häute» beginnt und eine unpraktische Thorheit ablegt.<lb/>
Der letzte der größern Zeiten, Gladstone, gelaugte unter der Ägide des Herzogs<lb/>
vo» Newcastle ins Parlament, nachdem er in Oxford sein äoul&gt;lo-ur8t bestanden<lb/>
hatte. Er sprach vor nicht langer Zeit die Überzeugung aus, daß die Kcitho-<lb/>
likeuemanzipativu nicht so rasch durchgeführt worden wäre, wenn mau sie nach<lb/>
dein Nefvrmgesetz eingebracht hätte, und daß der Kornzvll früher gefallen wäre,<lb/>
wenn das Parlament seinen Charakter bewahrt hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_920"> Wenn man alle diese Umstände und Einflüsse in ihrer Koexistenz und<lb/>
ihrem Einwirken auf einander erwägt, kann man sich nicht darüber wundern,<lb/>
daß Disraeli vor fast 40 Jahren die Frage stellte, ob sich nicht unter den<lb/>
demokratischen Tendenzen des Zeitalters eine allmähliche Erstarkung der könig¬<lb/>
lichen Gewalt verberge. Die &#x201E;Provinzialkorrespondenz" sprach vor einigen Jahren<lb/>
die Überzeugung aus, daß sie sich in Deutschland befestige. Bluntschli bezeichnet<lb/>
in seiner &#x201E;Geschichte des allgemeinen Staatsrechtes und der Politik" als das Be¬<lb/>
streben unsres Zeitalters &#x201E;zwei scheinbar entgegengesetzte Tendenzen, die aus¬<lb/>
gebreitete und gesicherte Volksfreiheit, und die energische Centralgewalt, oder<lb/>
wenn man will, die Demokratie und die Monarchie politisch zu verbinden."<lb/>
Darüber kann kein Zweifel sein, daß der letzte Cäsar weder gestorben noch ge¬<lb/>
boren ist und daß Beaeousfields Versöhnung von Toryismus und Radikalismus<lb/>
in nnserm Jahrhundert kaum originell genannt werden kann. Aber Bestre¬<lb/>
bungen und Tendenzen sind keine Thaten. Der Cäsar muß geboren werden,<lb/>
der sein Schiff von dem Strome des Zeitalters forttragen läßt und mit kräf¬<lb/>
tiger Faust das Steuer zu seinen Zielen lenkt. Und wenn in dem günstigen<lb/>
Augenblicke England auf seinem Throne einen Phantasten, einen Schweiger<lb/>
oder einen Hamlet findet?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_921" next="#ID_922"> Es ist eine trostlose Sache ums Prophezeien, meinte Hume vor hundert<lb/>
und einigen dreißig Jahren in seinem Essay: V^llcitllör eilf Lritisll 6ovsrn-<lb/>
mvnt inoliuvs mors to adsoluts mcmaron^ or to g, rvpnvliv? und führt Har-<lb/>
riugton an, der von dem Grundsätze ausgehend, daß die Machtbilcmz von der<lb/>
Eigcntumsbilanz abhänge, zu dem Schlüsse gelangte, das Königtum könne<lb/>
in England nicht wiederhergestellt werden. Kaum sei das Buch veröffent¬<lb/>
licht worden, als Karl H. seinen Einzug in London gehalten habe. DaS</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0223] Die Reform des englische» Parlaments. Haus ist der Sklave des Adelshauses, rief man damals, die Abgeordneten beginnen ihre politische Laufbahn nicht auf der Wahlbühne, sondern in den Speisesälen und Studirzimmern des Mnnors. Das freie Albion wird von einer Kaste re¬ giert! Ul^d jetzt blickt man mit einem schmerzlichen Gefühle der Hochachtung auf dasselbe Parlament, dessen Mitglieder zum größten Teil nur formell er¬ wählt, in der That aber in den Edelsitzen des Landes ernannt wurde». Denn der Adel hatte ein Interesse daran, talentvolle Männer uach Westminster zu senden; die talentvollen Männer waren oft jung und hatte» nicht selten eine große, sichere und vielseitige Erfahrung, wen» gewöhnlich der politische Mensch sich zum erstenmal zu häute» beginnt und eine unpraktische Thorheit ablegt. Der letzte der größern Zeiten, Gladstone, gelaugte unter der Ägide des Herzogs vo» Newcastle ins Parlament, nachdem er in Oxford sein äoul>lo-ur8t bestanden hatte. Er sprach vor nicht langer Zeit die Überzeugung aus, daß die Kcitho- likeuemanzipativu nicht so rasch durchgeführt worden wäre, wenn mau sie nach dein Nefvrmgesetz eingebracht hätte, und daß der Kornzvll früher gefallen wäre, wenn das Parlament seinen Charakter bewahrt hätte. Wenn man alle diese Umstände und Einflüsse in ihrer Koexistenz und ihrem Einwirken auf einander erwägt, kann man sich nicht darüber wundern, daß Disraeli vor fast 40 Jahren die Frage stellte, ob sich nicht unter den demokratischen Tendenzen des Zeitalters eine allmähliche Erstarkung der könig¬ lichen Gewalt verberge. Die „Provinzialkorrespondenz" sprach vor einigen Jahren die Überzeugung aus, daß sie sich in Deutschland befestige. Bluntschli bezeichnet in seiner „Geschichte des allgemeinen Staatsrechtes und der Politik" als das Be¬ streben unsres Zeitalters „zwei scheinbar entgegengesetzte Tendenzen, die aus¬ gebreitete und gesicherte Volksfreiheit, und die energische Centralgewalt, oder wenn man will, die Demokratie und die Monarchie politisch zu verbinden." Darüber kann kein Zweifel sein, daß der letzte Cäsar weder gestorben noch ge¬ boren ist und daß Beaeousfields Versöhnung von Toryismus und Radikalismus in nnserm Jahrhundert kaum originell genannt werden kann. Aber Bestre¬ bungen und Tendenzen sind keine Thaten. Der Cäsar muß geboren werden, der sein Schiff von dem Strome des Zeitalters forttragen läßt und mit kräf¬ tiger Faust das Steuer zu seinen Zielen lenkt. Und wenn in dem günstigen Augenblicke England auf seinem Throne einen Phantasten, einen Schweiger oder einen Hamlet findet? Es ist eine trostlose Sache ums Prophezeien, meinte Hume vor hundert und einigen dreißig Jahren in seinem Essay: V^llcitllör eilf Lritisll 6ovsrn- mvnt inoliuvs mors to adsoluts mcmaron^ or to g, rvpnvliv? und führt Har- riugton an, der von dem Grundsätze ausgehend, daß die Machtbilcmz von der Eigcntumsbilanz abhänge, zu dem Schlüsse gelangte, das Königtum könne in England nicht wiederhergestellt werden. Kaum sei das Buch veröffent¬ licht worden, als Karl H. seinen Einzug in London gehalten habe. DaS

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/223
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/223>, abgerufen am 05.02.2025.