Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das verflossene Jahr.

Regierung die Vermehrung und Erhöhung der indirekten Abgaben verweigere,
dieselbe verhindere, den Gemeinden die Last des Schulwesens abzunehmen, und
die Stadt Berlin in die Notwendigkeit versetze, dem armen Manne die Miet¬
steuer aufzuladen, welche gänzlich beseitigt werden sollte. Als Zweck der Vor¬
legung des Gesetzes bezeichnete er die Befreiung der Reichsbeamten von der
Willkür der Gemeindeverwaltungen und die Vermeidung des Verdachtes, "daß
die Steuer eine Strafe für unsre politische Richtung sei."

Gab schon diese Rede den Herren von der Fortschrittspartei und den von
ihr beherrschten Berlinern Anlaß zum Nachdenken, so eröffnete der Kanzler den
Wählern der Hauptstadt, welche bisher ausschließlich fortschrittliche oder soziali¬
stische Demokraten zu ihren Vertretern im Reichstage gewählt hatten, eine sehr
unwillkommene Aussicht, als er bei der zweiten Beratung des Gesetzes über die
Besteuerung der Dienstwohnungen der Reichsbeamten erklärte, es werde sich zu
weiterer Erörterung der Sache Gelegenheit bieten, "wenn die Frage einer Ver¬
legung der Reichsregierung uns amtlich beschäftigen wird." Die politischen
Nachteile des gegenwärtigen Zustandes bestünden, wie er weiter zeigte, nicht
blos in der äußerlichen Gefährdung der obersten Behörden und der Volksver¬
tretung des Reiches, sondern auch in dem Einflüsse, welchen das Tagen der
letztern unter einer städtischen Bevölkerung von mehr als einer Million Seelen,
und die Bequemlichkeit, hier zu wohnen, auf die Zusammensetzung des Reichs¬
tages habe, der damit aufhöre, die Zusammensetzung der Nation richtig und
sachgemäß wiederzugeben. Er schloß mit den Worten: "Wir haben zu viel
Berliner im Hause." Und an andrer Stelle drückte er dasselbe noch deutlicher aus,
indem er sagte: "Das deutsche Volk hat ein Recht darauf, daß der Reichstag
nicht verbcrlinert werde"

Wenn in diesen wirtschaftlichen Fragen der Reichskanzler stets als der
"Anwalt des kleinen Mannes" erschien, so war anzunehmen, daß er sich im
Einklange mit der Mehrheit der Nation befand, als er ein Gesetz zu einer Ver¬
fassungsänderung vorschlug, durch welches zur Beseitigung des Zusammenfallens
der Reichstags- und Landtagsverhandlungen zweijährige Etats- und vier¬
jährige Gesetzgebungsperioden eingeführt werden sollten, bei denen in dem
einen Jahre der Reichstag, in dem andern die Landtage zusammengetreten wären
und ein Neichstagsmandat vier Jahre gegolten hätte. Alle Welt beklagte, daß die
Deutschen zu oft an die Wahlurne gehen müßten, daß die Sessionen zu rasch
aufeinander folgten, und daß das Interesse an den Verhandlungen des Reichstags
in steteni Abnehmen begriffen sei. Trotzdem erklärten sich die Liberalen gegen
die Vorschläge, welche diesen Übelständen abhelfen sollten. Sie bildeten sich ein,
die Hinausschiebung des Wahlvergnügens um zwölf Monate werde die Macht
des Reichstags schädigen, und Deutschland werde decapitirt sein, wenn sein Par¬
lament nicht wie das englische alljährlich zusammentreten dürfte. Sie lebten in
dem Irrtume, eine Volksvertretung sei um so stärker, je öfter ihr das Mandat


Das verflossene Jahr.

Regierung die Vermehrung und Erhöhung der indirekten Abgaben verweigere,
dieselbe verhindere, den Gemeinden die Last des Schulwesens abzunehmen, und
die Stadt Berlin in die Notwendigkeit versetze, dem armen Manne die Miet¬
steuer aufzuladen, welche gänzlich beseitigt werden sollte. Als Zweck der Vor¬
legung des Gesetzes bezeichnete er die Befreiung der Reichsbeamten von der
Willkür der Gemeindeverwaltungen und die Vermeidung des Verdachtes, „daß
die Steuer eine Strafe für unsre politische Richtung sei."

Gab schon diese Rede den Herren von der Fortschrittspartei und den von
ihr beherrschten Berlinern Anlaß zum Nachdenken, so eröffnete der Kanzler den
Wählern der Hauptstadt, welche bisher ausschließlich fortschrittliche oder soziali¬
stische Demokraten zu ihren Vertretern im Reichstage gewählt hatten, eine sehr
unwillkommene Aussicht, als er bei der zweiten Beratung des Gesetzes über die
Besteuerung der Dienstwohnungen der Reichsbeamten erklärte, es werde sich zu
weiterer Erörterung der Sache Gelegenheit bieten, „wenn die Frage einer Ver¬
legung der Reichsregierung uns amtlich beschäftigen wird." Die politischen
Nachteile des gegenwärtigen Zustandes bestünden, wie er weiter zeigte, nicht
blos in der äußerlichen Gefährdung der obersten Behörden und der Volksver¬
tretung des Reiches, sondern auch in dem Einflüsse, welchen das Tagen der
letztern unter einer städtischen Bevölkerung von mehr als einer Million Seelen,
und die Bequemlichkeit, hier zu wohnen, auf die Zusammensetzung des Reichs¬
tages habe, der damit aufhöre, die Zusammensetzung der Nation richtig und
sachgemäß wiederzugeben. Er schloß mit den Worten: „Wir haben zu viel
Berliner im Hause." Und an andrer Stelle drückte er dasselbe noch deutlicher aus,
indem er sagte: „Das deutsche Volk hat ein Recht darauf, daß der Reichstag
nicht verbcrlinert werde"

Wenn in diesen wirtschaftlichen Fragen der Reichskanzler stets als der
„Anwalt des kleinen Mannes" erschien, so war anzunehmen, daß er sich im
Einklange mit der Mehrheit der Nation befand, als er ein Gesetz zu einer Ver¬
fassungsänderung vorschlug, durch welches zur Beseitigung des Zusammenfallens
der Reichstags- und Landtagsverhandlungen zweijährige Etats- und vier¬
jährige Gesetzgebungsperioden eingeführt werden sollten, bei denen in dem
einen Jahre der Reichstag, in dem andern die Landtage zusammengetreten wären
und ein Neichstagsmandat vier Jahre gegolten hätte. Alle Welt beklagte, daß die
Deutschen zu oft an die Wahlurne gehen müßten, daß die Sessionen zu rasch
aufeinander folgten, und daß das Interesse an den Verhandlungen des Reichstags
in steteni Abnehmen begriffen sei. Trotzdem erklärten sich die Liberalen gegen
die Vorschläge, welche diesen Übelständen abhelfen sollten. Sie bildeten sich ein,
die Hinausschiebung des Wahlvergnügens um zwölf Monate werde die Macht
des Reichstags schädigen, und Deutschland werde decapitirt sein, wenn sein Par¬
lament nicht wie das englische alljährlich zusammentreten dürfte. Sie lebten in
dem Irrtume, eine Volksvertretung sei um so stärker, je öfter ihr das Mandat


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86133"/>
          <fw type="header" place="top"> Das verflossene Jahr.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_15" prev="#ID_14"> Regierung die Vermehrung und Erhöhung der indirekten Abgaben verweigere,<lb/>
dieselbe verhindere, den Gemeinden die Last des Schulwesens abzunehmen, und<lb/>
die Stadt Berlin in die Notwendigkeit versetze, dem armen Manne die Miet¬<lb/>
steuer aufzuladen, welche gänzlich beseitigt werden sollte. Als Zweck der Vor¬<lb/>
legung des Gesetzes bezeichnete er die Befreiung der Reichsbeamten von der<lb/>
Willkür der Gemeindeverwaltungen und die Vermeidung des Verdachtes, &#x201E;daß<lb/>
die Steuer eine Strafe für unsre politische Richtung sei."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_16"> Gab schon diese Rede den Herren von der Fortschrittspartei und den von<lb/>
ihr beherrschten Berlinern Anlaß zum Nachdenken, so eröffnete der Kanzler den<lb/>
Wählern der Hauptstadt, welche bisher ausschließlich fortschrittliche oder soziali¬<lb/>
stische Demokraten zu ihren Vertretern im Reichstage gewählt hatten, eine sehr<lb/>
unwillkommene Aussicht, als er bei der zweiten Beratung des Gesetzes über die<lb/>
Besteuerung der Dienstwohnungen der Reichsbeamten erklärte, es werde sich zu<lb/>
weiterer Erörterung der Sache Gelegenheit bieten, &#x201E;wenn die Frage einer Ver¬<lb/>
legung der Reichsregierung uns amtlich beschäftigen wird." Die politischen<lb/>
Nachteile des gegenwärtigen Zustandes bestünden, wie er weiter zeigte, nicht<lb/>
blos in der äußerlichen Gefährdung der obersten Behörden und der Volksver¬<lb/>
tretung des Reiches, sondern auch in dem Einflüsse, welchen das Tagen der<lb/>
letztern unter einer städtischen Bevölkerung von mehr als einer Million Seelen,<lb/>
und die Bequemlichkeit, hier zu wohnen, auf die Zusammensetzung des Reichs¬<lb/>
tages habe, der damit aufhöre, die Zusammensetzung der Nation richtig und<lb/>
sachgemäß wiederzugeben. Er schloß mit den Worten: &#x201E;Wir haben zu viel<lb/>
Berliner im Hause." Und an andrer Stelle drückte er dasselbe noch deutlicher aus,<lb/>
indem er sagte: &#x201E;Das deutsche Volk hat ein Recht darauf, daß der Reichstag<lb/>
nicht verbcrlinert werde"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_17" next="#ID_18"> Wenn in diesen wirtschaftlichen Fragen der Reichskanzler stets als der<lb/>
&#x201E;Anwalt des kleinen Mannes" erschien, so war anzunehmen, daß er sich im<lb/>
Einklange mit der Mehrheit der Nation befand, als er ein Gesetz zu einer Ver¬<lb/>
fassungsänderung vorschlug, durch welches zur Beseitigung des Zusammenfallens<lb/>
der Reichstags- und Landtagsverhandlungen zweijährige Etats- und vier¬<lb/>
jährige Gesetzgebungsperioden eingeführt werden sollten, bei denen in dem<lb/>
einen Jahre der Reichstag, in dem andern die Landtage zusammengetreten wären<lb/>
und ein Neichstagsmandat vier Jahre gegolten hätte. Alle Welt beklagte, daß die<lb/>
Deutschen zu oft an die Wahlurne gehen müßten, daß die Sessionen zu rasch<lb/>
aufeinander folgten, und daß das Interesse an den Verhandlungen des Reichstags<lb/>
in steteni Abnehmen begriffen sei. Trotzdem erklärten sich die Liberalen gegen<lb/>
die Vorschläge, welche diesen Übelständen abhelfen sollten. Sie bildeten sich ein,<lb/>
die Hinausschiebung des Wahlvergnügens um zwölf Monate werde die Macht<lb/>
des Reichstags schädigen, und Deutschland werde decapitirt sein, wenn sein Par¬<lb/>
lament nicht wie das englische alljährlich zusammentreten dürfte. Sie lebten in<lb/>
dem Irrtume, eine Volksvertretung sei um so stärker, je öfter ihr das Mandat</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] Das verflossene Jahr. Regierung die Vermehrung und Erhöhung der indirekten Abgaben verweigere, dieselbe verhindere, den Gemeinden die Last des Schulwesens abzunehmen, und die Stadt Berlin in die Notwendigkeit versetze, dem armen Manne die Miet¬ steuer aufzuladen, welche gänzlich beseitigt werden sollte. Als Zweck der Vor¬ legung des Gesetzes bezeichnete er die Befreiung der Reichsbeamten von der Willkür der Gemeindeverwaltungen und die Vermeidung des Verdachtes, „daß die Steuer eine Strafe für unsre politische Richtung sei." Gab schon diese Rede den Herren von der Fortschrittspartei und den von ihr beherrschten Berlinern Anlaß zum Nachdenken, so eröffnete der Kanzler den Wählern der Hauptstadt, welche bisher ausschließlich fortschrittliche oder soziali¬ stische Demokraten zu ihren Vertretern im Reichstage gewählt hatten, eine sehr unwillkommene Aussicht, als er bei der zweiten Beratung des Gesetzes über die Besteuerung der Dienstwohnungen der Reichsbeamten erklärte, es werde sich zu weiterer Erörterung der Sache Gelegenheit bieten, „wenn die Frage einer Ver¬ legung der Reichsregierung uns amtlich beschäftigen wird." Die politischen Nachteile des gegenwärtigen Zustandes bestünden, wie er weiter zeigte, nicht blos in der äußerlichen Gefährdung der obersten Behörden und der Volksver¬ tretung des Reiches, sondern auch in dem Einflüsse, welchen das Tagen der letztern unter einer städtischen Bevölkerung von mehr als einer Million Seelen, und die Bequemlichkeit, hier zu wohnen, auf die Zusammensetzung des Reichs¬ tages habe, der damit aufhöre, die Zusammensetzung der Nation richtig und sachgemäß wiederzugeben. Er schloß mit den Worten: „Wir haben zu viel Berliner im Hause." Und an andrer Stelle drückte er dasselbe noch deutlicher aus, indem er sagte: „Das deutsche Volk hat ein Recht darauf, daß der Reichstag nicht verbcrlinert werde" Wenn in diesen wirtschaftlichen Fragen der Reichskanzler stets als der „Anwalt des kleinen Mannes" erschien, so war anzunehmen, daß er sich im Einklange mit der Mehrheit der Nation befand, als er ein Gesetz zu einer Ver¬ fassungsänderung vorschlug, durch welches zur Beseitigung des Zusammenfallens der Reichstags- und Landtagsverhandlungen zweijährige Etats- und vier¬ jährige Gesetzgebungsperioden eingeführt werden sollten, bei denen in dem einen Jahre der Reichstag, in dem andern die Landtage zusammengetreten wären und ein Neichstagsmandat vier Jahre gegolten hätte. Alle Welt beklagte, daß die Deutschen zu oft an die Wahlurne gehen müßten, daß die Sessionen zu rasch aufeinander folgten, und daß das Interesse an den Verhandlungen des Reichstags in steteni Abnehmen begriffen sei. Trotzdem erklärten sich die Liberalen gegen die Vorschläge, welche diesen Übelständen abhelfen sollten. Sie bildeten sich ein, die Hinausschiebung des Wahlvergnügens um zwölf Monate werde die Macht des Reichstags schädigen, und Deutschland werde decapitirt sein, wenn sein Par¬ lament nicht wie das englische alljährlich zusammentreten dürfte. Sie lebten in dem Irrtume, eine Volksvertretung sei um so stärker, je öfter ihr das Mandat

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/12
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/12>, abgerufen am 24.08.2024.