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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform dos englischen Parlaments,

siegt, das letztemal gegen alle Erwartung geradezu erdrückt? Muß diese Er¬
scheinung nicht einem launischen, unberechenbaren, unfaßbarer Elemente zuge¬
schrieben werden? Schon beugt sich alles vor ihm: Unterhaus, Oberhaus und
Königtum. Bald wird die Staatstheorie Rousseaus in England verwirklicht sein,
und die schrankenlose, rücksichtslose Gewalt kurzlebiger wechselnder Majoritäten
einen Sturm über England heraufbeschwören, in dem sich die Wogen des Pro¬
letariats, alle Kultur begrabend, über das Land wälzen.

England ist ohne Zweifel in den letzten Jahren demokratischer geworden.
Die Wahlen von 1880 führten eine größere Menge angeblicher Radikalen ins
Hans, Beaevnsfield berechnete sie auf 125. Es ist auch nicht unwahr, daß
England vom allgemeinen Stimmrechte mehr zu befürchten hat als jeder andre
Staat. Die Teilung einander beschränkender Gewalten, das Gleichgewicht, welches
die Staatsrechtslehrer und die Philosophen des vorigen Jahrhunderts um der
englischen Verfassung bewunderten, ist längst nur noch formell vorhanden. Das
Oberhaus ist zu einer registrirenden Körperschaft herabgesunken. Salisbury ent¬
schuldigte seine Einwilligung zu dem irischen Landgesetze mit dem Willen des
Volkes, als ob das Oberhaus, das Haus der gebornen Gesetzgeber, staatsrechtlich
etwas mit dem Willen des Volkes zu thun hätte und er sprach mit großer Ge¬
lassenheit das Wort aus, daß die Verantwortlichkeit für allen Schaden dem
Unterhnuse zufalle, als ob dieselbe, wenn das Oberhaus wirklich eine lebens¬
kräftige Körperschaft, wirklich ein Senat wäre, nicht ans den Schultern des
Oberhauses mit derselben Wucht lastete wie auf den Schultern des Unterhauses
und des Königtums. Das heißt nicht einmal geschickt abdanken. Die königliche
Gewalt aber ist noch tiefer gesunken als das Oberhaus. Seit mehr als 150
Jahren ist das Veto-Recht, welches Mirabeau einst so mannhaft verfocht, nicht
mehr ausgeübt worden, der Souverän fühlt bis in seine Umgebung hinein die
Reihenfolge der Parteien. Die Gerichte fürchten mit der gewaltigen Macht des
Parlamentes in Konflikt zu geraten, und diese fürchterliche Macht wird gelenkt
von der vielköpfigen Menge -- wahrlich, England mit seiner Königin, seiner
aristokratischen Gesellschaft, seinen konservativen Tendenzen, seinem Uouss ol ksors,
seinen unabhängigen Richtern ist eine reinere Demokratie als irgend eine Re¬
publik in der Welt. Wie viel kräftiger stehen in der Schweiz die legislativen
Körper einander gegenüber. Wie heut ist das Gleichgewicht der Gewalten in den
Vereinigten Staaten, wo das Ministerium kein Ausschuß der Partei ist, der
Präsident nicht aus dem Ministerium hervorgeht und sein Veto bei Gelegenheit
kräftig in die Wagschale wirft. Wie viel selbstbewußter not eifersüchtiger hat
sich oft der französische Senat in den elf Jahren der Republik gezeigt, und wie
viel kräftiger als die englische Königin haben Thiers, Mac Mabur und Gropp
regiert. Daher der billige englische Scherz: Wir haben eine Republik, aber wir
bezahlen jährlich die königliche Familie, damit wir nicht Republikaner genannt
werden. Denn das Wort würde uns schrecken.


Die Reform dos englischen Parlaments,

siegt, das letztemal gegen alle Erwartung geradezu erdrückt? Muß diese Er¬
scheinung nicht einem launischen, unberechenbaren, unfaßbarer Elemente zuge¬
schrieben werden? Schon beugt sich alles vor ihm: Unterhaus, Oberhaus und
Königtum. Bald wird die Staatstheorie Rousseaus in England verwirklicht sein,
und die schrankenlose, rücksichtslose Gewalt kurzlebiger wechselnder Majoritäten
einen Sturm über England heraufbeschwören, in dem sich die Wogen des Pro¬
letariats, alle Kultur begrabend, über das Land wälzen.

England ist ohne Zweifel in den letzten Jahren demokratischer geworden.
Die Wahlen von 1880 führten eine größere Menge angeblicher Radikalen ins
Hans, Beaevnsfield berechnete sie auf 125. Es ist auch nicht unwahr, daß
England vom allgemeinen Stimmrechte mehr zu befürchten hat als jeder andre
Staat. Die Teilung einander beschränkender Gewalten, das Gleichgewicht, welches
die Staatsrechtslehrer und die Philosophen des vorigen Jahrhunderts um der
englischen Verfassung bewunderten, ist längst nur noch formell vorhanden. Das
Oberhaus ist zu einer registrirenden Körperschaft herabgesunken. Salisbury ent¬
schuldigte seine Einwilligung zu dem irischen Landgesetze mit dem Willen des
Volkes, als ob das Oberhaus, das Haus der gebornen Gesetzgeber, staatsrechtlich
etwas mit dem Willen des Volkes zu thun hätte und er sprach mit großer Ge¬
lassenheit das Wort aus, daß die Verantwortlichkeit für allen Schaden dem
Unterhnuse zufalle, als ob dieselbe, wenn das Oberhaus wirklich eine lebens¬
kräftige Körperschaft, wirklich ein Senat wäre, nicht ans den Schultern des
Oberhauses mit derselben Wucht lastete wie auf den Schultern des Unterhauses
und des Königtums. Das heißt nicht einmal geschickt abdanken. Die königliche
Gewalt aber ist noch tiefer gesunken als das Oberhaus. Seit mehr als 150
Jahren ist das Veto-Recht, welches Mirabeau einst so mannhaft verfocht, nicht
mehr ausgeübt worden, der Souverän fühlt bis in seine Umgebung hinein die
Reihenfolge der Parteien. Die Gerichte fürchten mit der gewaltigen Macht des
Parlamentes in Konflikt zu geraten, und diese fürchterliche Macht wird gelenkt
von der vielköpfigen Menge — wahrlich, England mit seiner Königin, seiner
aristokratischen Gesellschaft, seinen konservativen Tendenzen, seinem Uouss ol ksors,
seinen unabhängigen Richtern ist eine reinere Demokratie als irgend eine Re¬
publik in der Welt. Wie viel kräftiger stehen in der Schweiz die legislativen
Körper einander gegenüber. Wie heut ist das Gleichgewicht der Gewalten in den
Vereinigten Staaten, wo das Ministerium kein Ausschuß der Partei ist, der
Präsident nicht aus dem Ministerium hervorgeht und sein Veto bei Gelegenheit
kräftig in die Wagschale wirft. Wie viel selbstbewußter not eifersüchtiger hat
sich oft der französische Senat in den elf Jahren der Republik gezeigt, und wie
viel kräftiger als die englische Königin haben Thiers, Mac Mabur und Gropp
regiert. Daher der billige englische Scherz: Wir haben eine Republik, aber wir
bezahlen jährlich die königliche Familie, damit wir nicht Republikaner genannt
werden. Denn das Wort würde uns schrecken.


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[0220] Die Reform dos englischen Parlaments, siegt, das letztemal gegen alle Erwartung geradezu erdrückt? Muß diese Er¬ scheinung nicht einem launischen, unberechenbaren, unfaßbarer Elemente zuge¬ schrieben werden? Schon beugt sich alles vor ihm: Unterhaus, Oberhaus und Königtum. Bald wird die Staatstheorie Rousseaus in England verwirklicht sein, und die schrankenlose, rücksichtslose Gewalt kurzlebiger wechselnder Majoritäten einen Sturm über England heraufbeschwören, in dem sich die Wogen des Pro¬ letariats, alle Kultur begrabend, über das Land wälzen. England ist ohne Zweifel in den letzten Jahren demokratischer geworden. Die Wahlen von 1880 führten eine größere Menge angeblicher Radikalen ins Hans, Beaevnsfield berechnete sie auf 125. Es ist auch nicht unwahr, daß England vom allgemeinen Stimmrechte mehr zu befürchten hat als jeder andre Staat. Die Teilung einander beschränkender Gewalten, das Gleichgewicht, welches die Staatsrechtslehrer und die Philosophen des vorigen Jahrhunderts um der englischen Verfassung bewunderten, ist längst nur noch formell vorhanden. Das Oberhaus ist zu einer registrirenden Körperschaft herabgesunken. Salisbury ent¬ schuldigte seine Einwilligung zu dem irischen Landgesetze mit dem Willen des Volkes, als ob das Oberhaus, das Haus der gebornen Gesetzgeber, staatsrechtlich etwas mit dem Willen des Volkes zu thun hätte und er sprach mit großer Ge¬ lassenheit das Wort aus, daß die Verantwortlichkeit für allen Schaden dem Unterhnuse zufalle, als ob dieselbe, wenn das Oberhaus wirklich eine lebens¬ kräftige Körperschaft, wirklich ein Senat wäre, nicht ans den Schultern des Oberhauses mit derselben Wucht lastete wie auf den Schultern des Unterhauses und des Königtums. Das heißt nicht einmal geschickt abdanken. Die königliche Gewalt aber ist noch tiefer gesunken als das Oberhaus. Seit mehr als 150 Jahren ist das Veto-Recht, welches Mirabeau einst so mannhaft verfocht, nicht mehr ausgeübt worden, der Souverän fühlt bis in seine Umgebung hinein die Reihenfolge der Parteien. Die Gerichte fürchten mit der gewaltigen Macht des Parlamentes in Konflikt zu geraten, und diese fürchterliche Macht wird gelenkt von der vielköpfigen Menge — wahrlich, England mit seiner Königin, seiner aristokratischen Gesellschaft, seinen konservativen Tendenzen, seinem Uouss ol ksors, seinen unabhängigen Richtern ist eine reinere Demokratie als irgend eine Re¬ publik in der Welt. Wie viel kräftiger stehen in der Schweiz die legislativen Körper einander gegenüber. Wie heut ist das Gleichgewicht der Gewalten in den Vereinigten Staaten, wo das Ministerium kein Ausschuß der Partei ist, der Präsident nicht aus dem Ministerium hervorgeht und sein Veto bei Gelegenheit kräftig in die Wagschale wirft. Wie viel selbstbewußter not eifersüchtiger hat sich oft der französische Senat in den elf Jahren der Republik gezeigt, und wie viel kräftiger als die englische Königin haben Thiers, Mac Mabur und Gropp regiert. Daher der billige englische Scherz: Wir haben eine Republik, aber wir bezahlen jährlich die königliche Familie, damit wir nicht Republikaner genannt werden. Denn das Wort würde uns schrecken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/220>, abgerufen am 02.07.2024.