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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Line neue Erkenntnistheorie.

verselbständigt sich ihnen doch wieder zu einer wirklichen Welt mit ihr selbst
immanenten, unabhängig von den Vorstellungsarten des Subjekts geltenden
Gesetzen, zu einem Ding an sich, welches sich freilich unter der Maske der Vor¬
stellung verhüllt."" Die Kantianer, die uns über etwas Transsubjektivcs, das,
was, um mit Schopenhauer zu reden, nicht mehr unter der Haut ist, aufklären
wollen, vergessen jedesmal ihre eigne Theorie, die dergleichen verbietet, und
wenn das nun den Kantianern selbst begegnet, "wie viel weniger wird der
menschliche Geist allgemein sich in die spanischen Stiefel dieser Anschauung der
Dinge einschraubcu und im ganzen zu dieser Erkenntnistheorie bekehren lassen!"
Darum hat sich der Verfasser entschlossen, ein neues philosophisches System zu
begründen, den intentionalen Realismus.

Die Aufgabe, deren Lösung er sich vorgenommen hat, und die nach seiner
Meinung noch niemand gelöst hat, ist die Erklärung, wie es möglich sei, daß
wir durch unsre Sinne wirkliche Dinge wahrnehmen und nicht nur subjektive
Täuschungen und leeren Schein. Und weil er bei keinem neuern Philosophen
genügenden Anhalt für psychologische Begriffsbestimmungen fand, so entlehnte
er die Definition der Seele von Aristoteles als die Entclechie, d. i. die Ver¬
vollkommnung oder höhere Vollendung des Körpers. Sie ist nicht punktförmig
und sitzt nicht allein im Gehirn, sondern sie ist überall in allen Teilen des
Körpers gegenwärtig und reicht gerade soweit wie die Haut desselben.

Mit der Annahme einer solchen immateriellen, mit dem Körper verbundenen
Seele hat mau ohne Zweifel, zumal wenn man ein so bedeutendes Talent zum
konsequenten Denken und klaren Schreiben besitzt wie der Verfasser, eine Menge
Vorteile voraus vor dem wüsten Gewirr der gebräuchlichen physiologischen und
materialistischen Theorieen. Der Verfasser darf mit gutem Recht die spezifische
Energie der Sinnesnerven und die Projektion der Netzhautbilder aus dem Auge
in den Raum act absnräuin führen; er darf die psychische Thätigkeit in der
Sinneswahrnehmung in Schutz nehmen gegen alle Versuche, dieselbe als reine
Nervenfunktivn hinzustellen. Aber wie nun die Seele, da sie doch nicht über
die Grenze des Körpers hinaufreicht, und ihre Empfindungen doch nur nach der
Meinung des Verfassers in den Organen und unter der Haut sitzen, es anfängt,
die Wahrnehmungsbilder, die sie empfangen hat, irgendwo in den Raum hinaus
und zwar meist an die richtige Stelle zu versetzen, das zu beweisen durch die
Annahme einer gewissen Energie der Seele, ist dem Verfasser doch nicht geglückt.
Der Tastsinn muß auch bei ihm wie schon früher bei Johannes Müller die
Hauptrolle spielen, um auch dem Gesichtssinn zu räumlichen Unterscheidungen
zu verhelfen; im Tastsinn sei das Objekt unmittelbar gegenwärtig, was bei Ge-
sichtsvbjckteu erst durch den Tastsinn gelernt werden müsse. Diese Unmittelbar-
keit des Gefühls von gegenwärtigen Objekten in jeder Empfindung sei es schließlich,
welche der Seele die Gewißheit verschafft, daß wirklich etwas da sei, was ihr
die Empfindung aufzwinge. Freilich die von Locke sogenannte" sekundären Eigen-


Line neue Erkenntnistheorie.

verselbständigt sich ihnen doch wieder zu einer wirklichen Welt mit ihr selbst
immanenten, unabhängig von den Vorstellungsarten des Subjekts geltenden
Gesetzen, zu einem Ding an sich, welches sich freilich unter der Maske der Vor¬
stellung verhüllt.»" Die Kantianer, die uns über etwas Transsubjektivcs, das,
was, um mit Schopenhauer zu reden, nicht mehr unter der Haut ist, aufklären
wollen, vergessen jedesmal ihre eigne Theorie, die dergleichen verbietet, und
wenn das nun den Kantianern selbst begegnet, „wie viel weniger wird der
menschliche Geist allgemein sich in die spanischen Stiefel dieser Anschauung der
Dinge einschraubcu und im ganzen zu dieser Erkenntnistheorie bekehren lassen!"
Darum hat sich der Verfasser entschlossen, ein neues philosophisches System zu
begründen, den intentionalen Realismus.

Die Aufgabe, deren Lösung er sich vorgenommen hat, und die nach seiner
Meinung noch niemand gelöst hat, ist die Erklärung, wie es möglich sei, daß
wir durch unsre Sinne wirkliche Dinge wahrnehmen und nicht nur subjektive
Täuschungen und leeren Schein. Und weil er bei keinem neuern Philosophen
genügenden Anhalt für psychologische Begriffsbestimmungen fand, so entlehnte
er die Definition der Seele von Aristoteles als die Entclechie, d. i. die Ver¬
vollkommnung oder höhere Vollendung des Körpers. Sie ist nicht punktförmig
und sitzt nicht allein im Gehirn, sondern sie ist überall in allen Teilen des
Körpers gegenwärtig und reicht gerade soweit wie die Haut desselben.

Mit der Annahme einer solchen immateriellen, mit dem Körper verbundenen
Seele hat mau ohne Zweifel, zumal wenn man ein so bedeutendes Talent zum
konsequenten Denken und klaren Schreiben besitzt wie der Verfasser, eine Menge
Vorteile voraus vor dem wüsten Gewirr der gebräuchlichen physiologischen und
materialistischen Theorieen. Der Verfasser darf mit gutem Recht die spezifische
Energie der Sinnesnerven und die Projektion der Netzhautbilder aus dem Auge
in den Raum act absnräuin führen; er darf die psychische Thätigkeit in der
Sinneswahrnehmung in Schutz nehmen gegen alle Versuche, dieselbe als reine
Nervenfunktivn hinzustellen. Aber wie nun die Seele, da sie doch nicht über
die Grenze des Körpers hinaufreicht, und ihre Empfindungen doch nur nach der
Meinung des Verfassers in den Organen und unter der Haut sitzen, es anfängt,
die Wahrnehmungsbilder, die sie empfangen hat, irgendwo in den Raum hinaus
und zwar meist an die richtige Stelle zu versetzen, das zu beweisen durch die
Annahme einer gewissen Energie der Seele, ist dem Verfasser doch nicht geglückt.
Der Tastsinn muß auch bei ihm wie schon früher bei Johannes Müller die
Hauptrolle spielen, um auch dem Gesichtssinn zu räumlichen Unterscheidungen
zu verhelfen; im Tastsinn sei das Objekt unmittelbar gegenwärtig, was bei Ge-
sichtsvbjckteu erst durch den Tastsinn gelernt werden müsse. Diese Unmittelbar-
keit des Gefühls von gegenwärtigen Objekten in jeder Empfindung sei es schließlich,
welche der Seele die Gewißheit verschafft, daß wirklich etwas da sei, was ihr
die Empfindung aufzwinge. Freilich die von Locke sogenannte» sekundären Eigen-


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[0122] Line neue Erkenntnistheorie. verselbständigt sich ihnen doch wieder zu einer wirklichen Welt mit ihr selbst immanenten, unabhängig von den Vorstellungsarten des Subjekts geltenden Gesetzen, zu einem Ding an sich, welches sich freilich unter der Maske der Vor¬ stellung verhüllt.»" Die Kantianer, die uns über etwas Transsubjektivcs, das, was, um mit Schopenhauer zu reden, nicht mehr unter der Haut ist, aufklären wollen, vergessen jedesmal ihre eigne Theorie, die dergleichen verbietet, und wenn das nun den Kantianern selbst begegnet, „wie viel weniger wird der menschliche Geist allgemein sich in die spanischen Stiefel dieser Anschauung der Dinge einschraubcu und im ganzen zu dieser Erkenntnistheorie bekehren lassen!" Darum hat sich der Verfasser entschlossen, ein neues philosophisches System zu begründen, den intentionalen Realismus. Die Aufgabe, deren Lösung er sich vorgenommen hat, und die nach seiner Meinung noch niemand gelöst hat, ist die Erklärung, wie es möglich sei, daß wir durch unsre Sinne wirkliche Dinge wahrnehmen und nicht nur subjektive Täuschungen und leeren Schein. Und weil er bei keinem neuern Philosophen genügenden Anhalt für psychologische Begriffsbestimmungen fand, so entlehnte er die Definition der Seele von Aristoteles als die Entclechie, d. i. die Ver¬ vollkommnung oder höhere Vollendung des Körpers. Sie ist nicht punktförmig und sitzt nicht allein im Gehirn, sondern sie ist überall in allen Teilen des Körpers gegenwärtig und reicht gerade soweit wie die Haut desselben. Mit der Annahme einer solchen immateriellen, mit dem Körper verbundenen Seele hat mau ohne Zweifel, zumal wenn man ein so bedeutendes Talent zum konsequenten Denken und klaren Schreiben besitzt wie der Verfasser, eine Menge Vorteile voraus vor dem wüsten Gewirr der gebräuchlichen physiologischen und materialistischen Theorieen. Der Verfasser darf mit gutem Recht die spezifische Energie der Sinnesnerven und die Projektion der Netzhautbilder aus dem Auge in den Raum act absnräuin führen; er darf die psychische Thätigkeit in der Sinneswahrnehmung in Schutz nehmen gegen alle Versuche, dieselbe als reine Nervenfunktivn hinzustellen. Aber wie nun die Seele, da sie doch nicht über die Grenze des Körpers hinaufreicht, und ihre Empfindungen doch nur nach der Meinung des Verfassers in den Organen und unter der Haut sitzen, es anfängt, die Wahrnehmungsbilder, die sie empfangen hat, irgendwo in den Raum hinaus und zwar meist an die richtige Stelle zu versetzen, das zu beweisen durch die Annahme einer gewissen Energie der Seele, ist dem Verfasser doch nicht geglückt. Der Tastsinn muß auch bei ihm wie schon früher bei Johannes Müller die Hauptrolle spielen, um auch dem Gesichtssinn zu räumlichen Unterscheidungen zu verhelfen; im Tastsinn sei das Objekt unmittelbar gegenwärtig, was bei Ge- sichtsvbjckteu erst durch den Tastsinn gelernt werden müsse. Diese Unmittelbar- keit des Gefühls von gegenwärtigen Objekten in jeder Empfindung sei es schließlich, welche der Seele die Gewißheit verschafft, daß wirklich etwas da sei, was ihr die Empfindung aufzwinge. Freilich die von Locke sogenannte» sekundären Eigen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/122>, abgerufen am 01.07.2024.