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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

noch weniger aber vielleicht das Geschick. Einen Helfer auf diesen: Gebiet hat
Reinecke mir an Anton Krause, der aber mehr bei einer Besprechung der
Klavierstücke für vier Hände in Betracht tourne.

Kirchner ist der klassische Vertreter der nachschnmannschen Klavierperiode
geworden. Kein zweiter hat die Lieblingsform dieser Epoche so ausschließlich
gepflegt wie Kirchner, und nur wenige so glücklich wie er. Die Geschichte der
musikalischen Miniaturen wird den Namen Theodor Kirchners jederzeit in großen
Lettern fortführen müssen. Von den fünfzig und etlichen Heften, die dieser
Komponist bis jetzt veröffentlicht hat, gehören bis auf etwa sieben Hefte Lieder,
ein Trio und ein Streichquartett alle dem gvnro an. Das ist eine in der
Geschichte der Malerei häufige Beschränkung. für die aber auf dem Gebiete
der musikalischen Komposition nur wenige Beispiele zu finden sind. Sie hat
für Kirchner ihre schönen Früchte gehabt und ihn zu einer Virtuosität in der
Handhabung der kleinen Form geführt, die erstaunlich ist. Kirchner hat sich
innerhalb der engen Grenzen, in denen er sich festsetzte, eine Kürze angewöhnt,
eine Knappheit und Sicherheit des Ausdrucks, die fast epigrammatisch wirkt,
er hat dem kleinen Genrestück Fragen und Mitteilungen anvertraut, denen man
es von Halts aus für nicht gewachsen halten sollte.

Die Entwicklung Kirchners gleicht einem Lebensbilde. Der Mann, welcher
scherzend Franz Schubert die Iran Beethovens genannt hat, hätte mit
oemselben Rechte Theodor Kirchner als die Tochter Schumanns bezeichnen
dürfen. Kaum ein zweiter hat in sich so viele Elemente von Schumanns
Natur vereinigt als Kirchner, aber alle in weiblicher Flexion; selbst der
Humor hat bei dem jungen Kirchner etwas weiches. Mit den zunehmenden
Jahren nimmt er aber mehr und mehr einen Teil schweren Ernstes hinzu,
die zärtlichsten und anmutigsten Schilderungen spielt ihm ungesucht ein
Schatten, eine tiefsinnige und trübsinnige Figur hinein, und in dieser Mischung
nehmen feine spätern 'Klavierwerke zuweilen etwas von Brahmsscher Physio¬
gnomie an.

Als eine musikalische Origiualkraft hat sich Kirchner mit dem ersten Schritte
dokumentirt, den er als Klavierkomponist gethan hat. Die liegende Sturme
der ersten Nummer seiner Albumblätter ist eine einfache Erfindung, aber
eine von denen. zu welcher uicht bloß Naivetät gehört, sondern die Naivetät des
Genies. Die Frische und Selbständigkeit des Mnsiktalentes ist ihm immer treu
geblieben und kommt auch in denjenigen Heften noch zum Vorschein, welche im
ganzen von der vollen Begabung des unablässig in demselben kleinen Genre an¬
gestrengten Mannes kein Bild geben. So enthalten die im allgemeinen zurück¬
stehender "Dorfgeschichten" in der Nummer "Bruder Eduard muß läuten gehn"
eine Perle" musikalischer Abendpoesie. ein Stück, welches zur Selbstbiographie
des Altdorf gehört, aber auch alle andern innig berührt, namentlich diejenigen,
welche auf dein Lande Kinder waren.


Die Klaviermusik seit Robert Schumann.

noch weniger aber vielleicht das Geschick. Einen Helfer auf diesen: Gebiet hat
Reinecke mir an Anton Krause, der aber mehr bei einer Besprechung der
Klavierstücke für vier Hände in Betracht tourne.

Kirchner ist der klassische Vertreter der nachschnmannschen Klavierperiode
geworden. Kein zweiter hat die Lieblingsform dieser Epoche so ausschließlich
gepflegt wie Kirchner, und nur wenige so glücklich wie er. Die Geschichte der
musikalischen Miniaturen wird den Namen Theodor Kirchners jederzeit in großen
Lettern fortführen müssen. Von den fünfzig und etlichen Heften, die dieser
Komponist bis jetzt veröffentlicht hat, gehören bis auf etwa sieben Hefte Lieder,
ein Trio und ein Streichquartett alle dem gvnro an. Das ist eine in der
Geschichte der Malerei häufige Beschränkung. für die aber auf dem Gebiete
der musikalischen Komposition nur wenige Beispiele zu finden sind. Sie hat
für Kirchner ihre schönen Früchte gehabt und ihn zu einer Virtuosität in der
Handhabung der kleinen Form geführt, die erstaunlich ist. Kirchner hat sich
innerhalb der engen Grenzen, in denen er sich festsetzte, eine Kürze angewöhnt,
eine Knappheit und Sicherheit des Ausdrucks, die fast epigrammatisch wirkt,
er hat dem kleinen Genrestück Fragen und Mitteilungen anvertraut, denen man
es von Halts aus für nicht gewachsen halten sollte.

Die Entwicklung Kirchners gleicht einem Lebensbilde. Der Mann, welcher
scherzend Franz Schubert die Iran Beethovens genannt hat, hätte mit
oemselben Rechte Theodor Kirchner als die Tochter Schumanns bezeichnen
dürfen. Kaum ein zweiter hat in sich so viele Elemente von Schumanns
Natur vereinigt als Kirchner, aber alle in weiblicher Flexion; selbst der
Humor hat bei dem jungen Kirchner etwas weiches. Mit den zunehmenden
Jahren nimmt er aber mehr und mehr einen Teil schweren Ernstes hinzu,
die zärtlichsten und anmutigsten Schilderungen spielt ihm ungesucht ein
Schatten, eine tiefsinnige und trübsinnige Figur hinein, und in dieser Mischung
nehmen feine spätern 'Klavierwerke zuweilen etwas von Brahmsscher Physio¬
gnomie an.

Als eine musikalische Origiualkraft hat sich Kirchner mit dem ersten Schritte
dokumentirt, den er als Klavierkomponist gethan hat. Die liegende Sturme
der ersten Nummer seiner Albumblätter ist eine einfache Erfindung, aber
eine von denen. zu welcher uicht bloß Naivetät gehört, sondern die Naivetät des
Genies. Die Frische und Selbständigkeit des Mnsiktalentes ist ihm immer treu
geblieben und kommt auch in denjenigen Heften noch zum Vorschein, welche im
ganzen von der vollen Begabung des unablässig in demselben kleinen Genre an¬
gestrengten Mannes kein Bild geben. So enthalten die im allgemeinen zurück¬
stehender „Dorfgeschichten" in der Nummer „Bruder Eduard muß läuten gehn"
eine Perle" musikalischer Abendpoesie. ein Stück, welches zur Selbstbiographie
des Altdorf gehört, aber auch alle andern innig berührt, namentlich diejenigen,
welche auf dein Lande Kinder waren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/91>, abgerufen am 22.07.2024.